Leseprobe Das Erbe der Schokoladenfabrik

Kapitel 1

Charlotte starrte aus dem Fenster und ließ die Landschaft an sich vorbeirauschen. Bäume, Strommasten, Windkrafträder. Ab und zu ein Bauernhaus. Ihre Finger drehten den Goldring an ihrem Ringfinger. Doch sie nahm all das nur am Rande wahr. Mit den Gedanken war sie ganz woanders.

Dass er das nicht für dich tut.

Sie rauschten durch einen Tunnel, und unvermittelt sah sie statt der Landschaft in ihr eigenes blasses Gesicht. Kein Lächeln, doch das wäre dem Anlass ja auch nicht angemessen. Schließlich verlangsamte der Zug sein Tempo, und sie fuhren in den nächsten Bahnhof ein. Sie versuchte, die vorbeisausenden Schilder zu entziffern. Immer noch nicht ihrer. Noch lange nicht.

Charlie sah auf die Uhr und seufzte. Rechtzeitig käme sie auch nicht an. Unmöglich, dass der Zug diese Verspätung noch aufholte. Es nützte nichts. Sie musste ihren Vater anrufen. Sonst stand er gleich am Bahnhof und wartete völlig umsonst auf sie. Was er sagen würde, war klar: Warum bist du nicht früher gefahren, wie ich es dir vorgeschlagen hatte? Warum wohnst du überhaupt so weit weg? Eine Kanzlei kann man auch bei uns eröffnen. Als wolltest du vor deiner Familie fliehen!

In ihrer Kehle grollte es. Zum Glück saß niemand neben ihr, der sich hätte gestört fühlen können.

Sie sollte den Anruf schnell erledigen, solange sie im Bahnhof standen. Bei dem Gewusel der ein- und aussteigenden Leute, die sich gegenseitig anrempelten und anmotzten, fiele eine weitere Stimme gar nicht auf. Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche. Dabei streiften ihre Fingerspitzen die Praline, eingewickelt in golden schimmernder Folie. Ihre Lieblingssorte, sie hatte sie vorhin auf dem Weg nach draußen noch schnell eingesteckt. Ab und zu musste man sich einfach etwas gönnen. War es schon so weit? Pralinenzeit?

Vielleicht nach dem Anruf. Sie entsperrte ihr Telefon und öffnete das Menü der häufig gewählten Nummern. Sie musste ziemlich weit herunterscrollen, bis sie die Festnetznummer ihrer Eltern entdeckte. Möglicherweise hatte ihr Vater nicht ganz Unrecht. Sie meldete sich nicht allzu oft. Doch war das wirklich eine Flucht?

Und wenn, dann nicht ohne Grund.

Ein tiefer Atemzug, dann drückte sie auf den grünen Hörer. Es dauerte einen Moment, bis sich die Verbindung aufbaute. Dann erschien das Bild ihrer Eltern auf dem Display. Sie hatten die Arme beieinander untergehakt und strahlten in die Kamera.

Eine alte Aufnahme.

Es klingelte lange. Erst, als der Zug sich bereits wieder in Bewegung setzte, knackte es im Lautsprecher. Charlie hielt die Luft an und wappnete sich gegen was auch immer sie zu erwarten hatte.

»Wiel.«

»Hallo, Papa. Ich bin es.«

»Charlotte? Was ist los? Bist du etwa noch nicht unterwegs?«, erklang die Stimme ihres Vaters in dem Knopf in ihrem Ohr.

Eine typische Begrüßung. Kein Hallo, kein Wie geht es dir. Direkt in medias res.

Er ist gestresst. Das wärst du auch in seiner Situation.

Was Unsinn war. Denn sie war ja in der Tat selbst gestresst. Es war schließlich ihr Großvater, für den sie zurück in die Heimat fuhr.

»Doch, ich bin auf dem Weg.« Eigentlich müsste er das doch hören.

»Dann ist gut. Ich wollte gerade losfahren, um dich abzuholen. Wir müssen dann auch gleich weiter. Du bist doch passend angezogen?«

Instinktiv sah Charlie an sich hinab. Sie trug ein etwas spießiges schwarzes Kleid und elegante gleichfarbige Stiefel. Mit spießiger Kleidung in gedeckten Farben konnte sie dienen. Immer ordentlich. Obwohl das im Augenblick wirklich nicht das Wichtigste sein sollte. Mit den Fingerspitzen der freien Hand zupfte sie ein langes blondes Haar von der Brust, bevor sie antwortete. Das hätte Christoph wieder wahnsinnig gemacht. So gesehen gut, dass er nicht dabei war.

»Ja, bin ich«, erwiderte sie. Ihre Finger spielten mit dem knisternden Pralinenpapier. »Aber …«

»Charlotte, wenn ich jetzt nicht losfahre, kommen wir zu spät. Der Weg zum Bahnhof ist schon ein ganz schöner Umweg.«

Sie zuckte zusammen. Ganz ohne Spitze ging es wohl einfach nicht. Oder lag es an ihr? War ihre Beziehung einfach so belastet, dass sie jedes Wort auf die Goldwaage legte und das Gewicht der Kritik abmaß? Auf die Kritikwaage ihretwegen? Vielleicht meinte er es nicht so.

Doch, das tut er. Und das weißt du auch genau.

»Du musst mich nicht abholen, Papa. Fahrt ihr ruhig direkt zum Friedhof.« Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Sie versuchte, zu schlucken. Vergeblich, er steckte fest, und ihre Wasserflasche war unerreichbar in der Gepäckablage.

»Ach, nicht?« Der Tonfall ihres Vaters hatte sich geändert. Es klang, als hätte er sich hingesetzt. Vor Charlies innerem Auge sah sie ihn auf der Holzbank neben dem Telefonapparat im Flur sitzen, mit geradem Rücken, Knie und Füße in einer direkten Linie. Bestimmt hundertmal hatte sie ihn früher genauso dasitzen sehen. Nur der Bezug des Sitzkissens hatte mit der Zeit mal seine Farbe geändert. Sogar nachdem sie, viel später als alle anderen, zu einem schnurlosen Telefon gewechselt waren, telefonierte ihr Vater nur dort, im Flur, auf dieser Bank. Bloß nicht die Gewohnheiten ändern. Und immer Haltung bewahren.

»Ich komme allein zum Friedhof«, sagte Charlie und presste die Kiefer zusammen. Klar käme sie da irgendwie hin, und wenn sie Geld für ein Taxi ausgeben musste. Die Frage war nur, wann.

»Aha.«

Stille. Oder hörte sie, wie seine Zähne aufeinanderrieben? »Hat er dir doch das Auto gegeben?«

Als wäre das sein Auto und nicht ihr gemeinsames. Doch Christoph sah es vermutlich genauso wie ihr Vater.

»Nein, hat er nicht …«, presste Charlie hervor. Sie hasste es, dass sie dabei wieder wie die Jugendliche klang, die sich vor ihrem Vater rechtfertigte. Änderten sich manche Dinge eigentlich nie? Wann wäre sie endlich alt genug, um von ihm als Erwachsene wahrgenommen zu werden?

Mit zweiunddreißig offensichtlich noch nicht.

Lass dich jetzt nicht zu einem Streit hinreißen. Nicht heute! Das hast du dir geschworen!

Streit vermeiden konnte sie richtig gut, seit sie mit Christoph verheiratet war.

»Ist er doch mitgekommen?« Die Stimme ihres Vaters klang nicht so, als hielte er das für sonderlich wahrscheinlich. War es auch nicht. Vielleicht hatte er Christoph immer schon am besten eingeschätzt.

»Nein. Ich sitze im Zug. Aber …«

»Aber du kommst zu spät.«

Er betonte es nicht wie eine Frage. Natürlich nicht, er kannte sie ja bereits gut genug, um zu wissen, worauf das hinauslief. Charlotte, die Chaosqueen. Charlotte, die nichts zu einem guten Ende brachte. Charlotte, auf die man sich besser nicht verließ.

Sie drehte die Praline in der Hand. Die glänzende Verpackung reflektierte das Licht und warf ein warmes Muster an die Decke des Abteils. Ein kleines Mädchen im gegenüberliegenden Vierer hatte es entdeckt und starrte es mit offenem Mund an. Wie schön, wenn man von so etwas noch fasziniert war.

Darüber war sie leider hinaus. Und ihr Vater schon längst. Also, raus mit der Wahrheit.

»Der Zug hat Verspätung.«

Ein Seufzen am anderen Ende. »Natürlich.«

Charlie wartete. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es nicht darauf beruhen lassen würde.

Allzu lange musste sie nicht warten. »Charlotte. Wie oft haben deine Mutter und ich dir früher schon gesagt, dass du …« Er unterbrach sich und setzte erneut an. »Pünktlichkeit ist …« Wieder eine Pause. »Und die Deutsche Bahn … da muss man einfach früher fahren. Das weiß man doch!«

»Ja, ich weiß.« Charlie konnte über die noch viel zu große Entfernung hinweg spüren, wie es in ihm brodelte. Es würde nichts bringen, ihm zu sagen, dass sie bis vorhin noch in Christophs Vorzimmer gesessen und einen wichtigen Mandanten empfangen hatte. Das war schließlich ihr Job. Sie konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen.

»Es ist die Beerdigung meines Vaters!«

»Ja. Weiß ich.«

»Deines Großvaters!« Vermutlich war ihm gerade erst eingefallen, dass Charlie ebenfalls eine verwandtschaftliche Beziehung zu dem Verstorbenen hatte. Wenigstens das, das ließ sich wohl nicht leugnen.

»Ja. Es tut mir leid.«

Was sollte sie auch anderes sagen? Der Zug war abgefahren. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie beschleunigten bereits, und das Geräusch der Räder auf den Schienen übertönte ihre Worte beinahe. Metall kreischte, als sie sich in eine Kurve legten.

»Charlotte, also wirklich! Von Tut mir leid kann ich mir jetzt auch nichts kaufen!«

Wieso ihr Vater dauernd alles in eine Währung umrechnen musste, würde Charlie wohl nie verstehen. »Nein. Kannst du nicht.«

»Was soll ich denn sagen, wo du bist? Im Zug?«

Als wäre das so schlimm. »Ist ja so, Papa.« Charlie bemühte sich, nicht genervt zu klingen, doch es fiel ihr immer schwerer.

»Andere Leute in deinem Alter haben ein Auto. Und kommen pünktlich zur Beerdigung ihrer Verwandtschaft.«

Wenn sie nicht aufpasste, redete er sich noch weiter in Rage. »Normalerweise brauchen wir nur ein Auto.« Das war der Vorteil, wenn man mit seinem Ehemann zusammenarbeitete. Und kein anderweitiges Leben hatte.

»Charlotte! Wie das wieder aussieht.«

»Ja.« Sie war erneut die Schande der ganzen Familie. Gleich fing er sicher mit den Nachbarn an.

»Und was die Nachbarn wohl sag …«

»Papa, wir fahren gerade in einen Tunnel. Ich komme so schnell, wie ich kann. Wir sehen uns.« Mit diesen Worten drückte sie einfach auf den roten Hörer. Ein für diese Situation viel zu fröhliches Piepen ertönte in ihrem Ohr, dann folgte Stille. Was blieb, war das Geräusch des Zuges.

Charlie warf die Praline zurück in ihre Tasche. Ihr war der Appetit vergangen. Sicher war das Teil inzwischen längst zu einem Klumpen verschmolzen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie brannten, jedoch nicht vor Trauer um ihren Großvater. Auch nicht aus Scham, weil sie sich in den Augen ihrer Eltern schon wieder danebenbenahm. Nicht mal aus Ärger über Christoph, dessen Arbeit mal wieder wichtiger gewesen war als alles andere. Es war irgendwie alles. Alles zusammen.

Warum konnte es nicht endlich mal wieder gut laufen?

Beinahe eine Stunde, nachdem die Beerdigung anfangen sollte, stieg Charlie in ihrer alten Heimat Paderborn aus dem Zug. Neunzig Minuten Verspätung. Wenigstens bekäme sie einen Teil des Geldes zurück. Jedenfalls, wenn sie es schaffte, dieses Formular auszufüllen.

Christoph würde sich freuen.

Kaum war sie draußen, piepte ihr Handy. So viel zum WLAN im Zug. Es war eine Nachricht von ihrer Freundin Bea.

Ich denk an dich. Du packst das.

Ein warmes Gefühl machte sich in ihr breit, das sie gut gebrauchen konnte.

Sie scrollte durch die Liste ihrer Chats, doch von Christoph war nichts gekommen. Sie klickte den Chat mit ihm an. Er war online. Wem er wohl schrieb? Sicher hatte er wieder was mit Katrin zu besprechen, der Anwältin, die ihre Kanzlei unter ihrer hatte.

Kurz erwog sie, ihm eine Nachricht zu schicken, dass sie gut angekommen war, verwarf das jedoch wieder. Sie hatte es schließlich eilig. Und wenn es ihn interessierte, konnte er ja fragen.

Du willst nur, dass er bemerkt, wie verletzt du bist.

Doch für den ein Herz umarmenden Smiley für Bea war noch Zeit. Musste, sie hatte immerhin auch an sie gedacht.

Mit ihrer eleganten Reisetasche über der Schulter lief Charlie den Bahnsteig entlang. Immer repräsentativ auszusehen, das war ihr inzwischen ins Blut übergegangen. Ihr Blick fiel auf den Fahrplan im Schaukasten. Einen Augenblick lang erwog sie, einfach direkt wieder zurückzufahren. Musste sie sich den Ärger wirklich noch antun? Doch dann würde ihre Fahrkarte verfallen, die sie bereits gekauft hatte, kaum dass sie von dem Termin der Beerdigung gewusst hatte. Und, wie Christoph nicht müde wurde, zu betonen, er arbeitete hart für ihr Geld. Da sie bei ihm angestellt war, musste er das Geld, das sie verdiente, selbst erst erarbeiten. Er schaffte es immer, ihr das Gefühl zu geben, dadurch weiter darüber entscheiden zu können. Als sei sie völlig von seiner Gunst abhängig. Und er hasste es, wenn sie unnötige Ausgaben machte.

Außerdem war sie ja nicht wegen der Beerdigung hier. Nicht wirklich jedenfalls. Ihr Großvater würde nichts davon mitbekommen. Sie war hier, um Beistand zu leisten, wie es ihr Vater vermutlich nicht schaffen würde. Und das konnte sie auch nach der Feier noch tun. Viel besser vermutlich.

Sie verließ den Bahnhof durch einen Seitenausgang. Vor ihr lagen Taxistände und Busspuren. Menschen eilten hin und her. Ein Pärchen fiel sich in die Arme, als hätte es sich seit Monaten nicht gesehen. Der Mann drückte die Frau an sich, und es hatte den Anschein, als wollte er sie nie wieder gehen lassen. Ein Penner kauerte in einer Ecke eines der Bushäuschen und starrte vor sich hin. Es roch nach Abgasen und in der Sonne trocknendem Urin.

Charlie ließ den Blick schweifen. Ein Taxi? Wäre sie nur knapp zu spät, würde sie das Geld dafür vielleicht investieren, egal, was Christoph sagen würde. Doch jetzt kam es längst nicht mehr auf ein paar Minuten an. Da konnte sie auch den Bus nehmen. Die Linie sechs fuhr direkt zum Ostfriedhof, jedenfalls war das früher so gewesen.

Sie lief zu der Spur, die durch ein Schild mit einer großen Sechs darauf gekennzeichnet war. Auf dem Weg dahin kramte sie fünfzig Cent aus der Hosentasche, die sie für einen möglichen Toilettengang eingesteckt und nicht gebraucht hatte, und legte sie dem Obdachlosen in seinen Becher. Ein kleines Figürchen aus Papier hockte daneben, doch sie konnte nicht erkennen, was es darstellte. Der Mann hob nicht einmal den Blick.

Schon klar, warum du das tust. Du willst dir selbst verdeutlichen, dass es immer noch Menschen gibt, die schlechter dran sind als du.

Als sie gerade vor dem Fahrscheinautomaten stand, fuhr ein Bus der richtigen Linie auf den Platz und navigierte geschickt durch die Inseln aus Stein, auf denen Menschen auf im Boden einbetonierten Bänken saßen und warteten.

Schnell warf Charlie Kleingeld ein.

Als sie am Ende ihrer Münzen angelangt war, zeigte das Display des Automaten dummerweise immer noch einen fehlenden Betrag an.

Fünfzig Cents.

Sie wühlte sich durch alle ihre Taschen. Nichts. Instinktiv huschte ihr Blick zu dem Obdachlosen mit seinem Becher. Ernsthaft, Karma?

Vielleicht soll es so sein. Vielleicht sollst du niemals bei dieser Beerdigung ankommen. Steig einfach in den Zug und hau wieder dahin ab, von wo du gekommen bist. Zurück in dein wohlgeordnetes Leben.

Hinter ihr zischten die Türen des Busses. Menschen stiegen ein, andere aus. Achtlos liefen sie um Charlie herum, während sie panisch nach Münzen suchte. Ihr Blick fiel auf den Schlitz für die Scheine. Fünfer, Zehner, Zwanziger. In ihrem Scheinfach steckte nur ein Fünfziger. Natürlich war das so.

»Wie sieht’s aus, junge Frau? Mitfahren oder nicht?«, ertönte eine Stimme in ihrem Rücken.

Charlie fuhr herum. Der Fahrer lehnte sich auf seinen Wechselgeldautomaten und grinste sie an. Dann tippte er auf sein bloßes Handgelenk. »Muss den Fahrplan einhalten.«

Charlies Herz raste. Wie konnte so eine dumme Situation sie nur so stressen? Am liebsten hätte sie tatsächlich aufgegeben. Doch eine Chance hatte sie noch. »Mitfahren. Auf jeden Fall mitfahren!« Sie wedelte mit dem Fünfziger. »Aber mir fehlen exakt fünfzig Cent. Können Sie den vielleicht wechseln?«

Der Fahrer hob die Brauen. »Seh ich vielleicht aus wie eine Bank? Nee, das geht nicht. Tut mir leid.« Sein Zeigefinger tippte auf ein verblichenes Schild, auf dem verschiedene Scheine abgebildet waren. Alles über zwanzig war durchgestrichen. Natürlich. So ein Mist.

Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Sobald sie sich umdrehte, waberte ein Schwall üblen Geruchs in ihr Gesicht. Eine Mischung aus schlechtem Atem, ungewaschener Kleidung und Schweiß. Vor ihr stand der Obdachlose, der eben noch in der Ecke gekauert hatte. Er wirkte auf einmal gar nicht mehr so teilnahmslos. Aus wachen, recht freundlichen Augen blickte er sie an. Unter den struppigen Haaren und ungleichmäßigen Bartstoppeln schien sich ein nettes Gesicht zu verbergen.

Doch beinahe sofort machte der Mann einen Schritt rückwärts und duckte sich weg, als hätte sie ausgeholt, um ihn zu schlagen. Sein Blick huschte über den Boden wie ein aufgescheuchtes Tier. Dann streckte er einen Arm in Charlies Richtung. Ganz langsam, als hätte er Angst, sie könnte sich gegen ihn wehren. Zwischen seinen schmutzigen Fingern hielt er einen kleinen flachen Gegenstand.

Charlie starrte darauf. Es war das Fünfzigcentstück, das sie ihm gerade in den Becher geworfen hatte. Oder irgendein anderes. Aber auf jeden Fall war es genau das, was sie jetzt brauchte.

Jemand rempelte sie unsanft an, und eine alte Frau warf erst ihr und dann dem Mann einen abschätzigen Blick zu. Sie sah aus, als wollte sie ihnen am liebsten vor die Füße spucken.

Charlie ignorierte sie. »Ähm …«, entfuhr es ihr.

»Du brauchst das gerade dringender als ich«, murmelte der Mann vor ihr und entblößte dabei eine große Zahnlücke im Unterkiefer.

Charlie zögerte. »Aber …« Das konnte sie doch nicht machen! Das war ja wie einem Baby den Schnuller zu klauen.

»Wird das jetzt was oder nicht?«, rief der Busfahrer. In dem Moment spürte Charlie den Blick aller anderen Fahrgäste auf sich. Sie brauchte sich dafür nicht einmal umzudrehen.

»Jetzt nehmen Sie schon«, erklang es gedämpft irgendwo hinter ihr.

Charlie merkte, wie ihr die Hitze aus dem Kragen heraufstieg und ihre Wangen erreichte. Sie musste regelrecht glühen. Alles in ihr schrie Nein. Sie wollte das Geldstück nicht nehmen. Wie sähe das denn aus?

Was würden die Nachbarn denken?

Der Mann sah sie ganz kurz scheu von unten herauf an und sofort wieder weg. Dann machte er einen schnellen Schritt vor und steckte das Geldstück in den Schlitz.

Der Automat spuckte das Ticket sofort aus. Jemand applaudierte. Charlie griff danach. Doch als sie sich wieder zu dem Mann umdrehte, hatte er sich bereits umgewandt und ging wieder in Richtung seiner Sachen, die immer noch in dem Wartehäuschen lagen. Sicher musste er nicht befürchten, dass sich jemand daran vergreifen würde. Er war ein Unberührbarer.

»Ich geb Ihnen noch zehn Sekunden!«, rief der Busfahrer. »Neun, acht, sieben …«

Schnell streckte Charlie die Hand nach dem Mann aus, packte ihn an der Schulter und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die bärtige Wange. Hoffentlich empfand er das nicht als allzu übergriffig. »Vielen Dank!«

Dann lief sie, so schnell es die Stiefel erlaubten, zum Bus, sprang die Stufen hoch und schob das Ticket in den Schlitz des Entwerters.

Die Blicke aller anderen Fahrgäste ignorierend, zog Charlie sich in die letzte Reihe zurück. Ihr Gesicht brannte. So etwas hatte sie noch nie getan. Was war nur in sie gefahren?

Der Bus fuhr mit einem Ruck an. Langsam verließ er die Busstation.

Auf der Warteinsel der Linie sechs stand immer noch der Obdachlose und hielt sich die Wange. Charlies Augen folgten der traurig aussehenden Gestalt, solange es möglich war. Bevor der Bus abbog und der Mann aus ihrem Blickfeld verschwand, erhaschte sie noch einen Blick auf sein Gesicht.

Es sah überhaupt nicht unglücklich aus.

Kapitel 2

Theodora

Köln, Januar 1960

Dora lief aufgeregt in ihr Schlafzimmer, dicht gefolgt von ihrer Schwester Viktoria.

»Du hast was vor?«, keuchte diese und strich sich über die sorgfältig frisierten roten Haare. Ihre runden Wangen hatten jetzt vor Anstrengung beinahe die gleiche Farbe. Wie immer sah sie ein bisschen aus wie Rita Hayworth, doch in ihrer pummeligen Phase. Die Treppenstufen brachten sie immer so außer Atem, dass Vicky schon plante, in ihrem eigenen Haus später ihr Schlafzimmer im Erdgeschoss einzurichten. Dora konnte darüber nur lachen. Von einem eigenen Haus träumte sie nie. Da gab es andere Sachen.

»Ich gehe in die Kammerspiele zu dem Vorsprechen für das neue Stück!«

»Die Kammerspiele? Ein richtiges Theater?« Viktoria schnaubte. »Das werden dir Mama und Papa nie erlauben. Denk mal an die ewigen Diskussionen zum Schultheater.«

Dora hielt inne. Das stimmte allerdings. Sie zuckte mit den Schultern. »Tja, ich hatte nicht vor, es ihnen zu sagen. Und dich möchte ich bitten, es auch nicht zu tun.«

»Ach, Dora …« Viktoria ließ sich seufzend auf das Bett sinken. »Das werden sie doch bemerken. Und du wirst Vaters Unterschrift brauchen, meinst du nicht? Du bist erst zwanzig.«

»Seine …« Dora überlegte. »Auch schon für das Vorsprechen, meinst du?«

Damit mochte Vicky richtig liegen. Ihre Großjährigkeit trat erst im nächsten Jahr ein. Dann holte sie Heft und Bleistift aus der Schublade ihres Pults.

»Wenn ich seine Unterschrift für das Vorsprechen brauche, dann muss ich sie eben irgendwie auf das Formular bekommen.«

Sie setzte den Stift an und versuchte, sich die Schrift ihres Vaters ins Gedächtnis zu rufen. Das L hatte oben eine Schleife und unten zwei, das war am schwersten. Doch die übrigen Buchstaben endeten ohnehin nur in einem langen Schlenker. Lambert. Sie übte ein paarmal und nickte zufrieden, dann drehte sie den Block zu ihrer Schwester.

Die schlug die Hand vor den Mund. »Theodora! Du willst doch nicht ernsthaft die Unterschrift des Vaters nachmachen!«

Wenn Viktoria sie bei ihrem vollen Namen nannte, war es ernst. Doch Dora zuckte mit den Achseln. »Warum nicht? Die kennen sie ja nicht. Niemals merken die, dass es nicht wirklich seine ist.«

»Aber darum geht es doch gar nicht!«

Das war Dora wohl bewusst, doch sie verdrängte den Gedanken. »Viktoria, ich werde die Rolle ohnehin nicht bekommen. Dann wird es niemand bemerken, doch ich habe eine wichtige Erfahrung gewonnen. Vielleicht falle ich positiv auf, und sie nehmen mich nächstes Jahr. Und falls ich sie doch bekomme, sage ich es den Eltern, sobald es offiziell ist. Einem Erfolg konnte diese Familie noch nie widerstehen.«

Ihre Schwester überlegte. »Vielleicht findet Vater einen Weg, um es als Werbung für das Produkt zu nutzen.«

»Genau!« Da war Dora sich eigentlich nicht so sicher. Vor allem, weil ihr nicht ganz klar war, wie ihr Vater das bewerkstelligen würde. Ein unanständiges Theaterstück taugte nur bedingt dafür, Schokolade an den Mann zu bringen. Doch der Fall würde schon nicht eintreten. Und die Hauptsache war es doch jetzt, ihre Schwester zu beruhigen. Außerdem … wer wusste schon, ob nicht doch ein Wunder geschah und Vater es erlaubte.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie sich ihren Namen auf dem Plakat vorstellte. Theodora Lambert in der Rolle der … tja, welche Rolle auch immer sie bekommen würde, sie würde sie nehmen. Wenn es die Eltern nur zuließen. Sie zog die flache Holzkiste mit dem Vorhängeschloss unter dem Bett hervor und holte den kleinen Schlüssel aus dem Ausschnitt, wo er sicher an einer langen Kette hing.

»Es mag ja sein, dass Vater nach außen hin so tun würde, als sei alles geplant gewesen und das Vorsprechen mit seinem Einverständnis abgelaufen. Aber Dora, kannst du dir vorstellen, was hier zu Hause los wäre?«

Tatsächlich schien Viktoria bei dem Gedanken ein wenig blass um die Nase zu werden. Sie war einfach zu brav und fügte sich in alles.

Doch Dora winkte ab. »Ach was. Damit werde ich schon fertig. Marilyn hat auch nicht alles in den Schoß geworfen bekommen. Manchmal muss man eben Opfer bringen für das, was man liebt.« Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Dann stemmte sie den Deckel hoch. Ein Bündel aus festem dunkelblauem Stoff lag in der Kiste, und sie nahm es heraus und entfaltete es. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

»Die willst du zum Vorsprechen tragen?« Viktoria beäugte die Hose mit kritischem Blick.

Dora kannte diesen Blick. Viktoria würde im Leben keine Hose tragen, wenn man sie nicht dazu zwang. Und das würde in diesem Haus wohl niemals geschehen.

»Ja, das habe ich vor.« Dora sah sich schon, in dieser dunkelblauen Hose und einer weißen Bluse, mit einem Band im Haar und den Schuhen mit den höchsten Absätzen, die sie besaß, auf die Bühne schreiten. Ihre Haare würde sie wie immer in Wellen legen, und einen roten Lippenstift, der zu ihrer blassen Haut passte, hatte sie sich auch zusammengespart. Sie würde aussehen wie eine dunkelhaarige Marilyn. Mit weniger üppigen Rundungen wohlgemerkt, doch das machte ja nichts. Die Kurven hatte eben Vicky abbekommen.

»Aber passt das zum Stück? Für was willst du überhaupt vorsprechen?«

»Nein, passt es nicht. Aber das macht nichts. Das Vorsprechen ist ja nicht mit Kostüm, und Edith hat gesagt, es wirkt unprofessionell, wenn man schon so tut, als hätte man die Rolle bereits.«

»Ach, die Edith. Die ist ja mal wieder die große Expertin, was?«

»Sie arbeitet immerhin im Theater.« Dora wusste, dass Viktoria ihre Freundin Edith nicht leiden konnte. Vermutlich fühlte sie sich durch sie bedroht. Früher war sie schließlich Doras engste Vertraute gewesen. Zwei Schwestern, die durch dick und dünn gingen. Doch wenn Dora es recht betrachtete, hatten sie nie echte Widerstände zu meistern gehabt. Und jetzt, wo es wirklich auf Viktorias Unterstützung ankäme …

»Und? Wirst du sagen, wer du bist? Wer Vater ist?«

Schnell schüttelte Dora den Kopf. Das fehlte noch, dass sie sich dort so aufspielte, als sei sie etwas Besonderes.

»Warum sollte ich? In dem Stück geht es ja nicht um Schokolade.«

Sie seufzte. Ihre Schwester würde sie wohl nicht verpfeifen. Doch mehr hatte sie vermutlich nicht zu erwarten. Sie packte die Hose in eine Tasche und schob die Kiste wieder unter das Bett. Die würde sie lieber bei Edith aufbewahren. Dort würde sie sich schließlich auch vorbereiten und umziehen.

»Falls jemand fragt, ich bin bei der Edith und lerne.«

Viktoria stöhnte auf. »Das ist ja nicht einmal gelogen, schätze ich.«

»Nein. Ich möchte doch nicht, dass du für mich lügen musst, Schwesterherz.« Dora war schon auf dem Weg zur Tür. Ihr Blut rauschte mit Macht durch ihren Körper. Kräftiger als je zuvor.

»Das ist nett von dir.« Viktoria drehte sich zu ihr um. »Aber jetzt sag mir wenigstens noch, für welches Stück du vorsprichst.«

Innerlich stöhnte jetzt Dora auf. Sie hatte die Antwort auf diese Frage vorhin bewusst vermieden. Doch nun würde sie wohl nicht mehr drum herum kommen. »Endstation Sehnsucht«, sagte sie leise.

»Theodora!« Viktoria sprang auf, Dora sah es in den Augenwinkeln. Doch auch so hätte sie die Erschütterung wohl gespürt. Dora musste sich nicht umdrehen, um sich den entrüsteten Gesichtsausdruck ihrer Schwester vorstellen zu können.

»Der Autor hat einen Pulitzer-Preis mit dem Stück gewonnen«, sagte sie und kam sich selbst schwach vor.

»Darin wird jemand vergewaltigt, Theodora! Die eine Frau hat eine Affäre mit einem Jungen!« Viktoria schien nach Luft zu schnappen. »Du sprichst doch nicht etwa für die Rolle dieser Frau …«

»Die ist doch viel zu alt.« Was nicht hieß, dass sie sie nicht liebend gern spielen würde, wenn sie die Chance dazu bekäme. »Nein, ich spreche für Stella vor. Ihre Schwester.«

Und mit den Worten verschwand sie, bevor Viktoria weitere Bedenken vorbringen konnte. Denn es wäre nichts darunter, was ihr nicht auch bereits durch den Kopf gegangen wäre.