Leseprobe Die Gefallenen von St. Katharine’s

Kapitel 1

St Katharine’s, East London, Donnerstag, 21. Januar 1813

Paul Gibson taumelte die dunkle, enge Gasse entlang. Die Kälte ließ die Haut in seinem Gesicht rau und seine Finger taub werden. Es gab Zeiten, in denen er diese Gassen nur in euphorischen, grell leuchtenden Traumzuständen, wie Opium sie einem bescherte, durchwanderte. Jedoch nicht an diesem Abend. An diesem Abend spannte Gibson den Kiefer an und versuchte, sich auf das Klackern seines Holzbeins auf dem eisigen Kopfsteinpflaster zu konzentrieren, auf das dünne Geschrei eines Säuglings, das der Nachtwind herantrug – alles war ihm recht, wenn es seine Gedanken nur von diesem ständigen, gierigen Bedürfnis ablenkte, das seine Gestalt mit Schweiß überzog und ihn mit Geistbildern dessen, was sein könnte, quälte.

Als er die Frau zum ersten Mal bemerkte, dachte er noch, es wäre eine Einbildung, ein Trugbild aus grauer Wolle und zerwühltem Samt, die neben dem Eingang zu einem übelriechenden Durchgang lagen. Aber als er näherkam, erkannte er blasses Fleisch und dunkel glänzendes Blut, und er wusste, sie war nur zu real.

Er blieb abrupt stehen; die feuchte, salzige Luft der Themse, die in der Nähe floss, reizte ihn in der Kehle. Cat’s Hole wurde diese schmale Straße genannt; sie war eine Zuflucht für Diebe, Prostituierte und alle verzweifelten, besitzlosen Engländer und Auswärtigen. Er spürte seinen schnellen Herzschlag. Auf dem schmalen schwarzen Streifen Himmel, den er zwischen den Dächern oben erkennen konnte, funkelten die Sterne wie Glasscherben. Er zögerte, möglicherweise länger als nötig. Aber er war Arzt, sein Leben war der Fürsorge für das Leben anderer Menschen gewidmet.

Er zwang sich vorwärts.

Sie lag halb zusammengerollt auf der Seite, eine Hand ausgestreckt, die Handinnenfläche zeigte nach oben. Ihre Augen waren geschlossen. Er kauerte sich ungeschickt neben ihr hinunter und suchte mit den Fingerspitzen an ihrem dünnen Hals nach dem Puls. Ihr Gesicht war feingeschnitten, und wildes, langes feuerrotes Haar rahmte es ein. Ihre dunklen, dichten Wimpern lagen auf der blassen Haut ihrer weichen Wangen, und die Lippen waren von der Kälte blauviolett verfärbt. Oder aber vom Tod.

Bei seiner Berührung schlug sie jedoch flatternd die Lider auf, ihre Brust erbebte in einem Seufzer und einem geflüsterten Gebet. »Sainte Marie, Mère de Dieu, priez pour nous pauvres pêcheurs …«

»Alles ist gut; ich bin hier, um Ihnen zu helfen«, sagte er leise und fragte sich zugleich, ob sie ihn überhaupt verstand. »Wo haben Sie Schmerzen?«

Er sah jetzt, dass die gesamte Seite ihres Kopfes von Blut verdunkelt war. Mit aufgerissenen, angstvollen Augen sah sie ihn an. Dann glitt ihr Blick zur Seite, wo sich neben ihm der Durchgang öffnete. »Damion …« Sie hob die Hand, um nach seinem Ärmel zu greifen. »Geht es ihm gut?«

Gibson folgte ihrem Blick. Der Körper des Mannes war schwerer zu erkennen; eine dunkle, regungslose Masse im Schatten. Gibson schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«

Sie verkrampfte die Hand um seinen Arm. »Gehen Sie zu ihm. Bitte.«

Gibson nickte, rappelte sich auf und schwankte kurz, als er das Gewicht auf sein Holzbein legte und ihn die Phantomschmerzen einer vor langer Zeit eingebüßten Gliedmaße durchschnitten.

Der Durchgang stank nach Verfall, Exkrementen und dem vertrauten Kupfergeruch vergossenen Blutes. Der Mann lag neben einem Haufen aus zerbrochenen Weinfässern und Kisten auf dem Boden. Nur schwerlich konnte Gibson die einstmals schneeweißen Falten einer Krawatte und den seidigen Schimmer einer feinen Weste ausmachen, die jetzt nur noch eine blutdurchtränkte, grässlich zerrissene Masse war.

»Sagen Sie es mir«, flüsterte die Frau. »Sagen Sie mir, dass er lebt.«

Aber Gibson konnte den Leichnam zu seinen Füßen nur anstarren. Die blicklosen Augen des Mannes standen weit offen, sein hübsches, junges Gesicht war blass, die ausgestreckten Arme steif in der Kälte. Jemand hatte den Brustkorb des Leichnams mit einer ungebremsten Wildheit zerhackt, die von Raserei gepaart mit Zorn erzählte. Wo das Herz sein sollte, klaffte eine Höhle.

Blutig und leer.

Kapitel 2

Freitag, 22. Januar

Der Traum begann wie so oft mit dem warmen, golden leuchtenden Sonnenlicht und dem Gelächter von Kindern, das eine leichte Brise zusammen mit dem Duft nach Orangenblüten hereintrug.

Sebastian St Cyr Viscount Devlin bewegte sich ruhelos im Schlaf, weil er nur zu gut wusste, was folgen würde. Das Donnern von Pferdehufen, ein gebrüllter Befehl, das zischende Geräusch, mit dem Schwerter in tödlicher Absicht aus gut geölten Scheiden gezogen wurden. Er stöhnte leise.

»Devlin?«

Das Gelächter schlug in Schreckensschreie um. In seiner Vision sah er wirbelnde Hufe, blanken Stahl und darauf das dunkle Blut Unschuldiger.

»Devlin

Er schlug die Augen auf, und seine Brust hob sich, als er mühsam einen tiefen Atemzug nahm. Er spürte, wie seine Frau mit sanften Fingerspitzen seine Lippen berührte. Dann erschien ihr Gesicht über ihm in der Dunkelheit, ihre Züge waren blass im Licht des noch brennenden Kaminfeuers in ihrem Schlafzimmer. »Es ist ein Traum«, flüsterte sie, »nur ein Traum.« Trotzdem erkannte er die Sorge, die sie die dunklen Brauen zusammenziehen ließ.

Einen Augenblick lang konnte er sie nur anschauen, verloren in der Vergangenheit. Dann schlang er die Arme um Hero und zog sie an sich, sodass sie ihm nicht mehr ins Antlitz blicken konnte. Es war nur ein Traum, ja. Aber es war ebenso sehr eine Erinnerung, die er niemals mit jemandem geteilt hatte.

»Habe ich dich geweckt?«, fragte er mit rauer Stimme. »Das tut mir leid.«

Sie schüttelte den Kopf und verlagerte auf der vergeblichen Suche nach einer angenehmen Position das Gewicht, denn sie war fast im neunten Monat schwanger mit seinem Kind. »Dein Sohn tritt mich.«

Lächelnd legte er die Hand auf den festen Ansatz ihres Bauchs und spürte eine deutliche Bewegung unter der Handfläche. »Wie ungezogen von ihr.«

»Ich glaube, langsam findet er es da drinnen zu eng.«

»Dafür gibt es eine Lösung.«

Sie lachte mit einem leisen, belegten Ton, der ohne Vorwarnung sein Herz berührte und dann sogleich umschlug. So sehr er sich danach sehnte, sein Kind im Arm zu halten, so sehr brachte der Gedanke an die bevorstehende Geburt eine Sorge mit sich, die fast schon Angst war. Er hatte einmal gelesen, dass mehr als eine von zehn Frauen bei der Geburt starben. Heros eigene Mutter hatte ein Ungeborenes nach dem anderen verloren, bevor sie beinahe selbst gestorben wäre.

Aber er hörte nichts von seiner eigenen Furcht in Heros Stimme, als sie sagte: »Nicht mehr lange.«

Er spürte, wie das Ungeborene erneut trat und dann aufhörte, als Hero es sich neben Sebastian gemütlich machte. Er streifte mit den Lippen ihre Schläfe und murmelte: »Versuch zu schlafen.«

»Schlaf du«, sagte sie immer noch lächelnd.

Er beobachtete, wie ihre Lider zufielen und ihr Atem sich verlangsamte. Doch die Anspannung, die ihn aufwühlte, blieb, und er fragte sich, ob es das bald in die Welt kommende Menschenleben war, das sein Unterbewusstes in eine Zeit zurück hatte driften lassen, die er so verzweifelt gern vergessen würde. Ein kalter Wind bewegte die schweren Samtvorhänge an den Fenstern und ließ irgendwo in der Dunkelheit einen nicht befestigten Laden klappern. In manchen Nächten schienen die hohen, kahlen Gebirge und die alten, aus Stein erbauten Dörfer Spaniens und Portugals eine ganze Lebensspanne von dem Londoner Stadthaus entfernt, das um ihn herum im Schlaf lag. Aber er wusste, dass es nicht so war.

Er lag noch wach, als eine dringende Nachricht von Paul Gibson mit der Bitte um Sebastians Hilfe in der Brook Street eintraf.

***

Die Frau lag in einem schmalen Bett im vorderen Zimmer von Gibsons Praxis am Tower Hill. Es war eine kleine, schlichte Kammer, die nur von einer Kerze und dem großen, flackernden Feuer im Kamin beleuchtet wurde. Obwohl ihre schmale Gestalt mit mehreren Decken zugedeckt war, bebte sie. Unter den Decken und der dicken Bandage, die eine Seite ihres Kopfs bedeckte, konnte Sebastian nur wenig von ihrem Gesicht sehen. Was er davon jedoch erkennen konnte, sah beunruhigend blass und blutleer aus.

»Wird sie überleben?«, fragte er ruhig und blieb auf der Türschwelle stehen.

Gibson stand neben dem Bett, den Blick wie Sebastian auf die bewusstlose Frau vor sich gerichtet. »Das ist zu diesem Zeitpunkt schwer zu sagen. Sie könnte Hirnblutungen haben. Falls ja …« Seine Stimme erlosch.

Sebastian richtete den Blick auf das schmale Gesicht seines Freundes. Er sah ungewöhnlich ausgemergelt aus, selbst für Gibsons Verhältnisse. Die Wangen waren hohl und unrasiert, die grünen Augen eingesunken und blutunterlaufen, und seine dünne Gestalt wirkte beinahe ausgezehrt. Obwohl er erst Anfang dreißig war, zeigten sich an den Schläfen bereits graue Streifen in seinem dunklen Haar.

Die beiden Männer stammten aus unterschiedlichen Welten. Der eine war der Sohn eines armen irischen Katholiken, der andere der Erbe des mächtigen Earl of Hendon. Dennoch waren sie alte Freunde. Einst hatten sie unter den Farben des Königs in den Gebirgen Italiens bis zu den fiebergeplagten Sümpfen der westindischen Inseln und den steinigen Hochlanden Iberiens gekämpft. Als Regimentsarzt hatte Gibson die Geheimnisse von Leben und Tod auf eine so unmittelbare Art gelernt, wie seine bürgerlichen Kollegen es nur selten konnten. Als eine französische Kanonenkugel ihm einen Unterschenkel weggerissen und ihm unmenschliche, chronische Schmerzen beschert hatte, war er hierher gekommen, nach London, um seine Anatomie-Kenntnisse in den Krankenhäusern von St Thomas’s und St Bartholomew’s zu lehren. Und um im Schatten des Towers von London seine kleine Praxis zu eröffnen.

»Und wenn sie Hirnblutungen hat?«, fragte Sebastian.

»Dann stirbt sie.«

»Woher kannst du das wissen?«

»Das wird die Zeit bringen. Außerdem besteht das Risiko einer Lungenentzündung …« Gibson schüttelte den Kopf. »Ihre Körpertemperatur war gefährlich niedrig, als ich sie gefunden habe. Ich habe eingewickelte, heiße Backsteine um sie herum gepackt, aber viel mehr kann ich derzeit nicht für sie tun.«

»Was hat sie dir zu dem Überfall sagen können?«

»Nichts, fürchte ich. Sie hat das Bewusstsein verloren, als sie erfahren hat, dass ihr Gefährte tot ist, und ist seitdem nicht wieder zu sich gekommen. Ich kenne nicht einmal ihren Namen.«

Sebastian betrachtete das blutbefleckte graue Ausgehkleid und den samtpaspelierten Spenzer über der Lehne eines Stuhls in der Nähe. Beide waren abgetragen, aber von den frischen Flecken abgesehen sauber und ordentlich. Das war keine einfache Frau von der Straße.

»Und der tote Mann? Was weißt du über ihn?«

»Er ist ein französischer Arzt namens Dr Damion Pelletan.«

»Ein Franzose?«

Gibson nickte. »Laut seinen Papieren hat er sich erst vor drei Wochen als Ausländer registrieren lassen.« Mit gespreizten Fingern strich er sein zerzaustes Haar aus dem Gesicht. »Die Minderbemittelten, die sich in St Katharine’s Beamte schimpfen, sind überzeugt, dass es die Tat von Straßenräubern war.«

»St Katharine’s ist ein gefährlicher Ort«, sagte Sebastian. »Insbesondere am Abend. Was zum Teufel hast du denn dort gemacht?«

Gibsons Blick wanderte in die Ferne. »Ich … Manchmal habe ich das Bedürfnis, einen Spaziergang zu machen, abends.«

Sebastian betrachtete das gerötete, halb abgewandte Gesicht seines Freundes und fragte sich, was um alles in der Welt einen einbeinigen irischen Chirurgen dazu bringen konnte, in einer der kältesten Nächte des ganzen Jahres in den Hintergassen von St Katharine’s spazieren zu gehen. »Du hast Glück, dass du nicht selbst Opfer dieser Straßenräuber geworden bist.«

»Straßenräuber haben hiermit gar nichts zu tun.«

Sebastian zog eine Augenbraue hoch. »Sicher?«

Gibson nickte in Richtung der Matrone mittleren Alters, die auf einem Stuhl mit Lamellenlehne neben dem Kamin döste. »Behalten Sie die Frau im Auge«, sagte er zu ihr. »Ich bin nicht lang weg.«

Zu Sebastian sagte er: »Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst.«

Kapitel 3

Am Ende des vom Frost braun verfärbten, ungepflegten Gartens, der sich hinter der Praxis erstreckte, stand ein niedriges steinernes Nebengebäude, in dem Gibson seine »offiziellen« Leichenschauen durchführte. Ebenso fanden dort aber auch seine heimlichen, illegalen Sektionen statt, die er an Leichen vornahm, welche Totenausgräber für ihn von den Friedhöfen der Stadt beschafften. Das eingeschossige Gebäude mit hoch sitzenden Fenstern, die Neugierige abhalten sollten, hatte einen Boden aus Steinfliesen, und darinnen war es bitterkalt. Im Zentrum stand eine Granitplatte mit strategisch angeordneten Rinnen und einem Ablauf am äußersten Ende.

Darauf lag der Leichnam eines noch vollständig bekleideten Mannes.

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, die Leichenschau vorzunehmen«, sagte Gibson und hängte die Lampe, die er mitgebracht hatte, an den Haken, der an einer Kette über dem Tisch baumelte.

Manchmal kam es Sebastian so vor, als ob jeder Selbstmord, jede aufgedunsene Wasserleiche aus der Themse, jeder verwesende Leichnam, der durch dieses Gebäude gewandert war, einen Geruch zurückgelassen hätte, der in die Wände eingesickert war – und als ob die verstummten Qual- und Verzweiflungsschreie der Toten noch immer widerhallten.

Er atmete tief ein, dann betrat er den Raum. »Wenn die Behörden von St Katharine’s überzeugt sind, dass er von gewöhnlichen Dieben ermordet worden ist, nimmt es mich wunder, dass sie einer Autopsie zugestimmt haben.«

»Man kann nicht direkt sagen, dass sie begeistert waren. Um Constable O’Keefe zu zitieren …« Gibson blies die Wangen auf, kniff die Augen zusammen und sprach mit nasalem Tonfall weiter: »›Wieso wolln Se sich diese Mühe antun? Jeder Narr kann doch sehn, was ihn das Leben gekostet hat.‹« Die Lampe schwang an ihrer Kette hin und her und warf grausige Schatten auf den Tisch und seinen gruseligen Besetzer. Gibson hielt die Lampe mit der Hand an. »Ich musste versprechen, dass ich der Gemeinde keine Rechnung für meine Dienste stelle. Und die Männer, die die Leiche hergebracht haben, habe ich selbst bezahlt.«

Sebastian betrachtete den schlanken, zierlich gebauten Mann auf der Granitplatte des Arztes. Er war noch jung, wahrscheinlich nicht älter als sechs-, vielleicht achtundzwanzig Jahre, hatte ein gefälliges, ebenmäßiges Antlitz mit einer hohen Stirn, die von weichen, goldenen Locken eingerahmt war. Seine Kleidung war von guter Qualität – besser als die der Frau und noch viel neuer, nach der aktuellen Pariser Mode geschnitten und kaum getragen. Doch die einst feine, seidene Weste und das Leinenhemd waren nun zerrissen und blutgetränkt. Der Brustkorb des Mannes war geöffnet worden und enthüllte eine klaffende Höhle.

»Hölle nochmal! Er sieht aus, als wäre er mit einer Axt attackiert worden.«

»Noch schlimmer«, sagte Gibson und schob sich die Hände unter die Achseln, um sie zu wärmen. »Sein Herz ist entfernt worden.«

Sebastian wandte den Blick auf das ernste Gesicht des Iren. »Bitte sag mir, dass er schon tot war, als man ihm das angetan hat.«

»Das weiß ich ehrlich noch nicht.«

Sebastian zwang sich, erneut auf den verstümmelten Torso zu blicken. »Besteht die Möglichkeit, dass es das Werk eines Studenten der Medizin sein könnte?«

»Meinst du das ernst? Selbst ein Metzger wäre feinfühliger vorgegangen. Wer auch immer das getan hat, hat ein königliches Gemetzel angerichtet.«

Sebastian sah dem toten Mann ins Gesicht. Er hatte große, weit auseinanderstehende Augen, eine vorspringende Nase und volle weiche, fast feminine Lippen. Selbst im Tode strahlten seine Züge eine Freundlichkeit und Güte aus, die das, was man ihm angetan hatte, nur umso grausiger wirken ließen.

»Du sagtest, er war Arzt?«

Gibson nickte. »Er wohnte im Gifford Arms in der York Street. Die Wachtmeister haben einen Gentleman aus dem Hotel aufgetrieben – einen Monsieur Vaundreuil –, der ihn identifiziert hat.«

»Aber die Frau konnte er nicht identifizieren?«

»Er sagte, er hätte sie noch nie gesehen. Er sagte auch, er hätte keine Ahnung, was Pelletan in St Katharine’s zu tun gehabt haben könnte.« Gibson rieb sich über den Nacken. »Ich sollte noch erwähnen, dass die Wachtmeister neben seinen Papieren auch eine Börse mit Banknoten und Silber gefunden haben.«

»Und trotzdem sind sie überzeugt, dass er Straßenräubern zum Opfer gefallen ist?«

»Die Theorie lautet, dass die Diebe gestört wurden.«

»Von dir?«

»Ich habe jedenfalls niemanden gesehen. Andererseits …«

»Was andererseits?«, fragte Sebastian.

Gibson errötete. »War ich sehr in Gedanken versunken.«

Sebastian sah, dass sein Freund erneut betont in eine andere Richtung blickte, schwieg jedoch.

Gibson sagte: »Wenn er Engländer wäre, wären die Umstände vielleicht ungewöhnlich genug, sodass die Beamten von St Katharine’s aktiv würden. Aber das ist er nicht, sondern Franzose – ein Ausländer –, und das macht es furchtbar simpel, den Mord einfach als Werk von Straßenräubern abzutun. Und zu vergessen.«

Sebastian senkte den Blick auf den blassen Leichnam auf der Platte zwischen ihnen. Aus einem Grund, den er nicht näher erklären konnte, rief die Situation ein schwaches, beunruhigendes Echo seines aufwühlenden Traums dieser Nacht und all der Erinnerungen, die er ausgelöst hatte, wach. Er widmete sich seit nunmehr zwei Jahren der Aufgabe, für Mordopfer, die sonst vergessen worden wären, Gerechtigkeit zu erlangen. Und nicht zum ersten Mal dämmerte ihm, dass jene Geschehnisse in Portugal, die zeitlich und räumlich so weit weg waren, mehr mit seiner Beschäftigung zu tun hatten, als er herausfinden wollte.

Er sagte: »Wo genau in Cat’s Hole waren sie?«

»Auf der Themseseite der Gasse gibt es einen schmalen Durchgang zwischen einer Küferei und einem Kerzendreher. Ich vermute, der Mann wurde auf der Straße angegriffen und dann in diesen Durchgang gezogen, bevor ihm das da angetan wurde.«

»Und die Frau?«

»Lag auf der Straße, direkt vor dem Durchgang.«

Sebastian nickte und wandte sich zur Tür. »Am besten schaue ich mir den Tatort an, bevor die Nachbarn alles zertrampeln.«

»Jetzt? Aber es ist mitten in der Nacht.«

Sebastian blieb stehen und sah zu ihm zurück. »Hältst du es etwa für dumm von mir, im Dunkeln allein in St Katharine’s herumzulaufen?«

Gibson schnaubte und griff nach der Laterne. »Hier. Nimm wenigstens die mit.«

»Danke, aber die brauche ich wirklich nicht.«

Gibson lachte erkennend auf und umfasste den Griff der Lampe fester. Sebastian war für seine Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, genauso bekannt wie für sein gutes Gehör. »Nein, wohl nicht. Aber Devlin … sei vorsichtig. Was auch immer dahintersteckt, ist übel. Sehr übel.«

***

Der alte Stadtteil St Katharine’s lag gleich östlich des Towers of London am Nordufer der Themse. Das Gewirr aus gewundenen Straßen, vollgestopften Wohnhäusern und dunklen Hinterhöfen war nach dem Krankenhaus in seinem Zentrum, St Katharine’s, benannt.

Obgleich es als Krankenhaus bezeichnet wurde, war St Katharine’s weniger eine medizinische Einrichtung als vielmehr ein wohltätiges Zentrum für die Armen. Als eine von Londons mittelalterlichen »Liberties« oder Freiungen war das Areal, das die alten klösterlichen Gebäude umgab, lange eine Zuflucht für ausländische Handwerker gewesen, die den dort gebotenen Schutz vor den mächtigen Innungen im Londoner Stadtkern suchten. Aber mit den flämischen Küfern, französischen Künstlern und deutschen Bierbrauern, die sich in dem Viertel angesiedelt hatten, waren auch Diebe und Huren, Bettler und Vagabunden gekommen. In dieser Gegend ging ein kluger Mann nicht mehr nach Einbruch der Dunkelheit vors Haus, und Sebastian fragte sich nun einmal mehr, was um Himmels willen Paul Gibson allein hier zu suchen gehabt hatte, in einer solch kalten Winternacht.

Oder was Damion Pelletan und seine unbekannte weibliche Begleitung hier getan hatten.

Sebastian ging die dunkle, schmale Gasse entlang, eine Hand an seiner doppelläufigen Pistole in seiner Manteltasche. In der eisigen Stille warfen seine Schritte ein hohles Echo. Seine Sinne waren alarmbereit auf den geringsten Hinweis einer Bewegung, eines Flüsterns oder eines Geräuschs ausgerichtet. Der Wind war verebbt, und vom Ufer her kroch mit der einsetzenden trügerischen Dämmerung zäher, undurchdringlicher Nebel herauf. Zu späterer Stunde würden sich die Straßen mit Straßenhändlern, Lehrlingen und Müllmännern füllen. Doch im Augenblick war alles noch ruhig.

Er fand den Durchgang leicht, gleich hinter der baufälligen, verrammelten Fassade einer Küferei. Wie nahezu an allen Straßen in St Katharine’s war es auch in Cat’s Hole zu eng für Fußgängerwege. Die schäbigen, dicht bewohnten Wohnhäuser und baufälligen Ladenlokale erhoben sich gleich über den abgenutzten, von Frost überzogenen Pflastersteinen der Straße.

Sebastian brauchte nur kurz, bis er das Blut am Rand des Durchgangs fand. War es das Blut der Frau oder das von Pelletan?, fragte er sich.

Er ging neben dem Blutfleck in die Hocke und betrachtete das Gewirr an schmutzigen Fußabdrücken und zerbrochenem Eis. Doch nach Gibson, den Wachtmeistern und den Männern, die geholfen hatten, Pelletan und seine verletzte Begleitung zu Gibsons Praxis zu tragen, waren sämtliche Spuren, die der Mörder vielleicht hinterlassen hatte, hoffnungslos zertrampelt und zerstört.

Beim Geräusch eines leisen Schnaubens riss er den Kopf hoch, und sein Blick traf die sanften Augen eines halbgroßen Schweines, das in einem Abfallhaufen in der Nähe herumgewühlt hatte. »Na«, sagte Sebastian, »hast du vielleicht irgendetwas beobachtet?«

Das Schwein grunzte erneut und tappte davon.

Sebastian rappelte sich bedächtig auf die Beine und kniff die Augen zusammen, um durch den dichter werdenden Nebel die leere Straße zu betrachten. Von hier aus konnte er die massiven, rußgeschwärzten Steinmauern des Tower am westlichen Ende der Straße dräuen sehen. In welche Richtung waren Pelletan und die unbekannte Frau unterwegs gewesen?, fragte er sich. Zu dem relativ offenen Platz, der die mittelalterliche Festung umgab? Oder hatten sie in Richtung Osten gewollt, noch tiefer in St Katharine’s Wirrwarr aus dunklen, gefährlichen Gassen und Hinterhöfen?

Er wandte sich wieder dem schmutzstarrenden Durchgang neben sich zu. Im Gegensatz zur Straße war er nicht gepflastert. Von dem dichten, eisüberzogenen Matsch unter den Sohlen seiner Hessischen Stiefel stieg der übelriechende Gestank nach Innereien, Dung und vergammelten Fischköpfen auf. Und trotz so vieler Füße, die alles zertrampelt hatten, konnte Sebastian den Abdruck ausmachen, den der Leichnam im Schatten eines Haufens aus zerbrochenen Kisten und Weinfässern hinterlassen hatte.

Er bückte sich und betrachtete die Stelle sorgfältig. Er bemerkte Blutflecken auf dem Holz einer Kiste, ein Stück zerrissenen, blutbefleckten Leinens, das in den Matsch getrampelt worden war, und noch mehr Fußabrücke, alle jedoch hoffnungslos verwischt. Dann dehnte er seine Suche aus und hielt Ausschau nach etwas, das einen Hinweis darauf geben könnte, wer Damion Pelletan ermordet hatte. Er suchte auch nach dem Herzen des Toten.

Das fand er jedoch nicht.

Frustriert wandte er den Blick wieder auf den Stapel blutbespritzter Kisten. Was für ein Mörder hackte sein Opfer mit einer Axt auf und stahl ihm das Herz?, fragte sich Sebastian. Ein Irrer? Das war die offensichtliche Antwort. Andererseits hatte Sebastian britische Soldaten – sogar Offiziere – gekannt, die lachend Erinnerungsstücke von ihren gefallenen Feinden mitnahmen, von abgetrennten Fingern bis hin zu Ohren. Letztendlich hatten die Briten und Franzosen den amerikanischen Ureinwohnern erst beigebracht, Skalps zu sammeln.

Hatten sie es damit zu tun? Mit einem halbverrückten Sammler von Trophäen? Das war wohl eine Möglichkeit. Aber ein Herz? Weshalb sollte ein Mörder das Herz seines Opfers stehlen? Das Herz war ein mächtiges Symbol für so viele Dinge: Liebe, Mut, Leben. War der Diebstahl des Herzens von Damion Pelletan symbolhaft? Oder war es etwas anderes, Dunkleres, etwas …

Böseres.

Und erneut hörte er das flüchtige und beunruhigende Wispern der Erinnerung.

Rasch richtete er sich wieder auf.

Er drehte sich bereits um und schickte sich an zu gehen, da sah er den klaren Abdruck eines Schuhs auf einer zerbrochenen Holzlatte, die halb in den Matsch getreten war. Es war kein vollständiger Fußabdruck, sondern nur der Absatz und ein Teil der Sohle. Der Träger des Schuhs war offensichtlich nach Damion Pelletans Tod hier entlang gekommen.

Sebastian bückte sich, um das Stück Holz aus dem Schlamm zu ziehen und achtete darauf, den verräterischen Umriss aus Matsch und Blut darauf nicht zu verwischen.

Nachdenklich betrachtete er den Abdruck. Es konnte natürlich auch sein, dass der Träger dieses Schuhs in den vergangenen paar Stunden durch diesen Durchgang gekommen war und nichts mit dem Mord zu tun hatte. Also begann Sebastian, erneut das Wirrwarr unterschiedlicher Schuhabdrücke im müllübersäten Matsch zu untersuchen.

Er brauchte eine Weile, fand aber schließlich eine Stelle, an der ein ähnlicher Abdruck deutlich vom Eindruck eines Holzbeins durchlöchert worden war. Wer auch immer diese Abdrücke hinterlassen hatte, war nach Pelletans Tod, aber vor Gibsons Erscheinen in diesem Durchgang gewesen.

Sebastian richtete den Blick wieder auf die Holzlatte in seiner Hand. Der Abdruck gab nicht sehr viel her – sicherlich nicht genug, um den Mörder identifizieren zu können. Aber er brachte Sebastian dazu, sämtliche Annahmen, die er über die Geschehnisse dieser Nacht gemacht hatte, erneut auf die Probe zu stellen, denn die gebogene Form und die modische Ausgestaltung des kleinen, schmalen Absatzes ließ keinen Zweifel zu: Es war der Abdruck eines Frauenschuhs.