Leseprobe Das Erbe von Vinewood Hill

Kapitel 1

Charlotte

„Mom, ich wollte keine Cornflakes. Ich wollte Schokopops.“ Die schrille Kinderstimme meines Sohnes sorgt dafür, dass in meinem Kopf ein Pfeifton entsteht. Immer schriller und schriller. Ich presse die Augenlider fest zusammen und stütze eine Hand auf den marmornen Küchentresen. Die Kälte jagt mir Schauer über die Haut.

„Das haben wir doch geklärt. Morgens gibt es keine Schokopops. So viel Zucker ist ungesund“, gebe ich mantraartig zurück, ohne mich zu ihm umzudrehen. Alle Mütter von kleinen Kindern werden mich jetzt verstehen, der Rest der Weltbevölkerung wird mich unhöflich finden. Aber über den Punkt, dass mir solche Gedanken Sorgen machen, bin ich weit hinaus. Hier geht es nicht um Höflichkeit, das hier ist eine Grundsatzentscheidung.

Ein Löffel klirrt auf Porzellan.

„Das sind Ekel-Cornflakes. Ekel-pekel. Die schmecken voll ekel-pekel-schei…“

„Lucian! Sag es ja nicht!“ Mit einem Ruck fahre ich herum und erhebe sogar den Zeigefinger. Wenn man den Zorn nicht in meiner Stimme hört, sieht man ihn spätestens in meinen Augen.

Früher habe ich im Scherz gesagt, dass ich mich erschieße, wenn ich mal so eine Mutter werde. Könnte mir jemand freundlicherweise das Gewehr reichen? Ich wäre dann so weit.

Situationen wie diese sind ein elterliches Paradoxon. Vielleicht auch einfach nur Karma. Ein Schlag in den Magen für jedes Mal, das man beim Anblick einer keifenden Mutter im Supermarkt mit den Augen gerollt hat, während man selbst noch kinderlos war. Ich weiß gar nicht, wie oft ich zu meinem Mann gesagt habe, dass es doch nicht so schwer sein kann, seinen Nachwuchs im Griff zu haben.

Heute bin ich selbst die überforderte Mutter, die mittlerweile weiß, dass es manchmal nicht in der eigenen Macht liegt, ob man alles im Griff hat. Das Verweigern einer Süßigkeit kann im Zweifel einen Tsunami an Emotionen lostreten. Da ist man mit seinem logisch denkenden Erwachsenenhirn machtlos. Und gerade sind es eben die Schokopops.

Mein zorniger Blick trifft auf den herausfordernden meines vierjährigen Sohnes.

„Du weißt genau, dass wir solche Worte nicht benutzen wollen.“

„Scheiße.“ Er grinst.

„Lucian!“

„Scheiße.“

In meinem Kopf sollten jetzt die Sicherungen durchbrennen. Ich sollte ihm einen Vortrag halten. Darüber, wie schrecklich Schimpfwörter sind. Darüber, dass man sie nicht verwendet. Dass das ein unmögliches Benehmen ist. Die Worte sind alle da, aber sie wurden schon so oft ausgesprochen, dass sie sich seltsam gestaltlos anfühlen. Als hätten sie ihre wahre Bedeutung längst verloren.

Also lasse ich es sein und bete dafür, dass irgendeine Vorschullehrerin mehr Erfolg mit der Erziehung meines Kindes hat. Mit einem Ausatmen versuche ich, die Fassung wiederzufinden. Vergeblich. Der Löffel prallt Mal um Mal auf die Porzellanschüssel. Mit jedem weiteren Klirren steigt der Druck in meinem Kopf an.

Weil das provokant ist.

Weil er das extra macht.

Weil meine mütterlichen Nerven verdammt dünn sind.

Heute, gestern und an all den Tagen davor.

„Lass das“, fauche ich ihn an.

Es klirrt wieder. Gefolgt von Kinderlachen. Aber nicht dieses niedliche. Es ist die diabolische Sorte. Die, bei der man genau spürt, wie viel Freude es ihm bereitet, meine Geduld zu strapazieren.

„Lucian! Lass das!“

Eine Spur lauter.

Eine Spur klirrender.

Ich fahre herum. „Lass das verdammt noch mal sein! Was ist denn heute Morgen los, heilige …“

„Die Frage ist wohl eher, was mit dir schon wieder los ist.“ Eine Stimme von rechts lässt meinen Blick herumschwenken. Direkt auf Sebastian, der locker in die Küche geschlendert kommt. Er lächelt leicht und schließt während des Gehens blind einen Manschettenknopf an seinem blütenweißen Hemd, das ich gebügelt habe. In mühevoller Kleinstarbeit. Gestern Nacht. Weil ich es vorher vergessen hatte. Auf meiner Höhe bleibt er stehen und gibt mir einen Kuss.

„Guten Morgen“, murmelt er sanft und zieht eine Augenbraue hoch. Was auch immer er mir damit sagen will. Wie automatisiert streiche ich über seinen Kragen und entferne ein paar imaginäre Fussel. Er schiebt seine schwarze Brille zurecht.

„Alles in Ordnung? Du klingst gereizt.“

„Ja. Ja, natürlich. Alles in Ordnung.“

„Gut.“ Er wendet sich ab und entlässt mich damit aus seinem stahlblauen Blick. „Ach, was ich noch vergessen habe – ich habe heute Abend eine Einladung von Dr. Richardson. Ist wichtig.“

„Seit wann weißt du das?“

„Charlotte, fang nicht wieder so an.“

„Ich bin heute Abend mit Michelle verabredet, das hatte ich doch in den Planer eingetragen.“

Wir schauen uns an und ich weiß jetzt schon, wer am Ende des Tages in einem Restaurant sitzen wird und wer nicht.

„Kannst du das nicht verschieben?“ Sebastian dreht mir den Rücken zu und drückt auf dem Kaffeeautomaten herum.

„Wir haben das schon zum zweiten Mal verschoben.“ Der Satz wabert zwischen uns. Doch statt einzulenken, schaut Sebastian mich nur an. Das ist eine seiner vielen Stärken. Er hat die Fähigkeit, dem Druck so lange standzuhalten, bis sein Gegner einknickt. In seinen beruflichen Verhandlungen ist das ein entscheidender Vorteil. Im Privaten ist es eine Unart, die er nie ablegen wird, solange sie ihm dienlich ist. Er fährt sich durch die dunklen Haare, durch die sich schon deutlich graue Strähnen ziehen, und seufzt.

„Also?“, frage ich erneut. Doch auch dieses Mal gibt er mir keine Antwort. „Sebastian!“

„Du weißt, dass ich das nicht absagen kann. Was soll ich denn erzählen? Dass meine Frau ein Kaffeekränzchen halten musste? Michelle ist doch auch zu Hause, ihr könnt das sicher wann anders nachholen. Vielleicht mal nachmittags. Nehmt die Kinder mit, ist bestimmt lustig.“ Er setzt sich mit seinem Kaffee zu Lucian an den runden Holztisch. In meinen Ohren rauscht es.

Als er beginnt, sich mit unserem Sohn zu unterhalten, ist es das unmissverständliche Zeichen, dass das Gespräch für ihn beendet ist. Bevor ich mich weiter darüber aufregen kann, betritt allerdings auch schon die nächste Mitspielerin in Form meiner Tochter Chloe die Bühne.

„Mom!“, sagt sie. Ohne Guten Morgen. Ohne ein Lächeln. Es ist der gleiche anklagende Tonfall, den auch mein Sohn in Perfektion beherrscht.

„Guten Morgen, Süße.“ Ich will sie in den Arm nehmen, aber sie wehrt mich ab. Sie mag das nicht mehr, seit alle außer Dad zu uncool für sie sind.

„Warum hast du mich nicht früher geweckt?“, jammert sie. „Wie soll ich in einer halben Stunde fertig werden? Mein Peeling braucht schon zehn Minuten.“

„Du brauchst kein Peeling.“

„Im Ernst? Schau mich mal an.“ Sie zieht eine Grimasse. Ich wünschte, sie könnte sich durch meine Augen sehen. Ich wünschte, sie wüsste schon, wie unbedeutend es irgendwann einmal sein wird, ob man mit vierzehn Pickel hatte oder eine Zahnspange.

„Du bist gut in der Zeit, Maus.“

Sie geht an mir vorbei, wirft ihr dunkles Haar theatralisch auf den Rücken und nimmt sich ein Glas Wasser, das sie in einem herunterstürzt.

„Willst du Frühstück? Flakes?“

Sie schaut, als hätte ich sie gefragt, ob sie Butter pur löffeln will.

„Weißt du, wie viel Zucker da drin ist? In vier Wochen ist das Vortanzen, Mom.“

„Irgendetwas solltest du schon essen.“

„Haben wir Grapefruits? Morgen, Daddy.“ Sie setzt sich neben Sebastian, der ihr einen Kuss auf den Scheitel gibt.

„Hey, Prinzessin. Vier Wochen nur noch? Hast du schon alles drauf?“

„Klar. Nächstes Jahr ist vielleicht sogar eine Hauptrolle drin.“

Sebastian wirft ihr einen anerkennenden Blick zu. „Dann streng dich mal schön an. Du weißt ja …“

„Von nichts kommt nichts“, ergänzt sie seinen Satz und strahlt an ihm hoch. Und ich weiß genau, was sie sieht. Für sie ist Sebastian der wundervollste Mann auf diesem Planeten. Ihr Daddy, der wie ein Ritter in glänzender Rüstung gegen alle Drachen kämpft, die ihre Zuckerwattewelt bedrohen. Der, der sie auf Händen trägt und alles für sie tun würde. Dessen Kreditkarten immer locker sitzen und bei dem man jederzeit seinen Willen bekommt.

Ich beneide sie für einen Moment darum, denn es gab eine Zeit, da habe ich ihn mit dem gleichen Blick betrachtet. Das war, bevor wir uns zwischen Frühstück und Zubettgehen kaum länger als drei Minuten am Stück gesehen haben. In einer Zeit, in der es nur uns beide gab. In einem anderen Leben.

Ich schlucke trocken und reiße den Blick von meiner Familie los, weil es auf der Küchenarbeitsplatte neben mir vibriert. Eine unbekannte Nummer erscheint auf dem Handydisplay. Das ist schon das vierte Mal seit gestern Nachmittag. Vermutlich wieder irgendein Telefonscam. Ein unfassbar überraschender Hauptgewinn in einer Lotterie, an der ich gar nicht teilgenommen habe, oder eine Meinungsabfrage zu meiner Zufriedenheit mit unserem aktuellen Telefonprovider. Als wäre meine Meinung ernsthaft für irgendjemanden auf diesem Planeten von Interesse.

„Dein Telefon klingelt“, sagt Sebastian.

Ich drücke den Anrufer weg. Ich bin jetzt nicht in der Stimmung für überraschende Hauptgewinne.

***

Eine halbe Stunde später sitzen wir zu dritt in meinem SUV und fahren auf Raleighs überfüllten Hauptverkehrsstraßen zuerst Lucians Vorschule an. Er hängt in seinem Kindersitz und zetert vor sich hin. In der Hand hält er zwei Dinosaurierfiguren, die auf solch brutale Weise miteinander kämpfen, dass ich mich frage, was ich in der Erziehung dieses Kindes eigentlich alles falsch gemacht habe. Er und Chloe sind so unterschiedlich wie Feuer und Wasser. Keine Ahnung, ob es nur am Altersunterschied liegt aber … nein, sie war in seinem Alter nicht so. Sebastian sagt immer, dass er eben ein Junge ist. Als würde das etwas bedeuten. Als wäre es wichtig, dass Jungs solche Dinge ausleben und Mädchen nicht. Ich hasse es, wenn er so redet. Als Mann muss man lernen, sich durch alle Widrigkeiten durchzuarbeiten, Charlotte. Das ist unsere Natur.

Furchtbar.

„Luce, brichst du das bitte nicht kaputt?“, frage ich mit Blick in den Rückspiegel, aber er hört mich gar nicht. Er ist so in sein Spiel vertieft, dass es ihm vermutlich auch egal wäre, wenn das Auto in die Luft gehen würde. Die Stimmung arbeitet in jedem Fall auf diesen Punkt zu. Chloe neben mir sieht aus, als würde sie mich am liebsten aus dem Auto schmeißen und selbst das Steuer übernehmen.

„Mom, mein Training geht heute drei Stunden. Denkst du dran?“

„So lange?“

„Ja? Wir müssen alle fit werden. Wir sind schlapp wie Kartoffelsäcke. Wenn ich die Odette tanzen will, geht das so nicht.“

„Schatz, ich weiß, dass-“

„Nee, Mom, nee nee, da will ich jetzt echt nicht drüber reden. Ich brauche das Training. Ich muss langsam in Form kommen. Außerdem will ich am Wochenende mein neues Kleid anziehen. Das mit dem Rückenausschnitt.“

„Bei einem Treffen mit Janet?“

„Mit der? Auf keinen Fall. Ich gehe mit den Mädels auf die Party bei Amalia.“

„Was für eine Party?“

Aus dem Hintergrund wird ein Heulen laut, weil eine Figur zu Boden gegangen ist.

„Lucian? Ich hebe die gleich auf, bleib bitte sitzen. Nicht abschnallen.“

„Mommy, jetzt. Jetzt sofort. Mommy!“

„Gleich.“

„Mom, du hörst nie zu. Boah, richtig geil, dass ich die Einzige von meinen Freundinnen bin, die einen kleinen Bruder hat. So nervig.“ Chloes Stimme ist kaum hörbar über das Gekreische hinweg.

Ich atme.

Ein und aus.

Lucian brüllt und Chloe schmollt. Und ich weiß weder, auf welche Party meine Tochter geht, noch, mit welchen Mädchen, noch, was dem Dinosaurier zugestoßen ist. Ich weiß nur, dass mein Kopf gleich platzt.

Ein Kind, um zu heiraten.

Ein Kind, um zu bleiben.

***

Bis zum Abend wurden noch mehrere Krisen abgewendet. Ich habe mit meiner Tochter um diese Party gestritten, die ihr Daddy natürlich erlaubt hat, ohne mit mir zu sprechen. Ich habe Tränen getrocknet, weil die Ballettlehrerin heute einen schlechten Tag hatte, und ich habe ein gesprungenes Glas aus sämtlichen Ritzen meiner Küche gesaugt, weil Lucian die Idee gut fand, es an der Wand zerschellen zu lassen. Und jetzt bin ich einfach nur geschafft, müde und nicht mehr ich selbst, als ich mich neben meinen Mann aufs Sofa fallen lasse. Er schaut milde in meine Richtung und schmunzelt leicht.

„So schlimm?“

Ich schnaufe durch. „Frag nicht.“

„Meinst du, es toppt die Verhandlung von Harrison gegen Matchwater Inc.?“

„Das hier ist unser Leben und kein Wettbewerb.“

„Du klingst immer so abgespannt.“

Und du klingst immer so vorwurfsvoll.

„Das war heute Morgen nicht okay von dir, Charlotte.“

Sebastian sagt es ganz ruhig in die Stille des Wohnzimmers hinein. Es hallt von den Glasvasen auf dem Kamin zu den Gemälden an der Wand. Dann kommt es zurück und trifft auf mich. Auf die Frau, die in ihrem Seidenpyjama auf dem Sofa sitzt und glaubt, dass sie am Ende angelangt ist. Die Reserven sind schon lange weg. Er weiß das. Und trotzdem kommen ihm die Worte so leicht über die Lippen. Der Vorwurf ist deutlich herauszuhören aus diesem Satz, der sich so schwer in mein Gewissen brennt, dass mir fast die Luft wegbleibt. Eigentlich sind es Worte, die ich sagen sollte. Sebastian hat kein Recht, es auszusprechen. Er klingt, als hätte ich ihn gezwungen, sein Firmendinner abzusagen und nicht andersherum.

„Ich weiß. Es tut mir leid.“ Ich habe jetzt keine Lust, mich in diesen Konflikt hier hineinzudenken. Weil es immer die gleichen, totgekauten Argumente sind. Immer die gleiche Reihenfolge von Anschuldigungen, die wir uns gegenseitig zuschieben. Es ist normal. So ist das eben, wenn man keine achtzehn mehr ist. Wenn man ein Leben zusammen hat. Einen Alltag, zwei Kinder. Trotzdem ermüdet es mich. Früher hätte ich über diese Gedanken gelacht. Ich habe immer gedacht, dass ich eine bin, die die Dinge in die Hand nimmt. Eine, der das Schicksal die Pralinen vor die Füße wirft. Und das hat es. Ich habe ein geordnetes Leben. Ich habe einen Mann, zwei gesunde Kinder. Wir haben ein Haus und genug Geld. Es ist nur schwer in Worte zu verpacken, warum all das nicht reicht. Schon allein die Tatsache, dass es so ist, lässt mich undankbar fühlen.

Sebastian stellt sein Weinglas auf dem niedrigen Couchtisch ab und zieht in der gleichen Bewegung einen meiner Füße auf seinen Schoß. Eine Geste, die ich liebe. Eigentlich. Heute kann ich die Berührungen seiner Finger kaum ertragen. Die Aufforderung nach mehr Körperlichkeit schwingt unverkennbar mit. Er bekommt dann diesen Blick, der so wenig in mir auslöst, dass ich vor Frustration schreien könnte. Als wäre etwas in mir über die Jahre abgestorben. Ertrunken in Schulaufführungen und Ballettstunden.

Seine Hand fährt immer höher und erreicht fast mein Knie unter der glatten Hose.

„War ein langer Tag, hm?“, fragt er und rutscht ein Stück näher. Ich lächle matt.

Wie sagt man dem Mann, mit dem man alles teilt, dass er einem zu viel ist? Dass man ihn eigentlich schon noch liebt, aber trotzdem jetzt gerade, in diesem Moment, nicht angefasst werden will? Wie sagt man verletzende Dinge, ohne dass sie verletzend klingen? Richtig. Gar nicht.

Seine Lippen kommen näher und in meinem Kopf läuft die Vorschau auf die nächste halbe Stunde in HD. Er legt die Hände um mein Gesicht. Warum kann ich dabei nichts mehr empfinden? Seit wann ist das fort? Der Gedanke ist quälend. Am liebsten würde ich mich für immer allein einschließen und niemals wieder hervorkommen.

Ohne Ansprache.

Ohne Drama.

Ohne Familie.

Alleine.

Ich hasse mich dafür.

Bevor Sebastian weitermachen kann, fängt mein Handy auf dem Wohnzimmertisch an zu vibrieren. Ich werfe einen Seitenblick darauf. Unterdrückte Nummer. Diesmal kommt es mir recht.

„Schatz, warte mal eben.“

Er weicht zurück. „Im Ernst?“

„Der Anruf kam schon ein paar Mal.“

„Dann wird er es auch noch einmal tun.“ Er zieht mein Kinn zu sich. Eine Geste, die in der Realität nur halb so prickelnd ist wie in all den Romanen. Komm schon, Baby, schau mich an. Bitte, lass ihn das niemals sagen.

Ich winde mich aus seinem Griff und nehme wortlos das Handy. Bevor er noch einen Ton sagen kann, hebe ich ab und gehe auf die Fensterfront zu.

„Clairmont?“

„Ah, Mrs. Clairmont. Endlich erreiche ich Sie. Meine Güte, ich dachte schon, dass Sie die Nummer gewechselt haben oder Schlimmeres.“

„Mit wem spreche ich bitte?“

„McNamara. Anwalt, Notar und Nachlassverwalter.“

„Um was geht es denn?“

„Sie sind die Enkelin von Mrs. Eleonora Hawkins?“

Es gibt diese Tonlage, die Menschen haben, wenn sie schlechte Nachrichten übermitteln. Mein Herz rutscht eine Etage tiefer und pocht irgendwo auf Magenhöhe weiter.

„Wer ist das denn nun?“, blafft Sebastian aus dem Hintergrund, aber ich stoppe ihn mit einer Handbewegung.

„Ja, bin ich. Ist … geht es ihr gut?“ Es ist nicht mehr als ein Murmeln in den Hörer.

„Ma’am, ich habe leider weniger gute Nachrichten. Ihre Großmutter wurde gestern tot in ihrem Haus aufgefunden. Herzliches Beileid.“

In meinen Ohren rauscht es. Bilder von Granny überlagern sich. Sie schieben sich mit einer solchen Vehemenz vor alles andere, dass mir richtig übel wird. „Haben Sie gerade gesagt, dass …“

„Ja, Ma’am. Sie ist leider verstorben.“

„Das …“

„Solche Dinge sind immer unerklärlich und plötzlich. Der Tod ist und bleibt ein Mysterium“, sagt dieser Mr. McNamara, als wäre es ein Werbespruch.

Für einen Moment sehe ich mich an Moms Grab stehen. Der Gedanke, das jetzt mit Granny wiederholen zu müssen, ist furchtbar. Und noch etwas ist da: Scham. Dass ich die letzten Jahre nicht einmal mehr zu ihr rausgefahren bin. Dass wir sie zwar an allen Feiertagen eingeladen, aber niemals nachgehakt haben, wenn sie abgesagt hat. Ich sehe sie vor mir, wie sie einsam vor ihrem alten Ofen sitzt und stickt. Das hat sie immer getan und regelmäßig Pakete geschickt. Mit Dingen, die wir niemals gemocht haben. Die wir nie wertgeschätzt haben. Wir haben uns nicht einmal dafür bedankt.

„Mrs. Clairmont?“

„Ja?“

„Ich habe gerade über die Erbauflassung gesprochen. Nach der Beerdigung würde ich Sie gern zu mir ins Büro bestellen, denn es gibt einige Passagen aus dem Testament, die ich lieber mit Ihnen persönlich besprechen würde. Sie sind die letzte Erbin.“

Damit hat er leider recht. Sowohl Mom als auch mein Onkel Henry sind beide schon tot. Grandpa seit letztem Jahr. Wir sind keine sehr haltbare Familie.

„Passt Ihnen das?“

„Was denn? Entschuldigen Sie bitte, ich …“

„Ja, ich weiß. Solche Dinge sind niemals leicht. Passt es Ihnen nach der Beerdigung? Wann auch immer sie sein wird. Ich werde Bescheid geben.“

Kapitel 2

Levi

Es gibt Dinge, die hasst man. Und dann gibt es Dinge, die hasst man so sehr, dass man den Wunsch verspürt, sich in Luft aufzulösen.

Zum Beispiel, wenn man auf der Hochzeit seiner Schwester sitzt und der Rede lauscht, die der eigene Vater auf seinen neuen Schwiegersohn hält. Wenn er noch ein einziges Mal das Wort großartig verwendet, werde ich kotzen. Dann werde ich in die Geschichtsbücher eingehen als der schlimmste kleine Bruder und Trauzeuge aller Zeiten. Und vermutlich werde ich enterbt.

Als würde das noch einen Unterschied machen.

Dad legt eine Hand auf Steves Schulter und Brianna strahlt zu den beiden Männern hinüber, die neben ihr stehen. Einer groß wie ein Bär, mit einer tiefen Stimme und einem sanften Funkeln in den Augen – das ist Dad, der heute endlich ein reales Bild von der Vision geboten bekommt, die er seit Jahrzehnten von seiner Tochter hat.

Der Mann neben ihm sieht aus wie ein schlechtes Abziehbild. Klein, aber ebenso breit wie Dad, dafür mit dem linkischen Gesicht der Ratte, die er ist. Schon immer war.

Ich erinnere mich noch genau, wie er mich früher als Kind drangsaliert hat. Da hatte er noch eine große Fresse. Aber nur so lange, bis ich mit dem langersehnten Wachstumsschub einen Kopf größer geworden bin als er. Seitdem ist er ein Arschkriecher. Heilige Scheiße, ich hasse Steve Randall. Er passt kein bisschen zu Brianna und trotzdem stehen sie heute beide da vorne und sehen aus wie das glücklichste Brautpaar des Jahrtausends. Sie mit ihrem großen Babybauch und er mit seinem dämlichen Grinsen.

Mom nennt das, was sie verbindet, eine wundervolle Jugendliebe. Ich nenne das berechnendes Kalkül. Die Ratte weiß genau, was sie macht. Wenn jetzt nicht ein Ring am Finger meiner Schwester steckt, weil Randall sich mein Erbe unter den Nagel reißen will, dann weiß ich auch nicht.

Mein Dad und seiner sind seit jeher Konkurrenten. Wer hat die besten Bullen, wer hat die größten Flächen, wer hat die modernste Stallanlage? Ein Schwanzvergleich unter Viehzüchtern. Dabei haben die Randalls immer den Kürzeren gezogen. Ob sich das aufs Persönliche übertragen lässt, will ich gar nicht wissen.

„Warum heiratet deine Mutter eine Ratte?“, fragt Onkel Jake neben mir und verzieht das Gesicht.

„Das ist doch nicht Mom, das ist Brianna.“

„Hm. Dann heiratet wohl Brianna eine Ratte.“ Er kichert unpassend und hebt sein Bierglas in meine Richtung. Ich stoße mit ihm an und freue mich ehrlich über den zufriedenen Glanz in seinen Augen. Verwechslung hin oder her. Die nimmt ihm hier ohnehin schon lange niemand mehr übel. Alle sind froh, dass er sich heute überhaupt daran erinnert, zu dieser Familie zu gehören. Die meiste Zeit lebt er mit seinen Gedanken an einem Ort, zu dem keiner von uns mehr Zugang hat. Eigentlich wollte Mom ihn heute gar nicht herholen, aber Dad und Tante Livie haben darauf bestanden, denn Jake ist Dads einziger Bruder.

Kinder haben er und Livie keine. So lange ich mich erinnern kann, haben die beiden immer wie zwei Einsiedler auf unserer Ranch gelebt. Ein bisschen abseits in einem so winzigen Blockhaus, dass es gerade so für sie selbst gereicht hat. Die Hütte. Er hat nie darüber gesprochen, warum sie sich für dieses Leben entschieden haben und vermutlich ist das auch nicht weiter wichtig. Warum entscheidet man sich schon für Dinge? Warum sitze ich hier? Warum heiratet meine Schwester diese Ratte Randall? Wer weiß das so genau?

Dad beendet seine Rede, alle klatschen und pfeifen wie verrückt.

„Haben wir jetzt was verpasst, Junge?“

„Denke nicht. Er lobt die Ratte und die Ratte lobt sich vermutlich gleich selbst.“

„Du kannst ihn nicht leiden, hm?“

„Stimmt.“

„Immerhin ist Steve irgendwo tief im Herzen ein guter Mensch. Glaub mir, es gibt Schlimmere als ihn.“

Wir lehnen uns synchron zurück, im nächsten Moment setzt Musik ein. Meine Schwester hat eine Band angeheuert, die sich jetzt auf einer provisorischen Bühne aus Quaderballen aufgebaut hat und ein flottes Lied spielt. Sie tragen wie neunzig Prozent der Gäste Jeans und Hemden mit Westernkrawatte. Ich nicht. Ich musste mich heute in einen Anzug zwängen, denn ich bin ja der Trauzeuge der Ratte. Weil Ratten keine Freunde haben, die dieses heilige Amt übernehmen könnten.

Die Geiger geben alles, als die ersten Paare sich auf der Tanzfläche einfinden. Das ist auf jeder Hochzeit der Moment, um das Weite zu suchen. Nicht, dass ich auf vielen gewesen bin, aber es ziehen sich doch gewisse Muster durch.

„Na, wie wäre es mit einem Tänzchen, Levi-Schatz?“

Dieses Muster zum Beispiel. Ich wende den Blick von der Tanzfläche auf die Person schräg hinter mir und schaue genau in die glasigen Augen von Moms Freundin Mrs. Graham. Sie ist breit wie hoch und hat ein Gesicht, mit dem sie in der Muppet Show auftreten könnte.

„Oh, nein danke“, setze ich an, komme aber nicht weit.

„Natürlich tanzt er mit dir, Brianna. Mit der Braut muss man tanzen, das ist ein Naturgesetz. Nicht, Peter?“ Die Augen meines Onkels funkeln vergnügt. Seine Hand legt sich schwer auf meine Schulter. Keine Ahnung, wer Peter ist. Der Druck wird erhöht. So lange, bis ich aufstehe. Mrs. Graham schleift mich auf die Tanzfläche und wirft sich resolut an meine Brust.

„Was für eine prächtige Feier. Große Güte“, säuselt sie vor sich her. Ich nicke. Wortlos.

„Was macht denn die Arbeit so, mein Schatz?“, fragt sie ungeniert weiter und ich kann mich nicht entscheiden, ob ich das unpassend oder witzig finde. Ich meine, ich kenne Mrs. Graham mein ganzes Leben. Wie so ziemlich alle anderen Gäste auch. In Orten wie Valley Mills, mitten in der Einöde von Texas, ist das nicht zu umgehen.

„Und?“, fragt sie nach.

„Viel zu tun. Wie immer.“

„Hab gehört, Daddy hat bei der letzten Viehausstellung ordentlich abgeräumt. Schönster Bulle, ja?“

Ein Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht. „Wer soll sonst gewinnen? Er hegt das Vieh besser als uns Kinder.“

Sie lacht. „Und du? Hast ja ordentlich im Sand gesessen, was? Deine Mutter war selbst beim Erzählen dem Herzinfarkt nahe.“ Sie zwickt mich in die Seite.

„Autsch.“

Sie zwickt fester. „Selbst schuld, wenn du dich auf so eine Teufelsbrut mit Hörnern setzt.“

Da könnte sie recht haben. Früher bin ich jedes Wochenende beim Rodeo gewesen. Dad war stolz und Mom brauchte ein Sauerstoffzelt. Wer will schon dabei zusehen, wie der eigene Sohn sich von einem wütenden Bullen zu Hackfleisch verarbeiten lässt? Ich würde jetzt gerne damit prahlen, wie unbesiegbar ich beim Bullriding bin, doch das wäre gelogen. Nach einem Unfall letztes Jahr habe ich mehr im Sand gesessen, als dass ich oben geblieben bin. Trotzdem brauche ich das ab und an. Manche von uns werden eben auch mit dem Alter nicht klüger. Ist wie mit One-Night-Stands: Jeder weiß, dass sie meistens scheiße sind, aber die Erinnerung an diese Erkenntnis verblasst enorm schnell.

Wir drehen uns über die Tanzfläche. Dabei kommen wir an Mom vorbei, die fleißig in die Hände klatscht und mich stumm auffordert, ein bisschen freundlicher zu schauen. Sie zieht sich umständlich die Mundwinkel hoch und das sieht so bescheuert aus, dass es sich tatsächlich auf mich überträgt. Im nächsten Moment werde ich von Mrs. Graham herumgedreht und stolpere über meine Füße.

„Und, wann tanzen wir auf deiner Hochzeit? Hast du denn endlich mal ein vernünftiges Mädchen?“

Noch ein Muster, das sich durchzieht. Wenn man in dieser Gegend über dreißig unverheiratet ist, tun alle so, als wäre man ein Außerirdischer.

„Weiß nicht. Es gibt zu viele schöne Frauen, um sich auf eine festzulegen.“ Ich zwinkere ihr zu, sie schmunzelt bloß geschmeichelt.

„Charmant bist du ja, warst du immer.“ Damit bleibt sie stehen und schaut sich um. „Ah, da ist sie. Isabella! Komm mal her.“ Ich folge der Richtung, in die sie sich abgewandt hat, und sehe ihre Tochter Isabella zwischen den Gästen auftauchen. Ihre Wangen sind in etwa so rot wie ihre Haare, sie wirkt maximal unbehaglich. Mit Vehemenz versucht sie, die Verkupplungsversuche ihrer Mutter abzuwehren, doch die winkt immer auffälliger. Sie zeigt so lange auf mich, bis Isabella sich schließlich in Bewegung setzt. Mrs. Graham wirkt aufs Äußerste zufrieden. „Na sowas“, säuselt sie. „Schau nur, wer von der Uni auf Heimatbesuch ist. Meine Beine sind müde, aber Isabella kennst du ja noch von früher, oder?“

Besser, als du ahnst.

Im nächsten Moment drückt Mrs. Graham ihre Tochter mit Nachdruck an die Stelle, an der sie vorher stand, und verabschiedet sich. Ich schaue seufzend in die gleichen Augen wie eben. In die zwanzig Jahre jüngere Version. Und ja, dass das ein völlig abstruser Gedanke ist, ist mir sehr wohl klar. Wer will schon mit seiner eigenen Mutter verglichen werden?

***

„Mom, ich habe drei Tänze mit ihr gehabt. Sie ist auf meinen Füßen herumgelatscht wie ein Clown.“

Mom dreht sich um und wirft ihr Küchenhandtuch nach mir.

„Sei nicht so unmöglich, Levi. So habe ich dich nicht erzogen. Außerdem ist sie doch eine gute Partie.“

Sie wartet gar nicht meine Reaktion ab, sondern wendet sich wieder dem Abwasch zu.

„Gabs das Hochzeitsaufgebot zum Sonderpreis, falls man gleich zwei nimmt, oder was?“ Auch, wenn es witzig klingt – das ist kein Grund zu scherzen.

„Wir wollen nur das Beste für dich, Levi. Du weißt genauso gut wie ich, dass aus deinen Plänen nichts werden kann, wenn du nicht endlich zusiehst, dass du sesshaft wirst. Ich frage mich ernsthaft, worauf du wartest?“

„Auf die Frau, die mir nicht schon morgens vor der Arbeit die Nerven raubt.“

„Werd jetzt bloß nicht frech.“

Ich stehe auf. „Würde ich nie. Du kennst mich.“

„Deswegen sage ich es ja. Deinetwegen bekomme ich noch vorzeitig graue Haare.“

Ich trete neben sie, stelle meine Kaffeetasse in die Spüle und gebe ihr einen Kuss auf den Scheitel.

„Du bist schon grau, Mom“, flüstere ich und ducke mich, um ihrer nassen Hand auszuweichen. Mit einem Grollen kommt sie mir hinterher und stoppt sich gerade noch rechtzeitig, bevor Brianna und Steve, die Ratte, in die Küche kommen.

„Morgen allerseits. Na, Schwager?“ Er nickt uns zu und ich glaube, jetzt kommt mir ehrlich mein Frühstück wieder hoch.

„Morgen.“

Brianna watschelt auf den Tisch zu und lässt sich mit einem Ächzen auf einen der Stühle fallen. Sie strahlt wie ein Tausend-Watt-Leuchter. Und ich werde einen Teufel tun, sie zu fragen, warum. Es gibt Dinge, die überlässt man lieber dem Vergessen. Hochzeitsnächte von Familienmitgliedern beispielsweise.

„Kann ich dir zur Hand gehen, Mom?“, fragt Steve und ja, er nennt Mom und Dad eben genau so. Mom und Dad. Als wäre er hier irgendwer. Lächerlich.

Bevor ich weiter über die Situation nachdenken kann, wendet Brianna das Wort an mich.

„Levi, wenn du nachher mal eine Minute hast …“

„Was denn?“

„Dad wollte mit uns reden. Also mit Steve, dir und mir.“

„Hat er gesagt, worum es geht?“

Sie schüttelt leicht den Kopf, aber so rot, wie sie wird, weiß sie es genau.

Und pünktlich zur Mittagszeit erfahre ich ebenfalls die großen Neuigkeiten. Wir sitzen aufgereiht wie die Orgelpfeifen vor Dads Mahagonischreibtisch. Brianna streichelt ohne Unterlass ihren Bauch. Sie sieht aus wie eine Wahrsagerin mit direkter Verbindung zum Universum.

„Kinder“, beginnt Dad mit großer Geste und verschränkt die Arme auf dem Tisch. „Wie ihr wisst, will ich mich langsam, aber sicher aus dem Geschäft zurückziehen …“

Moment, was? Will er das? Seit wann?

„Nicht sofort, aber auf lange Sicht doch. Es hat eine glückliche Fügung gegeben, die gestern durch eine Ehe besiegelt wurde. Brianna und Steve wissen es schon, wir wollten es dir zusammen sagen, Levi. Die Randall-Ranch und unsere werden sich zusammenschließen. Steve leitet ab sofort die Geschäfte seines Vaters und ich werde die Führung hier nach und nach an Brianna übergeben.“

„Was?“ Und das ist das Einzige, das auch nur annähernd ausdrücken kann, was ich empfinde.

„Dir will keiner etwas wegnehmen. Du hast weiterhin deinen Platz hier, es bleibt alles beim Alten.“ Die Ratte macht ein beschwichtigendes Gesicht und kann froh sein, dass meine Schwester zwischen uns sitzt.

„Wollt ihr mich verarschen?“ Mit einem Satz bin ich auf den Füßen und schnaube. In etwa so wie dieser hässliche Longhornbulle Holloway, den Dad so liebt.

„Es ist nur eine Formalität. Nichts wird sich ändern“, sagt Dad.

„Es wird sich nichts ändern? Die Ratte zieht hier ein und reißt alles an sich. Wenn das keine Veränderung ist, weiß ich auch nicht!“

Brianna fällt alles aus dem Gesicht. Als mir richtig bewusst wird, was ich da gerade laut ausgesprochen habe, ist es Zeit, die Flucht zu ergreifen. Wenn nichts mehr geht, ist das mein Mittel der Wahl.

„Levi! Du bleibst hier und entschuldigst dich!“, blafft Dad, während ich schon aus der Tür haste. Die Gedanken drehen Extraschleifen in meinem Kopf und ich habe mich selten so verarscht gefühlt wie heute.

Auf dem Weg nach draußen komme ich an Mom vorbei.

„Levi! Warte doch …“

„Worauf, Mom? Worauf bitte?“

Mit Wucht reiße ich den Hut von der Garderobe und brülle nur ein „Bessy!“ durchs Haus. Die Schäferhündin kommt sofort angeflitzt und duckt sich tief an meine Seite. „Komm, Süße, wir hauen ab.“

„Levi!“ Eine harsche Stimme brüllt hinter mir her. Brianna hat wohl die Verfolgung aufgenommen.

Bessy scheint kurz verwirrt, folgt mir dann aber in den Flur. Ich bleibe einen Moment an der Kommode stehen und wühle nach meinen Autoschlüsseln. Es liegt ein Brief daneben, auf dem in Handschrift unsere Adresse eingetragen ist.

Persönlich zu Händen Levi Henderson.

Was?

„Warum sagst du sowas? Warum machst du mir mein ganzes Glück kaputt? Du bist so selbstgerecht und unmöglich“, keift meine große Schwester von der Seite. Und weil sie immer näher kommt, beschließe ich, dass ich jetzt keine Zeit habe, mir Gedanken über den Brief zu machen. Wenn sie mich in die Finger bekommt, werde ich mir vermutlich niemals wieder Gedanken über irgendetwas machen müssen. Also stopfe ich den Briefumschlag in die Tasche meiner Jeans und haste mit Bessy im Schlepptau aus dem Haus.

Die nächsten Stunden verbringe ich damit, ziellos durch die Gegend zu fahren. Ich kann nicht fassen, dass Dad mir das antut. Ich meine, seit meiner frühesten Kindheit redet er davon, wie stolz er sein wird, wenn ich mal die Geschäfte zu Hause führe. Nicht, dass ich jemals scharf darauf gewesen wäre, aber nicht mal die Wahl zu haben? Hier geht es doch ums Prinzip. Und was soll das mit Randall? Dad hasst die Randalls. Nur, weil dieser kleine Scheißer ihm ständig Honig ums Maul schmiert und ihm endlich den langersehnten Enkel gemacht hat.

Ich komme an unzähligen Abzweigungen vorbei. Hofauffahrten, die so lang sind, dass man die dazugehörigen Gebäude von der Straße aus gar nicht sehen kann. Irgendwann kommt mir ein Viehtransporter entgegen, der so breit ist, dass ich rechts ranfahren muss. Die Staubwolken hüllen mich ein und nehmen mir für einen Moment die Sicht.

Der Moment dehnt sich zu Minuten aus.

Ich stehe immer noch da, selbst als die Straße wieder frei ist. Plötzlich ist es, als könnte ich mich niemals wieder bewegen. Nicht vor und nicht zurück. Die Weite um mich herum fühlt sich heute zum ersten Mal an wie eine Zwangsjacke.

Bessy legt ihre Schnauze auf meinen Oberschenkel und fiept. Sie schaut aus großen Augen und stupst meine Jeans an.

„Hm? Was meinst du?“

Sie stupst wieder.

Der Brief. Mit zittrigen Händen krame ich ihn hervor und öffne den Umschlag.

Sehr geehrter Mr. Levi Henderson,

hiermit möchte ich Sie zur Erbauflassung von

 

Mrs. Eleonora Hawkins

28601 Vinewood Hill

Vinewood, North Carolina

 

bestellen.

Sie sind als Erbe im Testament der Verstorbenen eingesetzt.

Die Erbausschüttung ist vorweg an einige Bedingungen geknüpft, die ich Ihnen in einem persönlichen Gespräch nahebringen möchte. Dies entspricht den Wünschen meiner Mandantin. Bitte finden Sie sich am

 

June 15, 2022

03:30 PM

 

in meiner Kanzlei bei der unten aufgeführten Adresse ein. Halten Sie Ihre Ausweisdokumente bereit und seien Sie pünktlich. Sollten Sie den Termin nicht wahrnehmen können, bitte ich Sie höflichst um eine Unterrichtung.

 

Mit freundlichen Grüßen

Everett McNamara

Anwalt, Notar und Testamentsvollstreckung

Ich lese den Brief noch bestimmt zwei Mal und lasse ihn dann sinken.

Bleibt nur eine Frage: Wer in aller Welt ist Eleonora Hawkins?