Leseprobe Die Schwestern der Tuchfabrik

1

Berlin, Mai 1923

„Dann gehe ich jetzt packen“, verkündete Edith enthusiastisch. Wendig wie ein Wiesel stand sie auf und schob den Holzstuhl schwungvoll an den Tisch, obwohl die Mittagstafel noch nicht aufgehoben war. Mit einem schelmischen Grinsen, umrahmt von der neuen Frisur, einem frechen brünetten Bubikopf, lehnte sie sich vornüber und griff sich mit lang gestrecktem Arm einen Apfel aus der Obstschale. Dabei fiel ihre lange, mehrlagige Perlenkette mit dumpfem Klackern auf das frisch gestärkte Tischtuch, welches das Eichenholz bedeckte. Den empörten Blick ihrer nur zwei Jahre älteren Schwester Ursula erwiderte Edith dabei mit einem kecken Zwinkern.

„Bis später!“ Edith biss genüsslich in die goldgelbe Frucht. Gut gelaunt und sichtbar vor Selbstbewusstsein strotzend, verließ sie das Esszimmer.

„Papa …“, begehrte Ursula auf, die nicht hinnehmen wollte, dass sich die jüngere Schwester, neuerlich und ungestraft, wie eine Wilde aufführen durfte. Aber ihr Vater, der angesehene Mediziner Ziegler, zog nur müde die Augenbrauen hoch. Mit abwesendem Blick räusperte er sich, dann sah er auf seine goldene Taschenuhr.

„Das wird sich schon legen“, murmelte er mit Blick auf das Zifferblatt und schob seine Brille mit den kreisrunden Gläsern unnötigerweise auf der Nase zurecht. „Ich werde in der Praxis erwartet. Ihr entschuldigt mich …“ Er stand auf, ohne eine Antwort zu erwarten, strich mit der flachen Hand über seine Weste und zog das Jackett glatt. Dann verließ er ebenfalls den Raum.

Ursula schnaufte verärgert. Wie so oft in letzter Zeit war von ihrem Vater kein Beistand zu erwarten. Also wandte sie sich mit fragendem Blick an ihre Mutter. Doch auch Henriette Ziegler, eine schlanke Frau mit geradem Rücken und von strengem Wesen, schien heute noch weniger Interesse an einer Diskussion über das rebellische Verhalten ihrer Zweitgeborenen zu haben als sonst. Die Idee, dass Ediths Verhalten nur eine Laune wäre, der nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden durfte, weil sie bald vorüber wäre, hielt sich hartnäckig.

„Wenn der Sommer vorbei ist, wird sie die Flausen los sein. Komm, zeige mir lieber deine Handarbeit. Derlei Benehmen kannst du dir noch viel weniger leisten.“ Henriette stand auf und bedeutete Ursula, mit ihr zu den beiden Sesseln am großen Fenster hinüberzugehen und dort Platz zu nehmen.

Das Dienstmädchen brachte sogleich ein Tablett mit edlem Porzellangeschirr, dazu Milch, Zucker und Kaffee. Im Hause Ziegler wurde der Haushalt mit Sorgfalt geführt und so fehlte es auch jetzt an nichts. Darauf legte Henriette großen Wert, auch wenn sich die Haushaltsausgaben unerwartet rasch erhöht hatten.

Gehorsam setzte Ursula sich und reichte der Mutter ihr aktuelles Strickwerk, einen Handschuh aus feiner grauer Wolle. Während Henriette die Arbeit ihrer Tochter akribisch begutachtete, konnte Ursula nicht umhin, das Dienstmädchen Anna bei seiner Arbeit zu beobachten.

Anna war vierundzwanzig Jahre alt, wie sie wusste, und somit nur ein Jahr jünger als sie selbst. Doch es steckte so viel Anmut in diesem Wesen, dass Ursula sie bei jeder Gelegenheit mit heimlichen bewundernden Blicken bedachte. Annas Bewegungen waren flink, ihr Körperbau trotz des geringen Gewichts ansehnlich, das zusammengesteckte rabenschwarze Haar dick und glänzend. Annas Wangen leuchteten in einer natürlichen Röte und lenkten den Blick von ihren müden Augen ab. Sie stellte einfach alles dar, was Ursula nie würde sein können.

Selbst diesem einfachen Mädchen gegenüber schämte sie sich für ihr unzureichendes äußerliches Erscheinungsbild. Manchmal dachte Ursula, es wäre dienlicher gewesen, sich als Vierjährige im Winter einen Zeh abgefroren zu haben, als an Krupp zu erkranken. Ihre lästigen Defizite ließen sich dadurch zwar erklären, als Entschuldigung galten sie jedoch nicht.

Ihre Mutter ließ keinen Tag verstreichen, an dem sie nicht Anstoß an ihrer Tochter nahm. Unnötigerweise. Ursula wusste nur zu gut, dass sie viel zu hager war. Selbst wenn sie sich schminkte, stachen ihre schmale Nase und die durch den Überbiss hervorstehenden Zähne ins Auge. Ihr Gesicht war markant, wies einen hohen Wiedererkennungswert auf, allerdings nicht in der Art, wie es ihr lieb gewesen wäre. Auch ihr Haar wuchs viel zu dünn und aschfahl. Die zierlichen Schnecken, die sie täglich mit viel Mühe hineinflocht, baumelten wie blanker Hohn rechts und links an ihrem Kopf.

„Trenne ihn auf. Die Maschen sind noch nicht gleichmäßig genug.“ Henriette sprach leise, legte aber eine besondere Schärfe in ihre Worte, die Ursula zusammenzucken ließ. Sie gab ihrer Tochter das Strickzeug mit einem strengen Blick zurück.

„Bis zu eurer Rückkehr im September solltest du wenigstens ein einziges ordentliches Paar gestrickt haben.“

Ursula nickte tonlos und begann augenblicklich damit, die bis dahin so mühsam und in ihren Augen akkurat gestrickten Reihen aufzutrennen. Die Wolle hatte sich bereits an ihre neue Form gewöhnt und nun kringelte sich der schier endlose Faden in zartem Grau auf ihrem Schoß. Abwechselnd zog sie die Maschen auseinander und wickelte den Faden zurück aufs Knäuel.

Nachdem ihre Mutter die Kaffeezeit beendet hatte, begab sich auch Ursula in ihr Zimmer, um ihr Reisegepäck für die kommenden Wochen zusammenzulegen. Sie fügte sich, machte sich zeitgleich jedoch große Sorgen. Einem Mann zu gefallen und ihn zu heiraten, stellte sich in Abwesenheit als noch schwierigeres Unterfangen dar, als es ohnehin schon war.

Aber es war beschlossene Sache im Hause des Doktor Ziegler und Ursula wusste so gut wie ihre Schwester, dass die Entscheidungen ihres Vaters, wenn sie erst einmal gefällt und ausgesprochen waren, nicht zurückgenommen wurden. Die Töchter Ursula und Edith würden also über den Sommer in den Westen des Landes zu seinem entfernten Cousin reisen und einige Wochen in dessen Tuchfabrik arbeiten.

Natürlich würden die jungen Damen keine richtige Arbeit verrichten, allenfalls einfache Bürotätigkeiten in dessen Kontor erledigen. So viel wusste Ursula bereits. Es ging eher darum, die Töchter aus der Hauptstadt zu schaffen, bis die Unruhen in der Bevölkerung sich gelegt hatten und endlich eine stabile Regierung an der Macht war. Falls dies nicht gelang und Zieglers Finanzen nicht ausreichten, so musste mit vorausschauendem Blick in die Zukunft der Mädchen investiert werden.

Das alles hatte Ziegler seinen Töchtern gegenüber nicht erwähnt, aber Ursula wusste es, denn sie hatte einen Brief auf seinem Schreibtisch entdeckt und verbotenerweise gelesen. Selbstredend sollten sich die Töchter aus gutem Hause nicht um die Tuchmacherei scheren, sondern viel lieber etwas Landluft und den Sommer genießen. So hatte es Ziegler seinem Cousin mitgeteilt.

Ursula hatte nicht mit ihrer Schwester darüber gesprochen. Aber sie wusste, dass die Sorgen ihres Vaters berechtigt waren. Angesichts der politischen Lage und der jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen war es unmöglich abzusehen, ob und wie sich die junge Republik in einem halben Jahr präsentieren würde. Im Moment herrschten Sorge und Ungewissheit in der Hauptstadt und im nahen Umland.

Die ausbleibenden Bestrebungen Ediths, sich um eine gesicherte Zukunft zu bemühen, schmerzten Ursula. Noch hatten Zieglers, und vor allem die Patienten ihres Vaters, Vermögen. Doch wie sie bereits bei einigen Bekannten der Familie beobachtet hatte, konnte es sich innerhalb weniger Zeit in Luft auflösen. Diese Themen waren nicht für die Ohren der Medizinertöchter bestimmt, aber Ursula hatte die Nachrichten verfolgt und machte sich ihre Gedanken dazu.

Der Großteil der Berliner Arbeiter belagerte in Ermangelung einer Anstellung die Straßen. Die ehemaligen Munitionsfabriken fertigten nun Rohre oder Töpfe. Insgesamt war die Produktionskapazität auf einen Bruchteil zurückgefahren und ein Hauptteil der Belegschaft entlassen worden. Der Krieg war gerade erst vorbei und die junge, übergeschnappte Republik steckte bereits in einer tiefen Krise.

Henriette pflegte Gespräche, die in jene Richtung steuerten, sorgfältig im Keim zu ersticken. Also blieb Ursula mit ihren Gedanken allein und Edith amüsierte sich im Nachtleben, denn sie war hübsch, eine Spur zu vorlaut und fand immer jemanden, der Dollars in der Tasche hatte und sie einlud.

Ursula legte ein Kleidungsstück nach dem anderen auf ihr Bett und versuchte die trüben Gedanken zu verjagen. Es würde schon gutgehen, es musste einfach, und vielleicht spielte ihr die Zeit in die Karten. Sie würden den Sommer auf dem Land genießen und es sollte ihnen an nichts mangeln. Vielleicht begegnete sie dort sogar einem Gentleman, dem sie genügte und der sie heiratete.

Ziegler verbrachte immer häufiger Zeit in seiner Praxis im Erdgeschoss der Villa. So auch jetzt, außerhalb der Sprechzeiten. Er suchte die Ruhe und wollte nachdenken. Wenn er ehrlich war, in sich hineinhörte, konnte er eine gewisse Beunruhigung nicht leugnen. Sie saß versteckt hinter der sachlichen Miene eines Naturwissenschaftlers. Wann immer sie sich in den Vordergrund drängte, schluckte Ziegler sie hinunter. Aber auf diese Weise verschwand sie nicht. Sie lag ihm unhandlich wie ein Stein im Magen. Wie würde es in Zukunft weitergehen?

Seine Patienten, mittlerweile etwas weniger an der Zahl, sicherten ihm noch immer Beschäftigung und Einkünfte. Krank wurden die Menschen jederzeit, auch die reichen, unabhängig vom politischen Geschehen. Darauf konnte er sich verlassen. Doch die Sorgenfalten auf seiner Stirn waren in den letzten Monaten tiefer geworden. Einige Familien, die er über viele Jahre hinweg betreut hatte, steuerten in die Armut. Wenn sich nicht bald etwas tat, sah auch er schwarz.

Ziegler trommelte mit den Fingerkuppen auf seinem Schreibtisch herum. Deutschland brauchte eine harte, konsequente Führung. So ging es nicht weiter und er hoffte inständig auf baldige Änderung. Notfalls auch mit Gewalt. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Das Ende würde es zweifellos geben, da war er sich sicher. Deshalb sah er seine Töchter lieber weitab auf dem Land.

Ziegler nahm den Apfel, der seit gestern auf seinem Tisch lag, und ließ ihn immer wieder von einer Hand in die andere fallen. Er hatte Leopold Geldermann nur wenige Male in seinem Leben gesehen. Die Verwandtschaft bestand über mehrere Ecken und in den letzten Jahren hatten Ziegler und er nie viel miteinander zu tun gehabt. Zuletzt hatte er ihn und seine Frau Luise vor dem Krieg besucht. Zu Kindertagen hatten sich ihre Wege häufiger gekreuzt und so konnte Ziegler sich an illustre Erlebnisse aus ihrer Zeit als Knaben erinnern, die ihm an so manchen schweren Tagen ein heiteres Zucken um die Mundwinkel bescherten. Zudem war aus Leopold ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Er betrieb eine angesehene Tuchfabrik im Westen, nahe der Grenze zu Belgien. Weit fort, wo seine Töchter vermutlich am besten aufgehoben waren, wenn sich der politische Paukenschlag ereignete, auf den Ziegler hoffte. Danach, wenn Edith und Ursula zurückgekehrt wären, sähe die Zukunft wieder klarer aus. Sie alle würden zu einem normalen Leben zurückkehren. Es würden einige gesellschaftliche Empfänge folgen und dank ihrer Herkunft sollte es sich nicht problematisch gestalten, die Mädchen angemessen zu verheiraten.

Edith besaß eine besondere Schönheit und Ausstrahlung. Ursula glich ihr Defizit zumindest im Ansatz mit Fleiß und Gehorsam aus. Alles war nur eine Frage der Zeit und die verschaffte er ihnen bei Leopold Geldermann.

Ziegler nahm die Brille ab, ließ seinen Blick aus dem Fenster wandern und besah sich den prächtig grünenden Vorgarten. Er würde seine Töchter zweifelsohne vermissen, aber so war es besser. Seine kleine, aufmüpfige Edith hätte genug Zeit, sich endgültig ihrer Flausen zu entledigen und in angemessenem Sinne gehorsam zu werden. Nicht zu vergessen, sie mochten ihren Onkel Leopold, auch wenn sie ihn nur selten zu Gesicht bekommen hatten. An die früheren Reisen ins Rheinland erinnerte man sich in der Familie Ziegler noch heute gern.

Bruno Ziegler rieb sich nachdenklich den Nacken. Leopold hatte geschrieben, dass es an Rhein und Ruhr ebenfalls vereinzelt Zwischenfälle mit Franzosen und Belgiern gegeben hätte.

Die verdammten Gauner, hatte Leopold unlängst in einem seiner Briefe gewettert, drängen auf unerhörte Reparationszahlungen. In einem Brief zu Beginn des Jahres hatte Leopold aber auch geschildert, dass die Situation in der Tuchfabrik selbst wenig beeinträchtigt war. Die Maschinen liefen täglich und die Fabrik produzierte uneingeschränkt. Stoffe waren schließlich keine Waffen und wurden immer gebraucht. Leopold bezog sogar Rohstoffe aus Belgien. Diese Informationen waren es schließlich gewesen, die Ziegler in seiner Entscheidung bestärkt hatten. Im Rheinland schienen ihm die Tage trotz allem in ruhigen und geordneten Bahnen zu verlaufen. Dort gab es eben nicht jeden Morgen eine neue Hiobsbotschaft, schien die Inflation weniger Schaden anzurichten, gingen die Menschen nicht aufeinander los.

Hier bestand gewiss keine Gefahr für die Töchter. Leopold übertrieb sicherlich. Er hatte, soweit Ziegler sich erinnerte, schon immer einen Hang fürs Dramatische gehabt, aber selbst wenn er recht hatte, konnten seine Geschichten mit der Stimmung in Berlin nicht mithalten.

Nun ja, für den Ernstfall, falls die deutsche Wirtschaft tatsächlich in sich zusammenbrach, sollte es nicht schaden, wenn Ursula und Edith eine gewisse Berufserfahrung in ihren Lebensläufen vorweisen konnten ‒ wenn auch nur auf dem Papier. Diese wollte ihnen Leopold vorsorglich bescheinigen. Man kann nie wissen, welchen Bock die Herren der neuen Demokratie als Nächstes schießen, wenn sie noch dazu kommen, wiederholte er in Gedanken die Worte, die kürzlich einer seiner Patienten formuliert hatte. Ziegler nickte unwillkürlich. In letzter Zeit häuften sich zwar die Todesfälle, teils unter ungeklärten Umständen, aber an inkompetenten Nachrückern mangelte es nicht. Im Falle seines Ruins sollten seine Töchter zumindest theoretisch auf Berufserfahrung zurückgreifen können. Die Zahl der arbeitenden jungen Frauen, auch in besseren Kreisen, nahm zu seiner Besorgnis stetig zu. Edith und Ursula sollten nicht ins Abseits geraten.

Eine plötzliche Bewegung vor dem Haus störte Zieglers Gedanken und erregte seine Aufmerksamkeit. Beinahe hektisch stand er vom Schreibtisch auf, setzte noch schnell seine Brille auf die Nase und entdeckte eine junge Frau, die mit einem Bündel auf dem Arm den Weg zur Eingangstür entlangschlich. Sie schien nervös, unentschlossen, und blickte sich immer wieder um, als wollte sie vermeiden, gesehen zu werden. Mit schnellen Schritten lief Ziegler zur Tür. Als er sie öffnete, wollte die junge Frau sich gerade entfernen. Das Bündel aus Zeitungen noch immer an ihre Brust gepresst.

„Halt! Warten Sie!“

Die junge Frau blieb abrupt stehen und hob erschrocken den Blick. In ihren Augen flackerte Angst. Sie sah aus wie ein verängstigtes Reh, wagte aber nicht, sich weiter zu entfernen.

Ziegler blickte prüfend in ein schmutziges, tränenüberströmtes und verzweifeltes Gesicht. Die Frau war um einiges jünger als seine Töchter und er ahnte, was sich in ihrem Zeitungsbündel befand. Er zeigte mit dem Finger auf das emaillierte Praxisschild am Gemäuer.

„Sie brauchen einen Arzt. Kommen Sie herein.“ Er sprach nun etwas leiser, sanfter und hielt die Tür auf. Im Behandlungszimmer angekommen, zeigte er auf den Tisch und wartete, bis die Frau das kleine Bündel abgelegt hatte. Vorsichtig öffnete er die Zeitung und hob einen unbekleideten Säugling, ein Mädchen im Alter von vielleicht sechs oder sieben Monaten heraus. Beide, Mutter und Kind, waren erbärmlich anzusehen. Das Kind hatte erhöhte Temperatur, schien aber, bis auf sein geringes Gewicht und die Druckerschwärze auf der Haut, eine verhältnismäßig gute Konstitution zu haben. Die junge Frau wies eine deutliche Mangelernährung auf. Ebenfalls nicht ungewöhnlich. Sie schwieg und beobachtete jeden seiner Handgriffe, als er das Kind untersuchte.

„Sie sind die Mutter?“ Er hob den Blick.

Sie nickte bestätigend. Mit Sicherheit war sie nicht auf der Suche nach einem Arzt in dieser Gegend gewesen.

„Wie heißt sie?“ Ziegler gab der Frau den nackten Säugling zurück auf den Arm.

„Ruth.“ Mit kratziger Stimme brachte die Frau den Namen des Kindes über die Lippen.

„Sie hat leichtes Fieber.“

Die junge Frau nickte abwesend. Ziegler war sich sicher, dass sie ihr Kind jemandem vor die Tür hatte legen wollen. Sie wäre nicht die Erste gewesen, aber eine der Wenigen, die sich in diese Wohngegend gewagt hatten. Die meisten Kinder landeten bei den Bauern vor den Toren der Stadt.

Ziegler beobachtete die junge Frau. Es herrschte eine eigentümliche Stimmung zwischen ihnen. Was tat er hier? Sie hatte ihn um nichts gebeten, würde ihn nicht bezahlen. Verloren und nervös zitternd stand sie vor ihm, das kleine Wesen schützend im Arm. Er lief zum Waschbecken, wusch sich die Hände und ging hinüber an seinen Metallschrank. Dort holte er einige Leinentücher und Verbandrollen hervor und trat wieder an den Behandlungstisch zurück.

„Wie heißen Sie?“

Die junge Frau hüllte sich weiter in Schweigen und senkte den Blick. Er zuckte mit den Achseln und fragte nicht weiter.

„Na, ist schon gut. Hier.“ Er reichte ihr die Tücher. „Wickeln Sie die Kleine ein.“ Dann holte er eine Papiertüte mit Lindenblüten, für die ihn die Fremde genauso wenig bezahlen konnte wie für die Untersuchung und nahm auch den Apfel von seinem Schreibtisch.

„Kochen Sie Tee daraus. Er wird das Fieber senken. Und achten Sie auf ihre Ernährung.“ Er übergab der Frau den Apfel und die Teemischung, dann nickte er und signalisierte, dass es Zeit war, zu gehen.

Ziegler begleitete die Frau bis hinaus auf den Bürgersteig. Während er dort stand und ihr eine Weile nachschaute, wärmte ihm die Frühlingssonne angenehm das Gesicht. Wer wusste es schon, vielleicht schafften die beiden, Mutter und Tochter, es sogar bis über den Sommer. Dennoch – hoffentlich sprach sich seine Hilfsbereitschaft nicht unter ihresgleichen herum.

2

Pünktlich um eins sollte der Zug abfahren. Henriette Ziegler verabschiedete ihre beiden Töchter höchstselbst am Potsdamer Bahnhof. Der D-Zug würde die jungen Damen in nur neun Stunden nach Köln bringen. Sie hatte selbstredend erster Klasse buchen lassen, obwohl sie dies mehrere tausend Mark gekostet hatte.

„Ich wünsche euch eine gute Reise. Vergesst nicht, rechtzeitig in den Speisewagen zu wechseln. Hoffentlich wird ein anständiges Menü serviert. Für einen Zeitvertreib während der Fahrt habt ihr eure Handarbeiten, nicht wahr?“

Henriette verlor nie die Contenance. Immer war sie ernst und gefasst. Sie hauchte beiden Töchtern zum Abschied einen vornehmen Kuss auf die Wange, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Ich lasse gleich nach der Ankunft telegrafieren“, erklärte Ursula eifrig und zog ein spitzenbesetztes Taschentuch aus dem kleinen blauen Samtbeutelchen, das an ihrem dürren Handgelenk baumelte.

Henriette nickte und beobachtete ihre Ältere dabei, wie sie sich umständlich ein paar Krokodilstränen aus den Augenwinkeln wischte. Die hagere Ursula war stets und ständig bemüht, eine Vorzeigetochter zu sein. Es verging kaum eine Minute, in der sie nicht danach strebte, zu glänzen und allen Anforderungen gerecht zu werden. Doch so sehr sie sich auch mühte, immer einen Schritt voraus zu sein und keinen Grund zur Klage zu liefern, neben ihrer Schwester Edith blieb sie oft unsichtbar. Edith strebte nach einem selbstständigen Leben in Freiheit, wie sie es nannte, und sprach sich trotzig gegen die Ehe aus, obwohl sie reihenweise Verehrer hatte. Ursula dagegen sehnte sich nach einem Leben als Ehefrau und Mutter und würde, wenn Henriette nicht Fingerspitzengefühl und Klugheit bewies, doch leer ausgehen. In Anwesenheit der jüngeren Schwester lösten sich Ursulas Chancen, von der Männerwelt wahrgenommen zu werden, unwiderruflich in Luft auf. Trotz oder wegen ihres vorlauten Mundwerks konnte Edith an jedem Finger mindestens zehn Verehrer abzählen, doch sie trieb nur ihr Spiel mit ihnen und wies jeden einzelnen schamlos zurück. Egal wie sehr Ursula sich auch mühte, ihre Schwester wurde durch ihre pure Anwesenheit zum unüberwindbaren Hindernis.

Bei aller Ungerechtigkeit liebte Henriette ihre Kinder und sie wusste, dass sich die Mädchen, so nannte sie sie immer, auch wenn sie bereits das zwanzigste Lebensjahr überschritten hatten, auch liebten.

Gerade in diesem Augenblick registrierte ihr aufmerksamer Blick, wie Edith einem jungen Mann auf dem Bahnsteig kokette Blicke zuwarf, anstatt sich angemessen von der Mutter zu verabschieden.

Fritz, der Hausdiener, trat nun aus dem Eisenbahnwaggon und klopfte sich etwas Staub aus der Kleidung.

„Die Reisekoffer der Damen sind im Gepäckwagen untergebracht. Die Handtaschen habe ich im Abteil platziert.“ Fritz trat beiseite und wartete einige Schritte entfernt auf dem Bahnsteig, als plötzlich ein gellender Schrei ertönte.

„Hilfe! Polizei! Polizei!“

Henriette blickte erschrocken auf und entdeckte einen Mann in zerschlissener Kleidung. Er bahnte sich rempelnd den Weg durch die Passagiere und hielt eine Tasche an die Brust gepresst, die offenbar nicht ihm gehörte. Mit einigem Abstand folgte ein wütender Schutzpolizist. Die Wartenden auf dem Bahnsteig machten Platz und so konnte er schnell zu dem Flüchtenden aufschließen. In der einen Hand schwang er seinen Knüppel, mit der anderen hielt er seine Trillerpfeife am Mund, der er, trotz der wilden Verfolgung, alarmierende Töne entlocken konnte.

Die Anwesenden gafften neugierig und hielten ihre Habseligkeiten etwas fester, ließen sich ansonsten jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Als der Polizist den Dieb zu Fall brachte, stießen einige Männer grobe Flüche aus. Der Rest der Menge nahm die unfreiwillig unterbrochenen Gespräche wieder auf.

Henriette stieß einen leichten Seufzer aus und richtete den hellen Fellkragen ihrer Jacke. Der Pöbel verrohte, verlor täglich mehr Anstand und Manieren und bildete sich zur ernsthaften Gefahr für Hab und Gut heraus. Es war an der Zeit, dass die einfachen Leute endlich wieder in ihre Schranken gewiesen wurden und ihre Töchter bis dahin die Vorzüge des Landlebens genießen konnten.

„Nun, ich werde jetzt nach Hause fahren. Hier scheint mir nicht der geeignete Ort für einen langen Aufenthalt. Seht zu, dass auch ihr in den Zug kommt. Hier draußen lauern üble Gestalten.“

Im nächsten Moment fuhr Henriette erschrocken herum. Die laute, schnarrende Stimme des Schaffners erklang in unmittelbarer Nähe, sodass sie sich für einen Moment ans Ohr griff, als könnte sie es durch diese Geste schützen.

Der Schaffner bestätigte immerhin ihr Ansinnen. „Einsteigen bitte!“

Der darauffolgende schrille und lang gezogene Pfiff ließ ihr für den Bruchteil einer Sekunde die Gesichtszüge entgleisen. Es folgten letzte hektische Umarmungen, dann bestiegen ihre Töchter den Zug.

Henriette wartete nicht darauf, bis sich das Schienenfahrzeug endlich in Bewegung setzte. Sie schritt, ohne sich noch einmal umzusehen, mit erhobenem Kinn über den Bahnsteig und trat den Heimweg an.

„Dann wollen wir mal!“, rief Edith munter und sah sich ein letztes Mal im Bahnhof um. In der Folge drängelte sie sich wenig damenhaft an ihrer Schwester vorbei und stieg behände in den Waggon. Sie hatte offensichtlich vor, als Erste ins Zugabteil zu gelangen, welches ausschließlich für die Töchter des Doktor Ziegler gebucht worden war. Sie schob die Tür auf und ließ sich wenig graziös auf eine der gepolsterten Sitzbänke plumpsen.

„Meine Seite“, stellte sie lachend fest und hatte sich ihren Platz in Fahrtrichtung gesichert. Ursula fügte sich und nahm die gegenüberliegende Seite in Anspruch. Sie lächelte nachsichtig und holte, noch bevor sich der Zug in Bewegung setzte, ihre Stricknadeln hervor.

Edith dagegen zog eine Ausgabe der Volkszeitung aus ihrer Tasche, faltete das Papier demonstrativ auseinander und begann ungeniert darin zu lesen. Sie ahnte, welch strafenden Blick ihre Schwester ihr zuwarf und grinste daher amüsiert in sich hinein.

„Lege die Zeitung lieber weg und kümmere dich um deine Stickerei.“ Der mahnende Ton war nicht zu überhören.

„Warum?“ Edith blätterte langsam um und las weiter. Es bereitete ihre sichtlich Freude, die ältere Schwester zu provozieren. „Es stehen allerhand interessante Dinge drin. Du solltest dich auch informieren. Vor allem, solange wir es uns noch leisten können.“

„Darüber macht man keine Scherze, Edith.“ Ursula runzelte die Stirn. Edith sah es nicht. Doch sie kannte ihre Schwester zu gut und sah schon beim Klang von Ursulas Worten deren Gesicht klar vor ihrem inneren Auge.

„Ich mache keine Scherze. Ich will nur wissen, woran ich bin“, entgegnete Edith ruhig und blätterte weiter.

Ein Ruck ging durchs Abteil und der Waggon setzte sich langsam in Bewegung. Bis sie den Bahnhof verlassen hatten, saßen sich die Schwestern schweigend gegenüber. Edith blickte in die Zeitung, Ursula aus dem Fenster.

„Leg doch das Blatt beiseite, bitte.“ Ursula versuchte es nun in sanfterer Tonart, aber Edith hatte keine Lust, nachzugeben. Es gefiel ihr, ihre Schwester aufzuziehen und zu schockieren.

„Geht nicht. Ich lese gerade etwas sehr Interessantes über den Magistrat.“

„Du weißt doch, dass dieses politische Gehabe Parteisache ist und nichts für Frauen. Die Stickerei dagegen schon. Wie willst du dich später um deinen Haushalt und deinen Mann kümmern?“

„Ach Ursi, du armes Ding, wenn du doch wüsstest, wie sehr du dich irrst.“ Edith sprach nüchtern und machte sich nicht einmal die Mühe, aufzublicken.

„Was soll das denn nun schon wieder heißen?“

„Erstens geht es hier nicht um politisches Gehabe, sondern um unparteilichen Journalismus. Zweitens ist es sehr wohl etwas für Frauen. Drittens hängt mir diese blöde Stickerei schon zum Halse heraus und viertens …“ Edith faltete die Zeitungsseiten nun doch vorsichtig für einen Moment wieder zusammen und beugte sich ein Stück vor, um Ursula fest in die Augen zu sehen. „Viertens werde ich niemals heiraten. Ich bin doch nicht verrückt. Vielleicht gehe ich stattdessen in die Politik, wenn wir zurück sind.“

Ursula presste die Lippen aufeinander, sodass nur noch eine schmale Linie zu sehen war. Es schien Edith, als zählte sie innerlich bis zehn, bevor sie weitersprach.

„Wirst du nicht, das werden unsere Eltern nicht erlauben. Mutter würde dir eher den Hals umdrehen. Du kannst nicht ewig allein bleiben. Du hast eine Aufgabe oder willst du als arme, alte Jungfer enden?“

„Das, meine Liebe, lass nur meine Sorge sein.“

Edith lehnte sich zurück, schlug die Zeitung wieder auf und las weiter. Zumindest versuchte sie es. Ursulas Bemerkung über die Durchsetzungsfähigkeit ihrer Mutter war nicht besonders weit hergeholt. Bisher hatte Edith sich erfolgreich gegen die Regeln gestellt. Dennoch sollte ihr schleunigst etwas einfallen, womit sie ihre Zukunft langfristig gestalten konnte ‒ unabhängig, ohne Heirat. Die aufsteigende Unsicherheit schluckte sie wie ein knorpeliges Stück Fleisch hinunter und würdigte Ursula, die hin und wieder verständnislos in ihre Maschen seufzte, in der nächsten halben Stunde keines weiteren Blickes mehr.

Sie verstand das Streben ihrer Schwester nach einem Mann, Familie und Haushalt, nach Sicherheit ‒ aber sie teilte es nicht. Es würde sich mit Sicherheit jemand finden, den Ursi lieben und dem sie Kinder schenken konnte. Für Edith kam dieser Weg nicht infrage. Sie wollte keinesfalls verheiratet werden, wollte sich nicht unterordnen, sondern sehnte sich nach einem selbstbestimmten Leben. Der Gedanke, andere Kleidungsstücke, außer ihre eigenen, zu flicken oder darauf zu achten, dass die Köchin das Geld nicht zum Fenster hinauswarf, war ihr ebenso zuwider, wie der, sich einem Mann zu fügen, weil es sich so gehörte. Was sich gehörte, wollte sie selbst entscheiden.

Sie zog die Unterlippe leicht zwischen die Zähne und las weiter, wenngleich sie nicht allen Artikeln gleichermaßen Aufmerksamkeit schenkte.

„Berlin bekommt jetzt einen Flughafen“, nahm sie nach einer Weile das Gespräch wieder auf.

„Ich habe davon gehört“, erwiderte Ursula, ohne aufzublicken. Edith beschloss, sie noch ein kleines bisschen mehr zu reizen. „Vielleicht werde ich Fliegerin, wenn wir zurückkommen. Das könnte mir gefallen. Dann drehe ich hoch oben am Himmel meine Runden und winke zu dir hinunter, während du mit deinem Ehemann und den fünf Kindern unter der Paradepappel beim Picknick sitzt. Was hältst du davon?“

Ursula blieb ruhig und strickte eine Masche nach der anderen.

„Ich weiß, was du versuchst. Aber ich werde weder mit dir streiten noch mich darüber aufregen. Nein, stattdessen wünsche ich dir gutes Gelingen und alles Glück der Erde auf deinem Weg, Fliegerin zu werden.“ Seelenruhig wechselte Ursula die Stricknadeln und strich den Faden glatt.

Edith hielt für einige Sekunden den Atem an. Ursulas Worte, vielmehr die mitklingende Gleichgültigkeit, hatten sie unerwartet hart getroffen. Es war ihr nicht länger möglich, in der Zeitung zu lesen. Wäre es nicht das Mindeste, dass Ursula ihr die Unmöglichkeiten und Nachteile aufzählte und versuchte, ihr die Idee madig zu machen?

Sie starrte auf die Buchstabenreihen. Die Konzentration hatte sie gänzlich verlassen. Während ihr Blick an den Textblöcken und Bildern haftete, lauschte Edith dem eintönigen Rattern des Zuges. Schließlich faltete sie enerviert die Zeitung zusammen und verstaute sie wieder in ihrer Tasche. Trotzig zog sie Schuhe und Hut aus, legte ihre Beine angewinkelt neben sich auf den Polstersitz und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster.

Ursula schwieg und strickte konzentriert. Neben dem Geräusch der klackernden Nadeln gab es nur das gleichmäßige Rattern des Zuges. Edith genoss den Anblick der vorbeiziehenden Landschaft, der sich ihr bot. Das Wintergetreide stand schon auffällig hoch auf den Feldern. Saftig grüne Wiesen und Wälder wechselten sich ab. Aus den ihr so vertrauten Kiefernwäldern mit den schlanken, hellen Stämmen und kleinen Baumkronen wurden nach und nach dunkle Laubwälder. Der Zug passierte kleine und größere Ortschaften, ließ Magdeburg und Braunschweig hinter sich.

Wie es wohl bei Onkel Leopold und Tante Luise aussah? Der letzte Besuch bei ihnen lag über zehn Jahre zurück. Elf oder zwölf Jahre war Edith damals alt gewesen. Lange bevor die Engländer und Franzosen Krieg geführt hatten. Die Erinnerungen waren zwar zum Teil verschwommen, andere Einzelheiten zeigten sich in Ediths Kopf aber plötzlich sonderbar genau. Sie erinnerte sich an die rege Betriebsamkeit im Fabrikgebäude, das direkt neben dem Wohnhaus gestanden hatte. An die seltsamen Gerüche und den riesigen Kohlenberg, der immer im Hof aufgeschüttet lag und auf dem sie nicht hatten spielen dürfen. Die Schwestern hatten sich zum Schlafen immer ein Zimmer geteilt und den lieben langen Tag auf der Veranda des Hauses verbracht. Sie hatten gelesen, Handarbeiten angefertigt und manchmal waren sie ausgebüxt. Dann hatte der Weg sie am Bachlauf entlanggeführt. Sie hatten den kleinen Ort Kerchheim, der sich in unmittelbarer Nähe der Fabrik befand, ausgekundschaftet. Abends, wenn die Arbeiter heimgegangen waren und Ruhe auf dem Gelände eingekehrt war, hatten sich die Mädchen bei Tante Luise und Onkel Leopold zum Essen eingefunden. Karamellpudding zum Nachtisch hatte immer auf dem Speiseplan gestanden.

In diesem Sommer würden sie nicht mehr durch das Dorf streifen. Natürlich nicht. Sie waren keine kleinen Mädchen mehr. Ursula würde gewiss all ihre Freizeit dafür aufwenden, so viele graue Handschuhe zu stricken, wie sie nur konnte. Etwas, das sie ohne Weiteres auch in Berlin hätte tun können. Sie hingegen hoffte auf eine umfangreiche Bibliothek und darauf, Einsicht in die Arbeit ihres Onkels zu bekommen. Er könnte ihr so vieles beibringen. Ehe sie sich versah, hing sie ihren Träumen nach. Sie sah sich geschäftliche Korrespondenz verfassen, Warenbestellungen entgegennehmen und mit Lieferanten abrechnen. Sie entschied über die Farbauswahl der neuesten Produktion und entwarf sogar neue Muster für die Stoffe. Vielleicht konnte sie nicht Politikerin oder Fliegerin werden, aber vielleicht Fabrikantin? Die Zeiten änderten sich rasant. Das konnte jeder sehen. Alles wurde teurer und ob sich Ursulas Traum von einer angemessenen Heirat noch erfüllen würde, stand in den Sternen. Vielleicht bot sich ihr just in diesem Moment die Chance, ihre Geschicke zu wenden, für sich selbst einzustehen und unabhängig zu werden. Jeden Augenblick wollte sie nutzen, Onkel Leopold in der Fabrik über die Schulter zu schauen. Sie würde Zeit mit den Arbeiterinnen verbringen und sich jeden Handgriff genau von ihnen erklären lassen. Dass auch Frauen in der Fabrik arbeiteten, hatte sie schon längst in Erfahrung gebracht.

Edith wollte alles wissen. Wer wusste schon, was das Schicksal für sie bereithielt. Vielleicht konnte sie Onkel Leopold von ihren geschäftlichen Qualitäten überzeugen. Dann musste er sie einfach anstellen.

Vorfreude und Hoffnung flossen durch Ediths Körper. Hier lauerte die Chance auf ein Leben mit einem Beruf, in dem es sich nicht nur um Heirat, Hauswirtschaft und Kinder drehte. Und vor allem nicht um einen Ehemann, der sämtliche Entscheidungen für sie traf.

Ediths Herz schlug von Minute zu Minute euphorischer. Es konnte der Sommer ihres Lebens werden! Weitab von der Familie in Berlin eröffnete ihr das Leben die Chance, sich selbst zu verwirklichen.

Wie ahnungslos ihr Vater den Weg geebnet hatte. Ediths Lippen verzogen sich zu einem erleichterten Lächeln und sie stieß einen glücklichen Seufzer aus.

„Was ist los?“ Ursula hob den Blick von ihrer Handarbeit und sah ihre jüngere Schwester fragend an.

„Ich glaube, unser Sommer wird herrlich.“ Mit neuem Schwung nahm Edith ihre Beine vom Polster, zog die Schuhe wieder an, umarmte ihre Schwester mit Rücksicht auf ihr Strickzeug sehr vorsichtig und öffnete die Tür des Abteils. Die neuen Gedanken hatten sie so sehr aufgewühlt, dass sie sich nun Bewegung verschaffen musste. So schritt sie den langen Gang im Waggon einige Male auf und ab. Sie passierte die Abteiltüren, die allesamt geschlossen waren. Die innen angebrachten Vorhänge wehrten jeden neugierigen Blick ab und so schenkte sie ihre Aufmerksamkeit den vorbeiziehenden Landschaften.

Als der Zug die Stadt Hameln passiert hatte, begaben sich die Schwestern in den Speisewagen, um das Mittagessen einzunehmen. Der reservierte Tisch war vorbereitet und es wurden zügig drei Gänge serviert. Zunächst eine dünne Rindfleischbrühe, dann ein Stück Rehkeule mit Salat und den Abschluss bildete ein Schälchen mit Apfelkompott.

„Ich hoffe, es hat Ihnen gemundet.“ Der Kellner wandte sich ausschließlich an Edith. Wie immer, wenn die Schwestern gemeinsam unterwegs waren. Immer war sie es, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog, ohne auch nur das Geringste dafür zu tun. Ursula glaubte manchmal, sie könne daneben in Flammen aufgehen und niemand würde es bemerken.

„Es war in der Tat vorzüglich“, schmeichelte Edith dem Kellner, einem sehr freundlichen Mann mittleren Alters, als sie sich erhoben. Sie schenkte ihm einen ungebührlich langen Blick und hätte zum Leidwesen ihrer Schwester gern weiter geplaudert. Doch das reservierte Zeitfenster war bereits vorüber und der Tisch musste für die nächsten Fahrgäste vorbereitet werden.

Zurück im Abteil holte Edith ihre neueste Errungenschaft, eine sehr lange Zigarettenspitze hervor. Sie rauchte genüsslich, während Ursula die Augen schloss und ein wenig zu schlafen versuchte.

Am Abend, als die jungen Frauen endlich den Hauptbahnhof in Köln erreichten, war es bereits dunkel. Sie nahmen das Handgepäck und traten auf den Bahnsteig. Dort erblickten sie in nicht weniger als sechs Metern Entfernung zwei Männer. Einer von ihnen stand neben einem Gepäcktransportwagen und hielt ein großes Pappschild in die Höhe, auf dem in großen Buchstaben ZIEGLER geschrieben stand. Der andere, ein etwas größerer, graubärtiger Mann mit nach vorn gewölbtem Bauch trug einen dunklen Mantel und einen Filzhut. Es handelte sich unverkennbar um Onkel Leopold.

Beide Damen verloren augenblicklich das gute Benehmen und warfen sich ihrem Onkel an den Hals. Er roch noch genauso besonders und seltsam, wie Edith es in Erinnerung hatte.

Nach einer ausgiebigen, herzlichen Begrüßung trieb Leopold seine Nichten, denn das waren sie für ihn, obgleich Bruno und er keine Brüder waren, jedoch zur Eile an.

„Kommt, wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns. Emil wird eure Koffer holen und uns zum Wagen folgen.“

„Guten Abend“, begrüßte Edith den jungen Mann freundlich.

„Zu Ihren Diensten“, erwiderte Emil sichtlich nervös. Er zog die Mütze vom Kopf und hielt sie gegen die Brust geklemmt, während er sich zur Begrüßung verbeugte.

Auf dem Weg zum Automobil sah sich Edith erstaunt auf dem Bahnhof um. Es herrschte trotz später Stunde reges Treiben. „Können wir uns noch schnell den Dom ansehen, Onkel Leopold?“

„Ich bedaure, heute nicht. Es ist zu dunkel, ihr seht ihn sowieso nicht.“ Er zeigte mit dem Finger irgendwo in den schwarzen Himmel. „Außerdem wartet eure Tante bereits ungeduldig. Sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich euch nicht auf direktem Wege nach Hause brächte. Aber keine Sorge, meine Lieben. Als guter Gastgeber habe ich diesen Ausflug in den nächsten Wochen bereits für euch eingeplant. Wenn ich zu meinem nächsten geschäftlichen Termin hier bin, kommt ihr mit und ich zeige euch die Stadt. Also wenigstens einen Teil davon“, setzte er hinzu.

„Wir nehmen dich beim Wort“, erwiderte Edith.

Die Schwestern hakten sich von je einer Seite bei Leopold ein. Langsam bewegte sich das Trio vorwärts. Auf dem Weg aus dem Bahnhofsgebäude hinaus gähnte Edith einige Male ausgelassen und ungeniert.

Einige Minuten später erreichten sie den Parkplatz vor dem Gebäude, auf dem eine Vielzahl unterschiedlicher Automobile ordentlich nebeneinander aufgereiht stand.

Mit großem Erstaunen entdeckten sie Emil. Wie auch immer er es bewerkstelligt hatte, er stand bereits an einem der Wagen und lud die Taschen und Koffer hinein. Während Leopold die hinteren Türen öffnete und die jungen Frauen einsteigen ließ, nahm Emil auf dem Fahrersitz Platz und ließ den Motor an.

Die Fahrt zur Tuchfabrik dauerte über eine Stunde. Edith unterdrückte mit aller Kraft das neuerliche gewaltige Bedürfnis, zu gähnen. Den Oberkörper in die Mitte der Rückbank geneigt, konnte sie den gelben Lichtkegel, der sich durch dichte Nebelbänke arbeitete, beobachten. Emil steuerte den Wagen schließlich durch ein massives Eisentor in den Hof der Fabrik und hielt direkt neben der Eingangstür des Wohnhauses. Hinter einigen Fenstern brannte Licht, eine einzelne Laterne über der Tür beleuchtete in geringem Radius den Eingangsbereich. Als Leopold die Wagentür neben Edith öffnete, schlug ihr ein unangenehm kühler und feuchter Wind entgegen. Sie stieg aus und blickte sich um.

In der Dunkelheit ließ sich nicht viel erkennen. Die Fabrik, nur wenige Schritte über den Hof vom Eingang entfernt, zeichnete sich als mächtiger Kasten vor dem nachtschwarzen Himmel ab. Edith lauschte, aber die Maschinen standen still. Natürlich, es war spät am Abend. Nur das gleichmäßige Rauschen des kleinen Bächleins, das in unmittelbarer Nähe vorbeifloss, durchbrach die Stille und belebte weitere Erinnerungen. Nun, Edith würde sich noch eine Nacht gedulden können, bis sie sich ausgeschlafen in ihr neues Leben stürzte.

Eine Frau mittleren Alters, eingewickelt in eine dicke Strickjacke, trat aus dem Haus und begrüßte die späten Gäste. „Da seid ihr ja endlich! Lasst euch umarmen!“, rief sie aus und eilte zu ihnen. Tante Luise umarmte die Mädchen herzlich.

„Seht euch an, wie die Zeit vergeht. Junge Damen seid ihr geworden. Man glaubt es nicht, wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht. Kommt schnell herein. Ihr seid gewiss todmüde. Ich zeige euch euer Zimmer und dann essen wir ordentlich zusammen.“

Das Haus hatte sich in den vergangenen zehn Jahren nicht sehr verändert. Sofort erinnerte sich Edith an die beigefarbenen Steinfliesen im Eingangsbereich. Einst war sie mit Vorliebe barfuß darüber spaziert. Luise hatte sogar dasselbe Zimmer im ersten Stockwerk für die Schwestern herrichten lassen.

„Richtet euch ein und dann treffen wir uns unten“, ordnete die Tante freundlich an, öffnete die Zimmertür und ließ die beiden Frauen umgehend allein.

Edith trat als Erste ein. Der Tür gegenüber befand sich ein großes Fenster, davor ein Tisch mit einer blauen Vase, in der Zweige mit prächtigen rosafarbigen Blüten arrangiert waren. Links und rechts standen je ein Bett und ein Schrank. Mit wenigen Schritten war sie im Raum und besetzte keck das Bett zu ihrer Rechten.

„Meins!“, tönte sie.

Eine unnötige Erklärung. Ursula war ihr auf dem Fuß gefolgt und hatte bereits ihren Hut auf der Tagesdecke des anderen Bettes abgelegt. Diese Frage war also geklärt und wich nicht von der früheren Aufteilung ab.

„Ah, riechst du das?“ Edith hielt ihre Nase in die Luft und sog genüsslich den würzigen Duft von Erbsensuppe und Mettwurst ein. „Jetzt merke ich erst, was für einen Mordshunger ich habe.“ Sie sprang auf und lief, ihrer Schwester voraus, die Treppe hinunter.

Im Speisezimmer war bereits alles fürs Abendessen vorbereitet. Eine große weiße Terrine aus Porzellan stand auf dem Tisch. Neben den Tellern lagen blütenweiße Servietten.

„Setzt euch, Mädchen. Euer Onkel wird gleich bei uns sein.“ Tante Luise wies ihnen einladend die Plätze zu. Edith lief das Wasser im Mund zusammen.

„Wo ist er denn?“, platzte sie ungeniert heraus und erntete dafür eine geflüsterte Zurechtweisung von Ursula.

„Halt dich zurück. Du bist hier Gast.“

Edith seufzte theatralisch und griff sich mit der rechten Hand ans Herz.

„Du lieber Himmel, gut dass du es mir sagst. Kann ich mich darauf verlassen, dass du mir den lieben langen Sommer über solch besonders wertvolle Ratschläge geben wirst? Es wäre mir eine große Freude und Erleichterung.“

Ursula kniff die Augen zusammen, doch bevor ihr eine passende Erwiderung einfiel, betrat Leopold das Speisezimmer. Also begnügte sie sich damit, ihrer Schwester einen leichten Tritt unter dem Tisch zu verpassen und zischte: „Du bist unmöglich.“

„Ich weiß“, erwiderte Edith mit einem frechen Grinsen, richtete ihre Aufmerksamkeit dann aber auf die Terrine und ihre Tante.

Luise hatte eine große Suppenkelle in der einen Hand, die andere streckte sie Ursula entgegen. „Deinen Teller bitte.“ Überrascht reichte diese ihren Teller hinüber, öffnete den Mund einige Male, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders und sah sich verstohlen im Zimmer um. Von einem Dienstmädchen war nichts zu sehen.