Leseprobe Die Braut des Marquess of Helmsley

Prolog

Dezember 1853

„Wir sind heute ein recht trostloses Häufchen, muss ich feststellen.“ Oliver Leighton, der Earl of Norcroft, blickte gedankenvoll in die Runde seiner engsten Freunde. Sie hatten sich wie gewohnt im Salon ihres Clubs versammelt.

„Es ist aber auch trostlos“, bemerkte Nigel Cavendish, Sohn des Viscount Cavendish, und starrte trübsinnig in seinen Brandy. „Das Leben rast mit verblüffender Geschwindigkeit an uns vorbei, schon wieder neigt sich ein Jahr dem Ende zu. Wir alle sind um ein Jahr älter und damit dem unabwendbar auf uns lauernden Verhängnis einen weiteren Schritt nähergekommen.“

„Ich platze ungern mitten in ein Gespräch.“ Jonathon Effington, Marquess of Helmsley und Erbe des Duke of Roxborough, ließ sich in den einzigen noch freien Sessel sinken und grinste seine Freunde an. Wie immer strahlte Helmsley Herzlichkeit und gute Laune aus, sein fröhliches Naturell bezauberte Männer wie Frauen. Manchmal war es kaum zu ertragen. „Aber in euren Mienen kann man lesen wie in einem offenen Buch. Ich nehme an, Verhängnis soll die Aussicht auf eine bevorstehende Eheschließung bezeichnen?“

„Was sonst könnte ausgewachsene Männer derart in Deckung zwingen?“ Gideon Pearsall, Viscount Warton, bemühte den schleppenden, zynischen Tonfall, den er für sich zur Kunstform erhoben hatte. „Ganz recht, was sonst“, murmelte Cavendish. Helmsley zog amüsiert eine Augenbraue hoch. „Wir alle haben uns doch zweifellos damit abgefunden, dass es unsere Pflicht ist, eines Tages zu heiraten, standesgemäße Erben hervorzubringen, den Familiennamen weiterzutragen et cetera pp. Sich mit etwas abzufinden und es freudig anzunehmen, sind allerdings zwei völlig unterschiedliche Angelegenheiten. Die Ehe ist eine wenig ermutigende Aussicht und kein Mitglied des männlichen Geschlechts, das auch nur entfernt noch seine Sinne beisammen hat, kann daran großen Gefallen finden.“ Warton bedeutete einem der stets aufmerksamen Diener, dass noch eine Runde Erfrischungen gewünscht wurde. „Und zugleich leider eine Aussicht, der keiner von uns noch allzu lange aus dem Weg gehen kann.“ Einzig Warton war ihr bislang nicht gänzlich aus dem Weg gegangen; doch das war ein Thema, das in stillem Einvernehmen nicht  niemals!  erörtert werden durfte. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich weiterhin die Ehe zu meiden wünsche“, ließ sich da Helmsley gelassen vernehmen. „Aber natürlich.“ Oliver schnaubte. „Genau deshalb sieht man dich auch mit halsbrecherischer Geschwindigkeit vor den Altar stürzen.“ Helmsley nahm ein Glas von dem Diener entgegen. „Ich habe schlichtweg noch nicht die Richtige gefunden.“

„Die Richtige?“ Warton verdrehte die Augen. „Du meinst, die Frau, die dein Herz entflammen wird?“

„Ganz zu schweigen von deinen Lenden“, ergänzte Cavendish. „Eine Frau, die deinen Verstand herausfordert“, fügte Oliver mit übertrieben dramatischer Geste hinzu. „Und alles, was du sonst zu bieten hast.“ Helmsleys amüsierter Blick wanderte im Kreis herum. „Sollte ich das etwa schon einmal erwähnt haben?“

„Jedes einzelne Mal, wenn das Gespräch auf die Ehe kommt.“ Warton seufzte. „Mal sehen, ob wir noch all die Anforderungen an die künftige Lady Helmsley zusammenbekommen. Es ist eine nicht unerhebliche Liste, soweit ich mich erinnern kann.“

„Und so muss es auch sein“, sagte Helmsley mit fester Stimme. „Meine Frau wird eines Tages die Duchess of Roxborough sein. Eine solche Position ist nicht leicht auszufüllen.“

„Ebenso wenig wie die einer vollkommenen Gattin“, bemerkte Oliver. „Vollkommenheit ist relativ“, sagte Warton, „und ihr Empfinden höchst individuell. Ich für meinen Teil bin nicht im Geringsten der Meinung, dass Jonathons Kriterien Vollkommenheit ausmachen.“ Helmsley hob sein Glas zum Toast. „Dann trinken wir auf alles, was als vollkommen gelten mag.“

„Vollkommen?“ Oliver prustete los. „Deine Vorstellung davon entspricht eher dem, was vernunftbegabte Männer als anstrengend bezeichnen würden.“ Warton stieß einen lang gezogenen Seufzer aus. „All dieser Unsinn von Temperament und Eigenständigkeit.“

„Klingt für mich nach einem Haufen Ärger“, grummelte Cavendish düster. „Ja, nicht wahr?“ Helmsley zog gutgelaunt die Stirn hoch. „Hatte ich übermäßig viel getrunken, als ich das sagte?“

„Vermutlich.“ Warton zuckte die Achseln. „Diese Art von Erörterung der Beziehungen zwischen Mann und Frau und was wir uns wünschen und was nicht ergibt sich in der Regel gegen Ende eines langen, ausschweifenden Abends. Üblicherweise nachdem wir den traurigen Zustand der modernen Politik gründlich seziert haben, und bevor wir uns der philosophischen Frage nach dem wahren Sinn des Lebens zuwenden.“

„Dazu muss man in der Tat viel getrunken haben“, murmelte Cavendish. „Wobei wir festhalten sollten, dass Helmsleys Anforderungen an die ideale Frau sich nicht nennenswert unterscheiden, ob er sie nun betrunken oder stocknüchtern vorträgt. Man kann ihm wohl ein gewisses Maß an Beständigkeit nicht absprechen. Oder vielleicht ist es auch nur Starrsinn.“ Oliver musterte seinen Freund. Man sah ihm seinen störrischen Charakter nicht unbedingt an. Jonathon Effington war ein attraktiver Mann und sein gutes Aussehen wurde noch betont durch sein zuversichtliches, freundliches Wesen. Wenn man dazu noch seinen Titel und das Familienvermögen bedachte, war es eigentlich ein Wunder, dass er noch keine Braut gefunden hatte, die seine Erwartungen erfüllte. Sicherlich mangelte es nicht an bemühten Kandidatinnen, die um die Stellung der künftigen Duchess of Roxborough wetteiferten. Doch Helmsley hatte schon vor langer Zeit durchblicken lassen, dass ihm der Sinn nicht nach dem fügsamen, wohlerzogenen Typus von Ehefrau stand, den die englische Gesellschalt so unfehlbar hervorbrachte. Er behauptete vielmehr, eine solche Gattin würde ihn zu Tode langweilen; und Oliver war sich nicht sicher, ob er nicht vielleicht sogar recht hatte. Dennoch hatte auch Cavendish recht: Eine solche Ehefrau würde eine Menge Ärger mit sich bringen. „So töricht das auch für den Rest von uns klingen mag  Helmsley wünscht sich erklärtermaßen keine sanftmütige oder blind gehorsame Frau.“ Oliver erhob das Glas auf seinen Freund. „Möge Gott ihm gnädig sein.“

„Das wollen wir hoffen“, bemerkte Warton. „Denn eine Frau von solchem Charakter wird es sicherlich nicht sein.“

„Ich persönlich hätte nichts gegen blinden Gehorsam einzuwenden.“ Cavendish hielt einen Moment inne, als erwöge er die Vorteile des Gehorsams, sei er nun blind oder sonstiger Art. „Eine Frau, die genau das tut, was ich wünsche, wenn ich es wünsche, ohne enervierende Fragen zu stellen. Man sollte meinen, dass das eine ausgezeichnete Charaktereigenschaft bei einer Ehefrau wäre. Ja, das könnte mir durchaus gefallen.“ Er runzelte die Stirn. „Dennoch wäre ich bereit, ein gewisses Maß an Gehorsam für das äußere Erscheinungsbild zu opfern. Sie sollte auf jeden Fall hübsch sein, eine hässliche Frau würde ich nicht wollen. Und sie sollte selbstverständlich aus guter Familie kommen und eine ansehnliche Mitgift besitzen.“

„Nichts von alledem ist von wahrer Bedeutung, wenn man sich für eine Frau entscheidet, mit der man den Rest seines Lebens zu verbringen gedenkt“, bemerkte Helmsley beinahe hochmütig. Dann grinste er. „Zugegeben, gutes Aussehen und all das andere sind natürlich nicht zu verachten.“

„Immerhin hat man auch eheliche Pflichten zu erfüllen.“ Warton nippte nachdenklich an seinem Brandy. „Wenngleich ein ansehnliches Vermögen ein nicht ganz so hübsches Gesicht oder eine unvorteilhafte Figur sicherlich reizvoller machen kann.“ Helmsley sah ihn zweifelnd an. „Ich hätte es kaum für möglich gehalten, aber du bist heute Abend noch zynischer als sonst.“

„Das liegt an der Jahreszeit. All dieser Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, die Gören singen auf den Straßen, diese besinnliche Hochstimmung macht einem das Leben zur Hölle.“ Warton schauderte. „Das widerspricht einfach meinem Charakter.“ Das war gelogen und jeder im Raum  einschließlich Warton  wusste das. Aber er liebte es nun einmal, die Rolle des abgestumpften Zynikers zu spielen. Und wer wollte ihm das verwehren? Unter den langjährigen Freunden herrschte stilles Einvernehmen darüber, dass niemandem seine Illusionen über sich selbst genommen werden durften. Nur im äußersten Notfall. Rein äußerlich betrachtet bildeten die Männer ein seltsames Grüppchen. Zwar waren sie sich ähnlich, was gesellschaftliche Position und Alter betraf; doch waren ihre Persönlichkeiten so verschieden, als stammten sie aus unterschiedlichen Zivilisationen. Warton mit seinen dunklen, attraktiven Gesichtszügen und seinem grüblerischen Wesen stand in direktem Gegensatz zu Cavendishs jungenhaft gutem Aussehen und seinem Talent, sich Ärger einzuhandeln. Helmsley war der Optimist unter ihnen, für ihn ging nichts über einen guten Witz oder eine gute Wette  oder ein gutes Geschäft. Was Oliver selbst anging, so war er sich nicht ganz sicher, wie er sich beschreiben würde. Außer, dass er auf merkwürdige Art und Weise jeweils einige Charakterzüge jedes seiner Freunde in sich zu vereinen glaubte  im Guten wie im Schlechten. Die Männer waren zusammen zur Schule gegangen, doch echte Freunde waren sie erst vor einigen Jahren geworden, als sie mehr und mehr dieselben Gentlemens Clubs und gesellschaftlichen Ereignisse besuchten. Olivers Freundschaft mit Helmsley hatte damit begonnen, dass er ebenso überschwänglich wie vergeblich Helmsleys jüngerer Schwester den Hof gemacht hatte. Wie eine solch enge und unerschütterliche Freundschaft zwischen den vier Männern hatte entstehen können, war nach wie vor nicht zufriedenstellend geklärt. Und es gab immer wieder Augenblicke, in denen nichts als Ehrlichkeit unter ihnen half. Es hatte eine Reihe von Anlässen über die Jahre gegeben, die die Gruppe gezwungen hatten einem ihrer Mitglieder  meist Cavendish  zu seinem eigenen Besten unangenehme Wahrheiten über sich selbst vor Augen zu halten. In der Regel ging es dabei um das schöne Geschlecht, einen Hang zur größtmöglichen Blamage und große Mengen Alkohol. Im Augenblick fragte sich Oliver, ob dies nicht  ganz im Sinne der Jahreszeit, die doch ein gewisses Maß an Ehrlichkeit zu lodern schien  einer jener Anlässe war. „Du, Jonathon Effington, Lord Helmsley, Erbe des Duke of Roxborough“  Oliver zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn  „bist ein netter Mann.“

„Die Frauen mögen dich“, fügte Cavendish hinzu. „Ja, ich weiß. Es läuft alles recht zufriedenstellend, wie ich finde.“ Helmsley grinste. „Was spricht dagegen, nett zu sein?“

„Zum einen lässt es jeden anderen Mann im Vergleich schlecht aussehen. Und darüber hinaus“, Wartons Augen verengten sich, „treibt es den Rest von uns in den Wahnsinn.“ Helmsley lachte. „Sei nicht albern.“ Oliver beugte sich vor. „Ist dir schon einmal aufgefallen, dass die jungen Damen, mit denen du eine Liaison oder eine Liebelei hattest, dir hinterher niemals böse sind?“

„Aber natürlich nicht. Warum sollten …“ Jonathon stockte. „Worauf willst du hinaus?“ Oliver senkte die Stimme bedeutungsvoll. „Hast du jemals eine Frau so wütend gemacht, dass sie dir eine Vase an den Kopf geworfen hat?“

„Oder dir eine Ohrfeige gegeben hat?“, fragte Warton. „So fest sie kann?“

„Oder deine Kleider ins Feuer geworfen hat, sodass du mit nichts außer einem dünnen Damenmorgenrock am Leib zu deiner diskret wartenden Kutsche schleichen musstest?“, fragte Cavendish. Alle Augen und die dazugehörigen hochgezogenen Brauen wandten sich ruckartig ihm zu. „Na gut, das ist dann wohl nur mir passiert“, brummelte Cavendish. „Wie dem auch sei, Helmsley, du verstehst, worum es geht, oder nicht?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ich betrachte mich als Gentleman“, entgegnete Helmsley entschieden. „Und ja, ich bin offenbar nett. Daran kann ich nichts Schlimmes finden.“

„Außer dem Opfer, das man bringen muss, um nett zu sein.“ Warton nippte mit weiser Miene an seinem Brandy. „Opfer?“ Helmsleys Stirn kräuselte sich misstrauisch. „Was für ein Opfer?“

„Die Leidenschaft.“ Warton klang selbstgefällig. Helmsley schnaubte. „Unsinn, ich …“

„In keiner deiner Beziehungen lag echte Leidenschaft, alter Junge“, stellte Oliver fest. „Also, über die offensichtliche Art von Leidenschaft hinaus.“

„Das ist doch lächerlich.“ Entrüstung schwang in Helmsleys Stimme. „Ich habe ungeheure Leidenschaft erlebt. Ich verströme förmlich Leidenschaft. Und es gab nie Klagen über mangelnde Leidenschaft.“ Er stürzte den restlichen Brandy hinunter. „Mangel an Leidenschaft, ha!“

„Nicht diese Art von Leidenschaft“, wandte Oliver ein. „Wir sprechen von der Leidenschaft der Seele. Des Herzens.“ Warton nickte. „Liebe, wenn man so will.“ Cavendish erhob sein Glas. „Liebe.“

„Liebe, Jonathon.“ Oliver beäugte ihn. „Oder Leidenschaft. Wie auch immer du es nennen willst: Du verlierst nie die Kontrolle. Bist nie wahrhaftig berührt. Und genau das ist der Grund, warum du und die jeweilige Dame, die deine Aufmerksamkeit für eine Weile erregt hat, danach wieder eurer Wege gehen könnt. Ohne gegenseitige Schuldzuweisungen.“

„Oder Beteuerungen unsterblicher Liebe.“

„Oder gar Drohungen …“

„Oder Familienmitglieder, die schwören, dich bis ans Ende der Welt zu verfolgen und dich wie einen Truthahn zu stopfen, solltest du nur eine falsche …“ Cavendish zog den Kopf ein. „Betrifft das wieder nur mich?“ Warton musterte seinen Freund gleichermaßen mit Ehrfurcht und Ungläubigkeit. „Man fragt sich, wo du die Zeit hernimmst.“ Cavendish grinste frech. „So viel Zeit muss sein.“

„Das ist überhaupt nicht lustig. Ich bin so leidenschaftlich wie ihr alle, wahrscheinlich sogar noch mehr. Ich lasse einfach nur einen Großteil meiner Leidenschaft in meine Prosa fließen.“ Oliver verbiss sich ein Grinsen. Helmsley hielt sich für den nächsten Charles Dickens, doch bislang hatte er noch keine einzige Zeile veröffentlicht. Was in vielerlei Hinsicht für seine Integrität sprach, denn Helmsleys Patenonkel war ein hochangesehener Verleger und seine Mutter verfasste erfolgreiche Abenteuer- und Liebesromane. Es wäre sicher ein Leichtes für ihn gewesen, eine Veröffentlichung zu erreichen. Doch er zog es vor, seine Versuche unter falschem Namen einzusenden. Er wollte durch die Qualität seines Schreibens Erfolg haben, nicht durch seine familiären Verbindungen. So blieb seine Integrität intakt, sein Stolz allerdings litt empfindlich. „Vielleicht“  Helmsley betrachtete seine Freunde nachdenklich  „war es nicht mein Mangel an Leidenschaft, der diese Vorwürfe gegen mich erregte, sondern meine Fähigkeiten und, wenn ich das so sagen darf, mein Erfolg im Umgang mit dem schönen Geschlecht.“ Oliver und Warton tauschten Blicke, Cavendish schnaubte verächtlich. „Nur, weil du noch niemals in einen Skand…“

„Das werde ich auch niemals.“ Helmsley stand auf und verbeugte sich mit viel Pathos vor den anderen. „Ich bin ein echter Gentleman. In Verbindung mit meinem Charme und meinem angeborenen Einfühlungsvermögen in das Wesen der Frau, ist das der wahre Grund, warum die Damen im Falle einer einvernehmlichen Trennung von Anschuldigungen, Beteuerungen und“  er warf Cavendish einen mitleidigen Blick zu  „Gewaltandrohungen absehen. Was die Frage nach der idealen Braut betrifft, werde ich mich keinesfalls dafür entschuldigen, genau zu wissen, was ich mir wünsche; und ebenso unfehlbar die fragliche Lady umgehend zu meiner Frau zu machen, sollte ich sie tatsächlich finden. Darüber hinaus gebe ich gerne zu, dass dieses Wissen mich mit tiefer Befriedigung erfüllt, wie auch die Tatsache“  er grinste triumphierend  „dass es euch in den Wahnsinn treibt.“

„Eines Tages, mein Guter, wird diese Zuversicht dein Untergang sein“, verkündete Warton mit unheilschwangerer Stimme. Es war nicht so, dass Helmsley sich unbedingt besser benahm als seine Freunde; er war einfach noch nie in eine Situation geraten, aus der er sich nicht hätte herausreden können. Dazu kam noch die ärgerliche Neigung von Frauen, ihm auf der Stelle zu vergeben, egal welche Verfehlung er sich hatte zuschulden kommen lassen  einfach nur, weil er so verflucht nett war. Und nicht zuletzt hatte er bislang auch noch das erforderliche Quäntchen Glück gehabt, sodass sein Ruf, wenn schon nicht vollkommen untadelig, so doch höchst respektabel geblieben war. „Nimm zum Beispiel das Rendezvous, das du jedes Jahr während des Weihnachtsballs deiner Familie hast.“ Warton musterte Helmsley neugierig. „Machst du dir keine Sorgen, jemand könnte einmal ungebeten das kleine Stelldichein stören?“ Helmsley dachte kurz nach und zuckte dann die Achseln. „Nein.“ Jeder der Freunde wusste, dass Helmsley eine Art Weihnachtstradition pflegte: ein vertrauliches Treffen mit der Frau, die es ihm in diesem speziellen Jahr angetan hatte, und zwar in der Bibliothek von Effington House während des Weihnachtsballs. Helmsley behauptete beharrlich, diese Begegnungen seien immer recht harmlos und bestünden lediglich aus Unterhaltung, Champagner und vielleicht einer Umarmung und dem einen oder anderen Kuss. Nichts, so versicherte er, was einen echten Skandal verursachen könnte; keine Schändung von Jungfrauen, kein Wälzen auf dem Läufer vor dem Kamin. Doch wurden diese Behauptungen mit einem deutlichen Zwinkern im Auge vorgebracht; und so sehr sich Helmsley auch seines ehrbaren Charakters und seiner Stellung als wahrer Gentleman rühmte, niemand  außer den beteiligten Damen  war sich so ganz sicher, was genau jeden Heiligabend in der Bibliothek geschah. Jonathon Effington, Marquess of Helmsley Erbe des Duke of Roxborough, war noch niemals ertappt worden. Das machte seine Freunde ebenfalls verrückt. „Rein aus Neugier, wenn es gestattet ist“, begann Cavendish beiläufig, „wer ist denn die Auserwählte dieses Jahr?“

„Genau, Helmsley, raus damit“, ließ sich auch Warton vernehmen. „Wer ist die Glückliche?“

„Ich kann nicht fassen, dass ihr so etwas fragt. Ein Gentleman würde niemals den Namen einer Lady unter solchen Umständen preisgeben.“ In gespieltem Kummer schüttelte Helmsley den Kopf. „Außerdem“  ein ganz und gar unvornehmes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus  „ist es noch über eine Woche bis zum Ball.“ Oliver kicherte. „Übersetzt heißt das, es gibt im Moment noch keine Auserwählte.“

„Aber es wird eine geben, alter Freund.“ Helmsley schwieg kurz. „Möchte vielleicht jemand eine kleine Wette abschließen?“ Oliver schüttelte den Kopf „Nein.“

„Genauso gut könnten wir unser Geld aus dem Fenster werfen“, fügte Warton trocken hinzu. „Dein Selbstvertrauen hast du jedenfalls noch.“ Helmsley lachte. „Und in diesem Sinne wünsche ich euch allen einen schönen Abend. Weihnachten rückt schnell heran und ich habe noch eine Menge zu erledigen.“

„Geh schon“, winkte Warton ab. „Und nimm deine widerlich gute Laune mit.“ Wieder musste Helmsley lachen. Die Freunde verabschiedeten sich und kurze Zeit später war er weg, nur noch der Nachhall eines gepfiffenen Weihnachtsliedes hing in der Luft. „Ich frage mich allerdings tatsächlich“, begann Warton, während er Helmsleys Gestalt gedankenvoll nachsah. „Was genau würde passieren, falls Helmsley wirklich eine Frau fände, die seine Anforderungen erfüllt?“

„Eine Frau mit Temperament, die seinen Verstand herausfordert“, fiel Oliver ein. „Ich wage zu behaupten, dass eine solche Frau jede Menge anderer Eigenschaften aufzuweisen hätte, die Helmsley nicht ganz so bezaubernd fände.“

„Meiner Erfahrung nach neigen temperamentvolle Frauen zu Dickköpfigkeit und Beharrlichkeit. Und sind nicht unbedingt besorgt um Anstand und Sittlichkeit. Nicht im Entferntesten die Art von Frau, die sich zur Duchess eignet. Natürlich könnte es durchaus sein, dass er so etwas zu schätzen weiß.“ Cavendish dachte einen Augenblick nach. „Oder“, er grinste, „es würde ihn in den Wahnsinn treiben.“ Ein köstlicher Gedanke. Lange Zeit schwieg das Trio. „Eigentlich ist es wirklich schade …“, ergriff Warton das Wort. „Genau das dachte ich auch gerade“, sagte Oliver langsam. Wartons Stirn zog sich in Falten. „Mir fällt leider niemand ein.“

„Niemand, dessen Bekanntschaft er nicht bereits gemacht hätte.“ Oliver schüttelte den Kopf. „Es müsste also jemand sein, den er noch nie zu Gesicht bekam.“

„Das wäre das Mindeste, was wir für ihn tun könnten …“

„Im Namen der Freundschaft und im Sinne des bevorstehenden Festes der Liebe …“

„Was?“ Cavendish klang durch und durch verwirrt. „Was ist das Mindeste, was wir tun können?“

„Na, Helmsley genau das geben, was er sich wünscht.“ Oliver grinste. „Die Frau seiner Träume.“

„Eine brillante Idee.“ Warton seufzte resigniert. „Eine Schande, dass wir nichts tun können.“

„Ich hätte da eine Cousine, die jeden Moment aus Italien eintreffen müsste“, überlegte Oliver. „Eine Cousine?“ Wartons Miene hellte sich auf. „Ist sie nach Helmsleys Geschmack?“

„Ich habe keine Ahnung.“ Oliver dachte nach. „Meine Mutter korrespondiert regelmäßig mit ihr, doch wir haben sie seit Jahren nicht gesehen. Meiner Erinnerung nach war sie etwas stämmig, mit Sommersprossen, roten Haaren, eher still. Kein besonders hübsches Kind, doch von durchaus angenehmem Wesen, soweit ich mich erinnere.“

„Vielleicht hat sie sich verändert?“, fragte Cavendish hoffnungsvoll. „Vielleicht. Sie ist inzwischen fünfundzwanzig …“

„Und noch nicht verheiratet?“, erkundigte sich Cavendish. „Nein. Ihres Vaters Missfallen darüber ist übrigens auch das einzige Thema, welches Mutter öfter einmal in ihren Briefen erwähnte.“

„Nicht verheiratet, mit fünfundzwanzig Jahren?“ Cavendish verzog den Mund. „Das ist ein schlechtes Zeichen.“

„Ich bezweifle, dass sie unseren Zwecken dienlich wäre.“ Oliver zuckte mit den Schultern. Fionas Brief mit der Ankündigung ihres Eintreffens war knapp gewesen und hatte keinerlei Aufschluss über den Charakter der jungen Dame gegeben. Oder warum sie nach beinahe zehn Jahren beschlossen hatte, nach England zurückzukehren. Ihr Vater war allerdings vor einigen Monaten gestorben und möglicherweise wollte sie deshalb heimkehren. „Außerdem wäre ich doch etwas zögerlich, ein Mitglied der Familie für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen.“

„Wie schade. Es wäre mir ein großes Vergnügen, Helmsley wenigstens einmal den Kopf verlieren zu sehen – wegen einer Frau, die genau so ist, wie er sie sich angeblich wünscht. Es wäre das ideale Weihnachtsgeschenk.“ Langsam breitete sich ein Grinsen auf Wartons Gesicht aus. „Und es würde ihn wahnsinnig machen.“

Erstes Kapitel

Sechs Tage später …

„Was soll ich nur tun, Oliver?“ Miss Fiona Fairchild lief unruhig im Salon ihres Cousins auf und ab, ohne sich weiter um seinen amüsierten, oder vielleicht auch ratlosen, Gesichtsausdruck zu kümmern. Fiona und ihre Schwestern waren vor weniger als einer Stunde in Begleitung der Contessa Orsetti eingetroffen, die sich großmütig anerboten hatte, die jungen Damen auf der Reise aus Italien zu begleiten. Sie wollte ohnehin nach England reisen und beteuerte, es bereite ihr keinerlei Umstände. Tante Edwina hatte das Grüppchen mit einer Begeisterung begrüßt, die Fionas Herz erwärmt und sie mit beträchtlicher Erleichterung erfüllt hatte. Zum einen war Tante Edwina dankenswerterweise ganz anders als die herrische und anmaßende Contessa. Zum anderen hatten ihre Tante und ihr Cousin kaum Zeit gehabt, sich auf ihren Besuch vorzubereiten, und es waren doch mehr als ein Dutzend Jahre seit ihrer letzten Begegnung vergangen. Nachdem die Contessa ihren Abschied genommen hatte, wurden die jüngeren Mädchen auf ihre Zimmer geschickt, um sich einzurichten. Fiona hatte es vorgezogen, im Salon auf die Rückkehr ihres Cousins Oliver zu warten. Seine Begrüßung war ebenso warm wie die seiner Mutter gewesen, doch Fiona hatte keine Zeit für Höflichkeiten. In Wahrheit hatte sie überhaupt keine Zeit zu verlieren. Sie befand sich in einer höchst kritischen Notlage und Oliver war vielleicht ihre letzte Rettung. „Ich weigere mich, einen Mann zu heiraten, den ich noch niemals gesehen habe. Und dann auch noch einen Amerikaner. Er würde vermutlich in seinem Heimatland leben wollen und ich habe schon zu viele Jahre außerhalb Englands verbracht. Hier ist mein Zuhause und ich habe es mehr vermisst, als ich sagen kann.“ Oliver lehnte sich leger an den Kamin und musterte sie eingehend. „Aber du hast nicht grundsätzlich etwas gegen die Ehe einzuwenden?“

„Natürlich nicht. Ich wünsche mir sogar zu heiraten. Was sollte ich denn sonst tun? Ich bin eine recht gute Partie, weißt du.“ Sie wandte sich ihm zu und zählte die Punkte an ihren Fingern auf. „Ich stamme aus guter Familie. Ich kann einen Haushalt führen. Ich bin eine hervorragende Gastgeberin. Ich spreche drei Sprachen fließend und einige weitere hinlänglich. Und der Blick in den Spiegel verrät mir, wie es auch schon diverse Verehrer getan haben, dass ich auch noch hübsch bin.“

„Du bist nicht mehr so … rundlich und sommersprossig, wie du als Kind warst“, murmelte Oliver. „Du hast dich gut entwickelt. Ziemlich gut sogar.“

„Überraschenderweise.“ Sie grinste zufrieden, als sei sie in der Tat froh darüber, wie sie sich entwickelt hatte. „Danke, Cousin.“ Dann verschwand ihr Lächeln abrupt wieder. „Was soll ich nur tun?“ Oliver zog die Augenbrauen zusammen. „Ich kann nicht glauben, dass Onkel Alfred dich in eine solche Lage gebracht hat.“

„Unglücklicherweise glaubte er, das Beste für mich zu tun. Jahrelang ermunterte er mich immer wieder, mir doch einen Ehemann zu suchen. Und dann wurde er krank.“

„Ich gehe davon aus, dass es Angebote gab?“ Olivers Blick wanderte anerkennend über seine Cousine, die sich ihrer Reize durchaus bewusst zu sein schien. Ihre Figur war nicht mehr stämmig, sondern wohlgeformt und reizvoll üppig; das Haar war von einem hellen, beinahe orangeroten Ton zu einem satten Mahagoni gedunkelt; intelligente grüne Augen, die in den Winkeln leicht nach oben geneigt waren; und ein Porzellanteint, der lediglich von einem Häufchen ärgerlicher Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken getrübt war, den Männer aber merkwürdigerweise bezaubernd zu finden schienen. Fiona Fairchild war eine echte Schönheit geworden und sie wusste es auch. War sie nicht schon mit Renaissance-Gemälden verglichen worden? Dennoch, sie hätte ebenso gut hässlich wie die Nacht sein können, es half alles nichts. „Ja, selbstverständlich.“ Sie winkte ab. „Abgesehen von den bereits erwähnten Attributen bin ich auch Erbin eines bedeutenden Vermögens. Zumindest war ich das. Als Vater klar wurde, dass er sich nicht mehr erholen würde …“ Eine Welle der Traurigkeit schwappte über sie hinweg. Seit seinem Tod vor vier Monaten trauerte sie um ihren Vater und sie wusste, sie würde ihn bis ans Ende ihrer Tage vermissen. Doch im Moment hatte sie keine Zeit für Sentimentalitäten, sie musste sich aus der von ihm verursachten Zwangslage befreien. „Da nahm er die Dinge selbst in die Hand. Trotz seiner Ermahnungen glaubte Vater, es sei auch seine Schuld, dass ich noch ledig war. Das stimmte natürlich nicht. Ich traf nur einfach nie einen Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte.“ Sie zuckte die Achseln. „Nachdem meine Stiefmutter gestorben war, übernahm ich ihre Pflichten im Haushalt und auch die Rolle der Gastgeberin. Außerdem kümmerte ich mich um meine Stielschwestern.“

„Es sind drei an der Zahl, richtig? Und zwei davon sind Zwillinge?“ Fiona nickte. „Und ich könnte sie nicht inniger lieben, wären sie mein eigen Fleisch und Blut. Was meine Kalamität noch verschärft. Vater wusste genau, ginge es nur um mich selbst, würde ich niemals einen mir vollkommen fremden Mann heiraten.“

„Was würdest du dann mit deinem Leben anfangen?“, fragte Oliver sanft. „Als Gouvernante kann ich mir dich nur schwer vorstellen.“

„Allerdings nicht.“ Sie zog die Nase kraus. „Auch nicht als Gesellschaftsdame oder dergleichen. Ich würde wahrscheinlich genau dasselbe tun, was ich jetzt getan habe.“

„Dich auf Gnade und Ungnade deinen nächsten lebenden Verwandten ausliefern?“ Er grinste. „Allerdings.“ Sie schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln. „Du und meine liebe Tante Edwina, ihr würdet mich niemals verlassen und auf die Straße setzen. Dennoch kann ich  oder besser: können wir  nicht ewig eure Gastfreundschaft strapazieren.“

„Doch, das könnt ihr sehr gerne. Ich wage zu behaupten, dass meine Mutter außer sich vor Glück ist, vier junge Damen unter ihren Fittichen zu haben. Sie hat immer beklagt, keine eigenen Töchter zu haben und nur einen einzigen Sohn; der darüber hinaus immer noch nicht seine Pflicht erfüllt und ihr eine Schwiegertochter ins Haus gebracht hat.“ Fiona lachte. „Das schien mir tatsächlich eine beständige Sorge in ihren Briefen zu sein.“ Sie wurde wieder ernst und schüttelte den Kopf. „Wie dem auch sei, wir können nicht den Rest unseres Lebens hier verbringen … als die armen Verwandten.“

„O doch, das könnt ihr“, widersprach Oliver mit Bestimmtheit. „Für mich bist du die Schwester, die ich nie hatte.“

„Oliver …“ Er hielt die Hand hoch. „Nichtsdestoweniger kann ich gut verstehen, dass du so nicht leben möchtest. Als arme Verwandte. Mutter und ich würden euch selbstredend niemals als solche betrachten.“ Oliver kniff die Augenbrauen zusammen. „Lass uns sehen, ob ich das alles bisher richtig verstanden habe. Onkel Alfred hat den Großteil seines Vermögens dir vermacht und zwar überwiegend in Form einer Mitgift. Zudem wurden auch beträchtliche Summen als Mitgiften für jede deiner Stiefschwestern beiseitegelegt.“ Fiona nickte. Oliver sah sie zweifelnd an. „Er hat euch nichts hinterlassen, um euren Lebensunterhalt zu bestreiten? Um einen Haushalt zu führen?“

„Eine minimale Summe wurde für Haushaltsausgaben bereitgestellt, das meiste davon wird von seinem Anwalt verwaltet. Es reicht gerade, um die Ausgaben zu bestreiten, bis mein“  das Wort blieb ihr beinahe im Halse stecken  „Zukünftiger aus Amerika eintreffen wird. Vater befürchtete, würde er mir eine allzu große Summe zur Verfügung stellen, fände ich einen Weg, dieser von ihm arrangierten Heirat zu entkommen. Womit er natürlich absolut recht hatte.“ Sie nahm wieder ihre Wanderung durch den Salon auf. „Als ich von den Bedingungen des Testaments erfuhr, sammelte ich alles zusammen, was ich besaß, um unsere Reise hierher zu bezahlen. Ich kann dir versichern, ab jetzt werde ich immer ein kleines Polster unter meiner Matratze versteckt halten, nur für den Fall.“

„Für den Fall, dass du wieder einmal aus einem fremden Land fliehen musst, um einer unerwünschten Heirat zu entkommen?“ Olivers Stimme war ernst, aber seine Augen zwinkerten amüsiert. Sie überging seine Belustigung. „Ganz genau. Apropos.“ Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sagte betont beiläufig: „Ich sollte vielleicht erwähnen, dass möglicherweise noch nicht alle Rechnungen vollständig bezahlt wurden und vielleicht ein oder zwei Gläubiger sich die Mühe machen werden, uns zu folgen …“ Oliver zog eine Augenbraue hoch. „Den ganzen weiten Weg von Florenz?“ Sie winkte ab. „Unsere Ausgaben könnten Vaters Erwartungen ein klein wenig überschritten haben. Ehrlich, Oliver, du musst mich nicht so ansehen. Der Tod ist eine kostspielige Angelegenheit. Trauerkleidung für vier junge Damen ist nicht gerade billig …“ Er runzelte die Stirn. „Eure Kleider scheinen mir nicht eben passend für trauernde Töchter.“

„Das ist ebenfalls Vaters Werk. Er bestimmte, dass wir nicht länger als drei Monate Trauer tragen sollten, da er Schwarz an jungen Frauen nicht attraktiv fand. Ich gehe davon aus, dass ich meinen künftigen“  wieder kräuselte sie die Nase  „Ehemann nicht wie eine zerzauste Krähe empfangen sollte. Wie überaus rücksichtsvoll von ihm.“ Sie blickte Oliver kummervoll an. „Ich sehe furchtbar aus in Schwarz.“

„Das bezweifle ich“, murmelte er. „Wie dem auch sei, du machst dir keine Vorstellung, was wir für Ausgaben hatten“, fuhr sie fort. „Wie viele Menschen wochen- und monatelang nach Vaters Tod zu uns kamen, um uns ihr Beileid auszusprechen. Und alle erwarteten Bewirtung. Vater zu Grabe zu tragen war ziemlich kostspielig.“

„Ich hatte ja keine Ahnung.“

„Nein, wie solltest du auch“, seufzte Fiona. Olivers Vater war gestorben, als er noch ein kleiner Junge war. Schon der bloße Gedanke, jemand könnte seine Finanzen kontrollieren, war ihm vollkommen fremd  sei es nun jemand aus dieser Welt oder aus dem Jenseits. Und warum sollte das auch jemand tun? Er war ein Mann und hielt sein Schicksal selbst in der Hand. Fiona war gern eine Frau und glaubte sich durchaus versiert in weiblichen Künsten und Tüchtigkeiten. Dennoch, in Augenblicken wie diesem war es doch überaus enttäuschend, nicht ähnliche Macht in dieser Welt zu besitzen wie ein Mann. Und das, wo ihr eigenes Land von einer Frau regiert wurde. „Es steht alles hier drin.“ Sie trat zu ihrer Reisetasche auf dem Tisch und nahm eine Kopie des Testaments ihres Vaters heraus. „All die unschönen Einzelheiten.“ Sie reichte Oliver das Papier. „Vaters Anwalt in Florenz sagt, man könne nichts dagegen unternehmen. Und die beiden anderen, die ich konsultierte, stimmen ihm zu. Zwar gibt es keinen bestimmten Termin, aber ich denke doch, es wäre am besten, mich mit einem anderen Mann zu verloben, bevor mein Zukünftiger  ich habe leider seinen Namen vergessen  aus Amerika eintrifft.“

„Amerika? Er ist also nicht in Italien?“

„Nein.“ Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. Nach ihrer Ankunft hatte sie sich nicht die Zeit genommen, sich frisch zu machen. Zweifellos wirkte sie momentan etwas derangiert, was eigentlich nicht ihrer Gewohnheit entsprach; doch im Moment war es kaum von Bedeutung. „Vielleicht habe ich das alles nicht vernünftig erzählt. Es ist ein wenig kompliziert.“

„Vielleicht“, meinte Oliver trocken. „Also gut.“ Sie sammelte sich einen Augenblick. „Als Vater bewusst wurde, dass er sterben müsste, änderte er sein Testament. Das Vermögen wurde auf vier Mitgiften aufgeteilt, wovon meine etwas größer ist, um bis zur Eheschließung meiner Schwestern für sie sorgen zu können. Wir alle erhalten das Geld erst bei meiner Verheiratung. Selbst wenn Genevieve, Arabella und Sophia heiraten wollten  alle sind im passenden Alter dazu, obwohl Belle und Sophie erst siebzehn sind, was ich persönlich für viel zu jung halte, außerdem sind sie ein wenig flatterhaft …“

„Was ist dann?“

„Dann …“ Sie stockte. Dieser Teil war besonders bestürzend und immer noch schwer zu glauben. „Selbst wenn meine Schwestern heiraten, werden sie ihre Mitgift erst erhalten, wenn ich heirate. Ihre Zukunft hängt voll und ganz von meinem Verhalten ab.“

„Kann dein Vater so etwas bestimmen?“ Oliver warf einen flüchtigen Blick auf das Papier in seinen Händen. „Ist das legal, meine ich? Dich zur Heirat zu zwingen?“

„Mein Vater war ein kluger Mann mit einem bis dato unbekannten diabolischen Zug.“ Sie verengte die Augen. „Er zwingt mich zu gar nichts; ich habe die freie Wahl. Wenn ich mein Erbe möchte und meine Schwestern gut verheiraten will, werde ich selbst heiraten müssen. Bis ich das tue, sei es nun in einem Monat oder in zehn Jahren, bleibt das Geld fest angelegt auf einem Treuhandkonto, verwaltet von seinen Londoner Anwälten.“

„Wenn du also nicht heiratest, bekommen deine Schwestern ebenfalls keine Mitgift.“, schloss Oliver. „Ganz genau.“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Dein Vater war wirklich entschlossen?“

„O ja, das war er.“

„Und wie passt dieser Amerikaner ins Bild?“ Er ging zum Schreibtisch, breitete das Testament vor sich aus und starrte auf die Buchstaben. Fiona folgte ihm. „Vielleicht weißt du das nicht mehr, aber bevor wir nach Florenz zogen, lebten wir fast vier Jahre in Paris. Zusätzlich zu seinen diplomatischen Pflichten für die Königin verfügte mein Vater über eine ganze Reihe von Investoren und Geschäftspartnern in aller Welt. Der Vater von Wieheißternoch  dessen Name mir ebenfalls entfallen ist  war auch darunter. Letztes Jahr kam er nach Italien und er und Vater erneuerten ihre Bekanntschaft.“ Sie linste über Olivers Schulter auf das Papier. „Ich wäre nicht im Mindesten überrascht, wenn die beiden genau damals diesen Plan ausgeheckt hätten, um ihre Familien durch eine Heirat zu verschmelzen.“ Oliver überflog den Text. „Warte mal. Ich finde zwar die Stelle, an der du aufgefordert wirst, einen geeigneten Gentleman von anständigem Charakter und finanziellen Mitteln zu heiraten. Aber hier steht nichts davon, dass es unbedingt dieser Wieheißternoch sein muss.“

„Das ist mir auch bereits aufgefallen und genau das könnte mein Schlupfloch sein.“ Sie sandte ein stilles Stoßgebet um Vergebung an den Himmel und ihren Vater, obwohl sie sich angesichts seiner letzten Tat auf Erden nicht ganz sicher war, ob sie ihr Gebet in die richtige Richtung schickte. „Offensichtlich war Vater schon zu krank, um zu bemerken, dass das ein recht kapitaler Formfehler in seinem großen Plan war. Und genau an dieser Stelle trittst du auf den Plan.“ Oliver zog eine Augenbraue hoch. „Ich?“

„Na ja.“ Sie suchte nach den passenden Worten. So brillant ihr diese Idee auch anfangs vorgekommen war, im Moment schien sie ihr nichts als albern. Beherzt holte sie Luft. „Du musst mir einen Ehemann suchen.“ Oliver schreckte hoch und starrte sie an, als hätte sie plötzlich zwei Köpfe. „Was soll das heißen, einen Ehemann?“

„Du weißt schon, einen Ehemann. Du musst doch wissen, was ein Ehemann ist. Immerhin weichst du diesem Schicksal schon lang genug erfolgreich aus, um zu wissen, worum es geht.“ Sie wedelte ungeduldig mit der Hand. „Ein Gentleman mit anständigem Charakter und so weiter und so fort. Am besten jemand, der nicht schon in den letzten Zügen liegt. Mir wäre am liebsten ein gut aussehender, freundlicher Mann  Sinn für Humor wäre auch nicht zu verachten , aber der wichtigste Wesenszug wäre willig, denn ich brauche ihn so schnell wie möglich. Sobald Wieheißternoch in Florenz eintrifft, wird sein grässlicher Vater ihm mitteilen, dass ich geflohen bin, und er wird sich an meine Fersen heften.“ Oliver starrte sie weiterhin an, als würden ihre beiden Kopie jetzt auch noch Speichel absondern. „Hast du je die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Wieheißternoch dich nicht heiraten will?“

„Mich nicht heiraten?“ Sie schnaubte. „Sei nicht albern.“ Wenig damenhaft ließ sie sich in den nächstbesten Sessel fallen. Sie fühlte sich einfach im Moment nicht besonders damenhaft. „Ehrlich Oliver, genug Männer wollten mich schon allein wegen meines Aussehens heiraten. Diese amerikanische Kreatur hat den zusätzlichen Anreiz eines eindrucksvollen Vermögens plus die posthume Zustimmung meines Vaters. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich nicht heiraten will. Vor allem, wenn er auch nur im Entferntesten seinem Vater ähnelt. Klein, rundlich, spärliches Haar und ein berechnendes Wesen. Er sah mich an wie eine Zuchtstute, die er zu erwerben gedachte. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sein Sohn besser ist.“ Sie sah Oliver an. „Und hör schon auf, mich so anzustarren, das ist höchst befremdlich.“

„Du bist einfach überhaupt nicht mehr so wie früher.“ Oliver schüttelte den Kopf. „Ich hatte dich immer schüchtern und zurückhaltend in Erinnerung.“

„Als Kind war ich das auch. Man ändert sich über die Jahre, Cousin. Du hast dich doch auch verändert, oder?“

„O ja. Ich klettere nur noch selten auf Bäume und ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt mit Zinnsoldaten gespielt habe.“ Er lächelte, dann wurde er wieder ernst. „Wenn dieser Amerikaner dir hierher folgt, was dann? Er kann dich sicherlich nicht zwingen, ihn zu heiraten.“

„O doch, dass kann er.“ Sie sprang auf und schritt den Raum ab. „Ich habe ein sehr klares Bild von mir, Oliver.“ Er kicherte unwillkürlich. „Das ist mir auch schon aufgefallen.“

„Und zwar von meinen Fehlern ebenso wie meinen Vorzügen. Und lass dich von meinem Äußeren nicht täuschen, ich bin nicht annähernd so perfekt, wie ich aussehe. Ich habe zahllose schwerwiegende Laster.“ Sie schüttelte den Kopf. „Lieber Cousin, ich bin ein schwacher Mensch. Armut ist nicht nach meinem Geschmack und ich genieße es, Geld auszugeben. Wir sind uns bereits einig, dass ich keinerlei nützliche Fähigkeiten besitze, um meinen eigenen Weg zu gehen. Sollte mir keine vernünftige Lösung einfallen, werde ich mich gezwungen sehen, Mr Wieheißternoch zu heiraten. Um meiner Schwestern willen ebenso wie um meiner selbst willen.“ Sie blickte ihn an. „Denn die Mädchen wären ohne Geld auch nicht besonders glücklich.“

„Ohne Zweifel.“ Fiona kam zu ihm, nahm seine Hände in ihre und sah ihm in die Augen. „Wirst du mir helfen?“

„Einen Ehemann zu finden?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich dachte, du willst keinen wildfremden Mann heiraten.“

„Das will ich auch nicht. Aber wenn ich schon heiraten muss, und dem scheint so zu sein, dann sollte er lieber Engländer sein. Ich bin grundsätzlich ja nicht abgeneigt, mir einen Mann zu suchen. Komm schon, Cousin.“ Sie sah ihn aus großen Augen an und setzte den überzeugenden Tonfall ein, den sie schon effektvoll an anderen Gentlemen erprobt hatte. „Du musst doch Freunde haben, die auf der Suche nach einer Gattin sind?“

„Die meisten meiner Freunde tun ihr Bestes, um einer Ehe aus dem Weg zu gehen.“

„Aber du könntest doch sicher, ähm, sagen wir mal, eine Auswahl zusammenstellen, aus der ich einen aussuchen kann?“

„Eine Auswahl?“ Er lachte. „Wie bei Weihnachtsgebäck?“

„Das wäre ideal, ja. Ein Sortiment passender Partien, ein Aufgebot brauchbarer Kandidaten.“ Sie zwang sich, etwas stockend zu sprechen. „Bitte, Oliver.“

„Ich weiß nicht …“

„Ich warne dich, ich gebe nicht auf. Entweder hilfst du mir, einen geeigneten Ehemann zu finden oder“  sie ließ die Hände sinken, trat zurück und reckte die Schultern  „ich werde mir selbst einen suchen. Und da sowohl mein als auch dein Vater bereits verblichen ist, bist du als Earl of Norcroft jetzt das Oberhaupt der Familie. Demzufolge …“

„Demzufolge?“, wiederholte er langsam, mit einem Hauch von Beklemmung in der Miene. „Demzufolge würdest du, als Familienoberhaupt, einen öffentlichen Skandal zu vermeiden suchen, denke ich doch. Leider kann ich nicht dafür garantieren, dass meine Suche nach einem geeigneten Bewerber unbedingt diskret sein wird.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich denke sogar, die beste Art, meine Suche zu beginnen, wären Direktheit und Ehrlichkeit. Eine Anzeige in der Times wäre zum Beispiel dienlich. Etwas im Sinne von: ,Attraktive Erbin sucht passenden Ehemann. Kandidaten müssen von hohem Stand und willens zur sofortigen Eheschließung sein.

„Das würdest du nicht tun.“ Entsetzt starrte er sie an. „Und ob ich das tun würde.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich bin eine verzweifelte Frau, Oliver. Verzweifelte Frauen müssen zu verzweifelten Mitteln greifen.“

„Aber ich sagte doch, deine Schwestern und du seid hier willkommen.“

„Und ich sagte, ich will keine arme Verwandte sein.“ Ihre Lippen bildeten nur noch einen schmalen Strich. „Also?“

„Du lieber Himmel, bist du störrisch. Ich kann nicht fassen …“ Er hielt inne und kniff die Augen zusammen. „Und beharrlich bist du auch.“

„Ich weiß eben, was ich will.“

„Und Temperament.“ Ein träges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Du hast viel Temperament.“ Sie schnaufte ungeduldig. „Ich weiß nicht, was das mit der ganzen Sache zu tun haben soll.“

„Du, meine liebe Cousine, wärest eine Herausforderung für jeden Mann.“ Sein Lächeln verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Das will ich wohl meinen.“ Einen Moment lang betrachtete er sie schweigend. Fiona hielt den Atem an. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, mit einer Zeitungsannonce zu drohen, und sie war sich nicht ganz sicher, ob sie dazu wirklich fähig wäre. Dennoch, verzweifelt war sie in der Tat. „Helmsley“, platzte Oliver plötzlich heraus. „Was?“

„Der Marquess of Helmsley. Jonathon Effington.“

„Jonathon Effington?“ Ihr Herz geriet kurz aus dem Rhythmus. „Er ist also noch nicht verheiratet?“ Oliver lachte. „Nein, gewiss nicht. Aber er möchte gern.“

„Wirklich?“ Sie zwang sich zu einem lockeren Tonfall. „Wie … ideal.“

„Ideal? Ich würde sagen, Helmsley ist alles andere als …“ Er stockte und musterte sie. „Warum?“ Unschuldig riss sie die Augen auf. „Warum was?“

„Warum hältst du ausgerechnet Helmsley für ideal? Kennst du ihn etwa?“

„Nein, natürlich nicht. Ich habe noch keine zwei Worte mit dem Mann gesprochen.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe ihn allerdings einmal gesehen, bevor meine Familie London verließ. Ach, wie lange mag das her sein? Neun Jahre vielleicht?“ Am kommenden Heiligabend wären es auf den Tag genau neun Jahre. „Er gefiel mir rein äußerlich, mehr nicht. Wenn er sich nicht grundlegend verändert hat, dürfte er nicht unansehnlich sein. Und wenn ich schon jemanden so überstürzt heiraten muss, wie es meine Situation erfordert, schadet es sicher nichts, wenn er mir wenigstens äußerlich gefällt.“ Oliver betrachtete sie prüfend. „Ich weiß nicht, ob ich dir glauben soll.“

„Aber es stimmt, ich mochte sein Aussehen.“ Konnte dieser Mann denn einer Frau nicht gefallen? Wenn ihre Erinnerung sie nicht trog, war Jonathon Effington groß, hatte bestrickend breite Schultern, dunkelbraunes Haar, und er tanzte wie ein junger Gott. Außerdem verfügte er über ein zauberhaftes Grübchen, wenn er lachte, und Augen, in denen der Schalk blitzte. Nicht, dass sie je mit ihm getanzt oder ihm in die Augen geblickt hätte und auch sein Lachen hatte sie nur aus der Ferne vernommen. „Das meinte ich nicht und das weißt du ganz genau.“

„Wie dem auch sei, er ist eine gute Partie, selbst Vater hätte seinen Segen dazu gegeben. Er wäre ein mehr als standesgemäßer Gatte.“

„Und du bist bei Weitem nicht die einzige junge Dame in London, die dieser Ansicht ist. Helmsley ist einer der begehrtesten Junggesellen im ganzen Land. Eines Tages wird er der Duke of Roxborough sein und außerdem ist er noch unverschämt reich.“

„Ich sagte doch, er sei fabelhaft.“ Sie strahlte. „Jetzt müssen wir ihn nur noch davon überzeugen, dass auch ich für ihn ideal bin.“

„Und hast du dafür auch schon einen Plan?“

„Keineswegs.“ Sie seufzte. „Einige Gentlemen wollten mich zur Heirat überreden, doch nie kam ich in die Verlegenheit, einen von ihnen dazu verlocken zu müssen. Es gibt natürlich immer die Möglichkeit, ihn in eine kompromittierende Situation zu bringen, sodass er gezwungen wäre, mich zu heiraten, um meine Ehre zu retten und all das.“ Oliver zog eine Augenbraue hoch. „Das würdest du tun?“

„Leider fürchte ich, dass ich es nicht tun würde. Nicht, dass ich dazu nicht verzweifelt genug wäre, aber selbst ich habe gewisse Moralvorstellungen. Außerdem muss ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen und würde daher den Groll, den eine erzwungene Heirat sicherlich hervorriefe, lieber vermeiden.“

„Sehr gut.“

„Freut mich, dass du mir zustimmst. Obwohl es die Sache wesentlich vereinfachen würde, wenn ich die Sorte Frau wäre, die einen Mann in eine ungewollte Ehe zwingt. Oliver.“ Sie beugte sich zu ihm. „Seid ihr beide nicht befreundet? Kannst du dir nicht etwas ausdenken?“

„Etwas, was einen alten Freund dazu verleiten würde, eine völlig fremde Frau zu ehelichen? Das ist doch eine recht gewaltige Herausforderung.“ Oliver grinste. „Andererseits könnte die Herausforderung eben der Schlüssel sein.“

„Was meinst du damit?“

„Helmsley kommt aus einer Familie von äußerst willensstarken Frauen.“ Er kicherte in sich hinein. „Vertrau mir in diesem Punkt einfach; es gab einmal eine Zeit, in der ich mir einbildete, in seine jüngere Schwester verliebt zu sein. Jedenfalls war er früher sehr strikt, was seine Erwartungen an eine Ehefrau anging. Still, zurückhaltend, wohlerzogen, du verstehst.“

„O je“, murmelte sie. „In den letzten Jahren jedoch wurde ihm allmählich bewusst, dass dieser spezielle Frauentypus ihn zu Tode langweilen würde. Er will eine Frau mit Verstand, die weiß, was sie will. Er wünscht sich eine Braut, die ihm etwas mehr“  Oliver musste grinsen  „Herausforderung bietet.“

„Ich weiß nicht, ob ich schon einmal absichtlich versucht habe, eine Herausforderung darzustellen. Aber ich könnte es ja mal probieren“, ergänzte sie rasch. „Und ich weiß unleugbar, was ich will.“

„Eine Frau, die lieber durch halb Europa flieht, statt den Mann zu heiraten, den ihr Vater für sie vorsah, könnte durchaus die richtige für Helmsley sein.“

„Ausgezeichnet.“ Jonathon Effington war genau die Art von Mann, von dem sie immer geträumt hatte. Ja, wenn sie es auch niemals laut ausgesprochen und in Wahrheit den Gedanken bereits vor Jahren aus ihrem Kopf verbannt hatte, war doch Jonathon Effington eben der Mann, den sie immer hatte heiraten wollen. Auch wenn er nicht einmal wusste, dass sie existierte. Mit Olivers Hilfe würde sich das bald ändern. „Was machen wir nun? Stellst du uns einander vor oder …“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Ich habe übrigens vor, ehrlich zu ihm zu sein. Die Ehe ist für immer und ich möchte solch eine Unternehmung nicht mit einem Betrug beginnen.“

„Ehrlichkeit ist in der Tat die beste Strategie.“ Oliver nickte. „Alles auf den Tisch.“

„Na ja, vielleicht nicht ganz alles“, murmelte sie. Die Erinnerung an einige Vorfälle, die gefährlich dicht an einen Skandal gekommen waren, stieg in ihr auf. „Nicht alles?“ Oliver sah sie erstaunt an. „Man kann nicht gleichzeitig eine Herausforderung und vollkommen ehrlich sein“, teilte sie ihm würdevoll mit. „Ich möchte nicht, dass er all meine … Geheimnisse kennt. Nicht, dass ich etwas Spezielles zu verbergen hätte“, fügte sie rasch hinzu. „Obwohl man vermutlich …“

„Genug, genug.“ Oliver schauderte. „Ich habe kein Verlangen, mehr zu erfahren als unbedingt notwendig. Mir reicht deine Zusicherung, dass deine Geheimnisse nichts beinhalten, was deinen Ruf als anständige junge Dame …“

„Oliver!“ Sie funkelte ihn entrüstet an. „Wie kannst du so etwas denken?“

„Vergebung, Cousine.“ Er hatte immerhin den Anstand, betreten dreinzublicken. „Wir haben einander sehr lange nicht gesehen und kennen uns in Wahrheit kaum. Du hast das Auftreten und das Erscheinungsbild einer Frau, die, also …“ Er schüttelte zerknirscht den Kopf. „Ich möchte stark bezweifeln, dass es viele Männer gibt, die nicht für dich einen Skandal riskieren würden.“

„Ich nehme das als Kompliment.“ Sie lächelte, dann wurde sie wieder ernst. „Einschließlich Jonathon Effington?“

„Ganz besonders Jonathon Effington. Du bringst genau das mit, was er sich an einer Ehefrau zu wünschen behauptet. Ich tue ihm damit einen Gefallen.“ Wieder musste er lachen. „O, das wird ein großer Spaß.“

„Spaß ist das Letzte, was ich brauchen kann, Oliver.“ Fiona seufzte. „Ich brauche einen Ehemann.“ Und Jonathon Effington war nicht nur genau, was sie brauchte; er war genau, was sie wollte.