Leseprobe Die wilde Lady und der Gentleman

Kapitel eins

Lady Charity Rutherford kauerte im Stadthaus eines wenig ehrenhaften Gentlemans und murmelte ein Stoßgebet, dass ihr erster und hoffentlich letzter Einbruch ein durchschlagender Erfolg werden würde. Zitternd atmete sie tief ein. Das war vermutlich die gefährlichste, ruinöseste und skandalöseste Herausforderung, die je an die Tafel des geheimen Damenklubs am Berkeley Square 48 geschrieben worden war, dem Charity angehörte. Ihre Freundin Prudence, Countess of Wycliffe, herauszufordern, mittels erotischer Literatur ihren Gatten zu verführen, oder Miss Frederica Williams herauszufordern, ihren gut aussehenden Vormund zu küssen, wenn er sie wieder tadelte, waren Lappalien im Vergleich zu dieser Straftat, die stattfand, während sich besagter Herr in seinem Klub befand.

Es war nicht nur skrupellos, sondern ausgesprochen kriminell, allerdings blieb Charity in dieser Angelegenheit keine Wahl.

Für die Dame, die es wagt, ein bestimmtes Paket mit Liebesbriefen von Lord Sallis zurückzustehlen, gibt es hundert Pfund zu gewinnen.

So lautete jedenfalls die Herausforderung, die auf der Wetttafel gelandet war. Die jungen Klubmitglieder waren begeistert gewesen. Sie liebten allein den Gedanken, sich so ungezogen aufzuführen. Den dreisten Lord der schädigenden Briefe zu berauben, war ein aufregendes Abenteuer und eine ungeheure Abwechslung zu ihrem eintönigen Alltag. Da Charity befürchtet hatte, ertappt zu werden und den daraus resultierenden Zorn ihres Bruders nicht zu ertragen, hatte sie die Herausforderung zunächst nicht angenommen.

Einige Tage darauf war sie jedoch in den Gärten des Berkeley Square 48 auf die bitterlich weinende Lady Jenna Hawkins gestoßen. Beim Anblick ihrer in Tränen aufgelösten Freundin war Charity besorgt gewesen. Da Jennas dunkelblaue Augen schon rot geweint waren, hatte sie Trost gespendet und sich erkundigt, warum sie so aufgelöst war.

Gerüchten zufolge sollte Jenna eine Mitgift in Höhe von fünfzigtausend Pfund und ein Anwesen in Berkshire erhalten. Dummerweise hatte sie sich in einen erbärmlichen Wüstling verliebt. So sehr, dass sie schamlos mit dem Viscount geschäkert und sich sogar küssen lassen hatte. Anschließend hatte er sich als Schürzenjäger der schlimmsten Sorte entpuppt, denn Jenna hatte gesehen, wie er auf einem Ball in den Gärten des Anwesens eine andere Lady küsste. Da Jennas Herz gebrochen war, hatte sie ihre Gedichte und Liebesbriefe von Viscount Sallis zurückverlangt, doch er hatte erklärt, sie mithilfe der Schreiben zu seiner Gattin machen zu wollen.

Die junge Liebe war blitzschnell Demütigung und Reue gewichen. Jenna wollte den Viscount auf keinen Fall heiraten. Doch wenn er die Briefe ihrem Bruder, dem höchst anständigen Earl of Ralston, zeigte, würde der sie für kompromittiert erklären und sie zu einer Ehe mit dem Schurken zwingen.

„Aber nicht, wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe“, brummelte Charity.

Dieser Viscount war kein Gentleman, sondern ein verflixter, nichtsnutziger Halunke. Genugtuung durchströmte sie, als das Fenster zum Gesellschaftszimmer lautlos aufglitt. Sie ließ rasch den Blick über die Gärten schweifen, um sich zu vergewissern, dass niemand durch die Dunkelheit schlich. Nachdem Charity nichts Auffälliges festgestellt hatte, rutschte sie langsam auf dem Bauch durch das Fenster, wobei sie den Schmerz in den verdrehten Gliedern ignorierte. Sie purzelte ins Zimmer und war froh, dass das Haus bis auf das Dienstpersonal leer war, denn sie landete mit einem dumpfen Aufprall. Charity zuckte unter dem leichten Schmerz zusammen, hielt inne und lauschte.

Alles war ruhig. Die Information war also zuverlässig. Der vermaledeite Viscount jagte zwischen zehn Uhr abends und ein Uhr morgens irgendeine Erbin auf einem Ball, bevor er bis zum Morgengrauen im White’s verschwand. Seine Angestellten waren in dem Wissen zu Bett gegangen, dass der Herr des Hauses erst am nächsten Morgen zurückkehren würde.

Auf dem Weg den weitläufigen Flur entlang zum Arbeitszimmer wummerte Charity der Puls in den Ohren. Der Gang lag im Halbdunkeln, lediglich eine gedrosselte Lampe spendete dämmriges Licht. Wenn sie im Arbeitszimmer nichts fand, würde sie sich die Treppe hinauf zu seinem Schlafgemach schleichen. Sie hatte geschickt vorgehen müssen, um zu erfahren, wie das Stadthaus geschnitten war. Wochenlang hatte sie gegrübelt, wie sie an die Briefe kommen konnte, da Jenna immer mutloser wurde. Charity hatte Sallis’ Haus und dessen Bedienstete diskret beobachtet, bevor sie ein Küchenmädchen ansprach und ihr fünf Pfund bot, um zuverlässige Informationen über das Kommen und Gehen ihres Herrn und den genauen Standort seines Schlafzimmers zu bekommen. Auch wenn die junge Frau auf das Geld aus gewesen war, hatte sie gezögert, Charity zu helfen. Daher hatte sie durchblicken lassen müssen, dass sie eine pikante Überraschung für den Viscount plante.

Daraufhin hatte sie eine detaillierte Beschreibung vom Grundriss des Gebäudes erhalten, das dem ihres Bruders ähnelte. Da es dem ton an Originalität mangelte, waren die meisten Häuser in Mayfair ein Abklatsch der anderen und unterschieden sich nur durch die individuelle Dekoration und Einrichtung der Besitzer. Charity drehte am Türknauf, stellte erfreut fest, dass das Arbeitszimmer nicht abgesperrt war, und schlüpfte hinein. Auch wenn es ein gefährliches Unterfangen war, musste sie die Lampe auf dem großen Eichenschreibtisch andrehen. Sämtliche Schubladen waren unverschlossen, demnach wurde hier wohl nichts Wertvolles aufbewahrt. Charity durchsuchte die Fächer dennoch gründlich, stieß aber nur auf Gläubigerbriefe und Schuldscheine.

„Wenn ich ein feiger Hund wäre, wo würde ich persönliche Korrespondenz verwahren?“, murmelte sie und dachte angestrengt nach.

Sie löschte die Lampe und blieb einen Moment im Dunkeln stehen, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen, bevor sie mithilfe des Mondlichts in den Flur ging. So dicht wie möglich an die Wand gedrückt, stieg sie die Treppe hinauf. Ein seltsames Geräusch ertönte, und sie hielt inne. Charity wartete, bis sich ihr Herz beruhigt hatte und sie etwas anderes hörte als das Hämmern in ihrer Brust.

Ihr Nacken kribbelte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sich jemand in der Nähe befand. Sie wirbelte herum und spähte die Treppe hinab, wobei sie das dunkle Haus verfluchte. Was zuvor ein großer Vorteil gewesen war, wirkte jetzt wie eine Bedrohung. Ihre wirren Gedanken waren dennoch klar genug, um zu erkennen, dass, wenn sie niemanden sah, sie ebenfalls nicht gesehen wurde.

Das sind bloß meine verflixten Nerven, schimpfte sie sich im Stillen, bevor sie die Treppe weiter hinaufstieg und zum Schlafzimmer des Viscounts ging. Dort führte sie eine weitere rasche, aber gründliche Suche durch, fand jedoch nichts. Charity verließ das Zimmer und eilte zur Bibliothek, die sich ebenfalls im oberen Geschoss befand.

Erneut hörte sie einen Laut, spitzte die Ohren, wirbelte herum und versuchte etwas zu erkennen. Ein schmerzhafter Druck schnürte ihr die Brust zusammen, sodass sie kaum atmen konnte. Irgendjemand folgte ihr. Dessen war sich Charity sicher.

Am liebsten hätte sie die Person aufgefordert, sich zu erkennen zu geben, biss sich aber auf die Lippe und unterdrückte den Drang. Die Heldinnen in ihren Schauerromanen verhielten sich so und es ging nie gut aus.

Sie stieß geräuschlos und verärgert die Luft aus, hastete zur Bibliothek und versuchte die Tür zu öffnen. Verschlossen. Aufregung durchfuhr sie. Möglicherweise verwahrte der Viscount nur jene Dinge hinter verriegelten Türen, die er zu seinem Vorteil einzusetzen plante, wie erpresserische Briefe, die ihm eine Erbin oder wenigstens eine Abfindung sicherten.

Sie beugte sich vor und holte verstohlen ihr Werkzeug aus der Jackentasche. Mit einem kurzen Handgriff öffnete sie das Schloss, steckte das Werkzeug ein und betrat die Bibliothek. Im Kamin glommen die Überreste eines Feuers, dennoch war das Zimmer ungewöhnlich kühl. Sie sah sich um und stellte fest, dass ein Fenster offen stand. Sie drehte die Lampe auf dem kleinen Tisch beim Bücherregal an und tauchte den Raum in ein blassorangefarbenes Licht. In den Ecken lauerten noch Schatten, sie würde aber nicht das Risiko eingehen und die Leuchte weiter aufdrehen.

Charity überprüfte die Bücherregale nach Geheimfächern und schalt sich insgeheim, zu viele Schauerromane gelesen zu haben. Dennoch suchte sie vorsichtig die Regale ab, bevor sie zum Schreibtisch überging. Behutsam öffnete sie nacheinander die Schubladen und atmete erleichtert aus, da eine davon verschlossen war. Sie brach das Schloss auf und hätte beinahe einen triumphierenden Schrei losgelassen, als sie mehrere mit einem hübschen roten Band umwickelte Briefe entdeckte.

Charity zählte sie und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Sie waren vollständig. Es waren acht Briefe mit Jennas Handschrift. Charity zog ein parfümiertes Blatt aus dem Umschlag und las:

Träume von Liebe

Die Liebe war nur ein Traum für mich

Ein galanter Ritter aus alten Zeiten

Ein Kuss unter dem grünen Baum

Eine Hoffnung, die meine Aussteuertruhe füllt

 

Doch dann blickte ich tief in deine Augen

Mein Herz tanzte zu einem unbekannten Rhythmus

Ich wusste, dass ich meine Belohnung getroffen hatte

Deine Küsse heiß und so süß

 

Das Gedicht ging noch weiter, Charity steckte es jedoch wieder in den Umschlag. Sie hielt es für niedlich, äußerst naiv und unschuldig. Lord Ralston hingegen würde es kompromittierend finden und Jenna zu einer unglücklichen Verbindung mit einem gefühllosen Wüstling zwingen. Charity schloss die Schublade und eilte zur Tür. Unterwegs fiel ihr ein, dass die Lampe noch brannte. Verflixt. Sie drehte sich abrupt zum Tisch um, etwas klatschte ihr ans Bein, und sie kippte fluchend vornüber.

Ein muskulöser Arm legte sich um Charitys Taille, und ein leises Ächzen ertönte, als jemand sie zurückriss und so verhinderte, dass sie mit dem Gesicht voraus zu Boden ging.

Ihr stockte kurz der Atem, und sie konnte vor Angst weder klar denken noch sprechen.

O nein, nein!

„Diese Briefe gehören mir“, murmelte jemand in ihr Haar. „Gebt sie mir.“

Sämtliche Luft entwich aus Charitys Lunge, und sie musste würgen. Sie verlagerte ihr Gewicht nach vorn und wäre beinahe gestürzt, als der Mann losließ. Charity wirbelte herum, um sich ihrem unerwarteten Gegner zu stellen, und erstarrte. Ihr stand ein schwarz gekleideter Mann gegenüber, der mit der Dunkelheit verschmolz. Er hatte pechschwarzes Haar, seine Augen lagen im Schatten und die untere Gesichtshälfte steckte unter einem Taschentuch. Dieser Kerl führte nichts Gutes im Schilde. Ein weiterer Dieb, der ausgerechnet hier ihren Weg kreuzte.

Wie hoch standen die Chancen dafür?

„Her damit“, sagte er auf eine Art, die ihr einen Schauer den Rücken hinunterjagte.

Charity gab vor, den Befehl nicht gehört zu haben. „Ich beabsichtige zu gehen, mein guter Herr“, sagte sie gedämpft. „Die Zeit drängt. Es wäre ungünstig, wenn uns der Viscount überrascht.“

„Wohl wahr.“ Er streckte den Arm aus. „Jetzt gebt mir Eure Beute.“

„Ich habe nichts Wertvolles genommen, nur ein paar Briefe.“

„Das weiß ich, Lady Charity.“

Ihr donnerte das Herz in den Ohren, das Zimmer drehte sich um die eigene Achse. Sie erstarrte, der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Einen grauenvollen Moment lang glaubte sie, in Ohnmacht zu fallen. Sie straffte den Rücken und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Gewiss hatte er sie namentlich angesprochen, um sie aus der Fassung zu bringen. „Wie haben Sie mich genannt?“, zischte sie.

„Lady Charity“, erwiderte er trocken.

„Wie …“

„Woher ich weiß, dass Ihr es seid?“

„Ja.“

Er wedelte wegwerfend mit der Hand. „Das spielt doch keine Rolle.“

Sie betrachtete ihn. „Es spielt eben doch eine Rolle. Wer sind Sie?“

„Das geht Euch nichts an. Gebt mir die Briefe.“

Sie zog zwei davon aus der Jackentasche und streckte sie dem Fremden mit zitternden Händen entgegen. Er griff danach, und flinker als eine Viper langte sie unter seinen Armen hindurch und riss das Taschentuch herunter.

Mit aufgerissenem Mund starrte sie den Mann an, dem sie am allerwenigsten zugetraut hatte, bei einem Lord einzubrechen – Ethan Hawkins, der dreizehnte Earl of Ralston, Jennas Bruder und der anständigste Adlige von ganz London. Charity konnte ihn nur anstieren. Der Earl war für seinen ausgeprägten Sinn für Anstand bekannt, worüber Jenna stets klagte.

„Ihr?“

Kapitel zwei

Das plötzliche Funkeln in Lord Ralstons kobaltblauen Augen war schrecklich verunsichernd. Wieso war ihr vorher nie aufgefallen, wie schön sie waren?

Der Earl legte sich einen behandschuhten Finger an den Kiefer. „Ihr seid außergewöhnlich kühn, Lady Charity. Offen gestanden hätte ich das nicht erwartet. Eure zitternden Hände waren eine nette Ablenkung, um mich dazu zu bringen, nicht gut genug aufzupassen.“

„Es ist nur recht und billig, zu wissen, mit wem ich es zu tun habe.“

„Nachdem Ihr mich gesehen habt, muss ich Euch wohl aus dem Weg räumen“, murmelte er mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck.

Ein angestrengtes Lächeln hob seine Mundwinkel, und sie entfernte sich argwöhnisch einen Schritt weit. Eine derartig bedrohliche Miene hätte sie Jennas Bruder gar nicht zugetraut. Dieser Mann war furchtbar anständig, sein Name war noch nie im Zusammenhang mit irgendwelchen Skandalen gefallen. Außerdem neigte er nicht zu teuflischen Eskapaden. Niemals. Einst hatte Charity die Lady zutiefst bedauert, die den Mann einmal heiraten würde.

„Gebt mir die Briefe.“

Sie unterdrückte ein Keuchen. „Nein.“

Er trat vor, und Charity wich instinktiv zurück. Der Earl hatte wie eine zahme Katze gewirkt, doch nun war er ein gefährlicher Panther, der sicherlich zuschnappte, wenn man ihn reizte.

Sie atmete tief durch, versuchte ihre Nerven zu beruhigen und hob das Kinn. „Diese Briefe sind nicht Euer Eigentum.“

„Aber das meiner Schwester“, murmelte er mit Kalkül in den Augen.

Verflixt. Woher wusste er das? Jenna hatte es davor gegraut, dass ihr Bruder die Sache mit den Liebesbriefen, die sie an den Viscount geschrieben hatte, herausfinden würde und sie entweder zu einer Heirat mit dem Mann zwang oder sie aufs Land verbannte. Es machte Charity fuchsteufelswild, dass sich Männer Fehltritte erlauben durften, Frauen hingegen eine Bestrafung fürchten mussten, wenn sie einen Fehler in Herzensangelegenheiten begingen.

„In dem Punkt sind wir uns jedenfalls einig, Mylord. Ich werde Lady Jenna die Briefe höchstpersönlich überreichen, sonst niemandem.“

„Woher soll ich wissen, dass das der Wahrheit entspricht und Ihr sie nicht für eigene Zwecke nutzt?“

Charity rümpfte brüskiert die Nase. „Damit würde ich Jenna verletzen, und das würde ich nie tun. Sie ist meine Freundin. Ich habe meinen Ruf aufs Spiel gesetzt, um an die Briefe zu kommen.“

Der Earl betrachtete sie eingehend. Charity hasste die dabei entstehende Spannung. Sie kam ihr heikel vor.

„Werft sie ins Feuer. Zerstört sie auf der Stelle und beweist, dass Ihr Jenna nicht schaden wollt.“

Statt ihm zu gehorchen, faltete Charity das Bündel zusammen und steckte es sich unters Hemd zwischen die Brüste. Er riss die Augen weit auf, bevor er erstarrte. Solange Jenna die Briefe nicht selbst in Händen hielt, um sich von deren Vollzähligkeit zu überzeugen, würde sie sich sorgen, dass der Viscount noch welche besaß. Nein, Charity würde die Briefe selbst übergeben, damit Jenna sie eigenhändig vernichten konnte.

„Wenn Ihr glaubt, dass ich die Briefe nicht dort heraushole, irrt Ihr Euch, Mylady.“

Er sagte es auf solch nachsichtige, höfliche Weise, dass es einen Moment dauerte, bis die Tragweite seiner Worte durchsickerte. „Ihr seid doch ein Gentleman, Mylord, und würdet mich nicht auf unangemessene Weise anfassen.“ Wobei sie sich ganz darauf verließ, dass er tatsächlich ein Ehrenmann war.

„Ihr versteht die Sache gänzlich falsch, Mylady. Es ist keineswegs unehrenhaft, einen Dieb daran zu hindern, sich mit Briefen aus dem Staub zu machen, die Jennas Ruf ruinieren könnten. Ihr zwingt mich, gegen meine Ehre zu verstoßen.“

So ein Strolch! Charity war bewusst, dass es dem Earl zuwider war, in einen Skandal verwickelt zu werden. Aus diesem Grund verhielt er sich stets scheußlich korrekt. Und dieser anständige Mann näherte sich ihr gerade mit tödlicher Anmut in jedem Schritt. Charitys Knie wurden weich. Dieser Mann würde doch tatsächlich die Briefe zwischen ihren Brüsten herausziehen.

Statt zurückzuweichen, glitt Charity flink nach vorn, die Hände in einer Boxerpose zu Fäusten geballt.

„Ihr könnt boxen?“

„Und ob“, sagte sie gedehnt. „Ich bin durchaus in der Lage, Euch einen Kinnhaken zu verpassen.“

Das brachte ihn nur kurz aus der Fassung, dann grinste er belustigt. „Es gibt nicht viel, was mich zum Staunen bringt, Lady Charity.“

Wer war dieser Mann?

„Ihr seid doch nicht etwa der verschollene Zwilling des Earls?“

Das würde zumindest sein Verhalten erklären. Solche überraschenden Wendungen kannte sie aus ihren romantischen Schauerromanen.

Der Earl tänzelte vorwärts, sie drehte sich gewandt aus seiner Reichweite.

„Ich bin beeindruckt.“

„Ich freue mich, dass Ihr mit mir zufrieden seid“, sagte sie mit einem spöttischen Grinsen und steuerte auf die Tür zu. Sobald sie hindurch war, würde sie davonstürmen, als wäre der Teufel hinter ihr her.

„Habt Ihr das Kämpfen und das Aufbrechen von Schlössern an ein und demselben Ort gelernt?“

Wie lange folgte er ihr schon? In dem Bestreben, ihre Bestürzung zu verbergen, verzog sie die Lippen zu einem geheimnisvollen, aber spöttischen Lächeln.

Seine blauen Augen funkelten belustigt. „Ich wusste gar nicht, dass es am Berkeley Square 48 dermaßen interessant zugeht.“

Ihr Herz hämmerte so schmerzhaft gegen die Rippen, dass sie kaum atmen konnte.

Woher wusste er von dem geheimen Damenklub? Jenna hatte ihm bestimmt nicht verraten, dass sie dort Mitglied war! „Was wisst Ihr vom Berkeley Square 48?“, fragte sie mit fester Stimme.

Unfassbar schnell stürzte sich der Earl auf Charity, packte sie an der Taille und drehte sie so, dass er mit ihr auf der Chaiselongue beim Kamin landete. Charity versuchte sich unter ihm herauszuwinden, wobei sie versehentlich die Beine öffnete, wodurch eine perfekte Lücke entstand, in die er sich legte. Charitys Puls raste so sehr, dass sie glaubte, zum ersten Mal in ihrem Leben in Ohnmacht zu fallen. Der Earl war groß, hatte breite Schultern, eine schlanke Taille und Hüfte und muskulöse Beine. Sie spürte ihn bis hinunter in die Zehen, die sich in ihren Stiefeln krümmten. Allerdings fand sie seinen Körper auf ihrem äußerst angenehm. Zu ihrem Erstaunen rollte ein wohliges Ziehen durch ihren Körper, und ein seltsames Gefühl brachte ihre Brustwarzen dazu, sich zu verhärten.

Seit wann duftete der Earl denn so gut? Nicht, dass sie jemals Grund gehabt hätte, an ihm zu schnuppern. Diese albernen, wirren Gedanken, die sie auf die höchst ungewöhnliche und skandalöse Situation zurückführte, trieben Charity die Röte ins Gesicht. Sie musste unbedingt die Kontrolle über eine Lage gewinnen, die ihr viel zu schnell entglitten war.

Charity erstarrte, da er mit nur einer Hand gleich beide Handgelenke packte und ihre Arme nach oben streckte. Unwillkürlich stieß sie einen gedämpften Schrei aus. Dennoch wurde Charity von einer eigenartigen Erregung überschwemmt, und sie hob abrupt den Kopf und schaute ihn an. Der Earl hatte die Lider geschlossen, seine Haut über den anmutigen Wangenknochen war gestrafft. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel, und er war ihr so nah, dass sie seinen Puls hektisch am Hals pochen sah.

Er öffnete die Augen und sah sie unverwandt an. „Ich werde die Briefe dort herausholen, Lady Charity.“

Sie leckte sich die Lippen. „Wenn Ihr mich anfasst, könnt Ihr auch gleich bei meinem Bruder um meine Hand anhalten.“

Die starke Anspannung des Earls übertrug sich auf sie, Röte überzog seine Kieferpartie, und er verengte die Augen zu Schlitzen. „Nichts könnte mich dazu bringen, um die Hand einer wilden Göre zu bitten.“

Charity fühlte sich gedemütigt, funkelte ihn aber nur an. Dieser Sermon war ihr nur allzu vertraut, wurde sie doch oft von ihrem Bruder und ihrer Tante zurechtgewiesen, dass sie wegen ihrer unkonventionellen Art nie die Bewunderung eines Mannes genießen würde. Der Earl hockte auf einem Knie zwischen ihren Beinen und verlagerte das Gewicht so, dass er mit der freien Hand ihr geborgtes Hemd aufknöpfen konnte. Sie schnappte nach Luft.

Mit funkelnden Augen sah er auf sie herab. „Wir können das Problem lösen, indem Ihr die Briefe selbst dort herausholt.“

„Nein.“ Sie würde sie nur Jenna persönlich geben. Der Earl würde sie ihr schon entreißen müssen, sonst würde sie sich ewig vorwerfen, einfach nachgegeben zu haben. Charity wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn herunterzustoßen und sich aus dem Staub zu machen. „Macht Euch ans Werk“, spottete sie.

Bewunderung trat auf sein Gesicht, und seltsamerweise erwärmte sich dabei ihr gesamter Körper. Bevor sie etwas sagen konnte, ertönten im Flur Geräusche, denen lautes Gelächter folgte, und beide drehten den Kopf abrupt zur Tür. Für einen Mann seiner Größe bewegte sich der Earl ausgesprochen anmutig und flink in die Senkrechte, streckte ihr die Hand entgegen und half ihr beim Aufstehen.

„Wir müssen sofort hier weg!“

„Hinter die Vorhänge“, flüsterte sie hektisch.

Kurz bevor sich die Tür öffnete, eilten sie zu den schweren Stoffbahnen und verschwanden dahinter.

„Seid leise“, zischte er. „Nicht, dass wir erwischt werden.“

Sein warmer Atem strich sanft kitzelnd über ihr Ohr, küsste die empfindliche Haut in ihrem Nacken. Ihr Herz tanzte in einem rasanten Tempo. Charity war schleierhaft, warum sie alles so aufregend fand. Dass sie jederzeit auffliegen konnten, erschreckte sich nicht, der Nervenkitzel erfreute sogar ihre Sinne. Falls der Viscount sie ertappte, würde sie ihm für das, was er Jenna angetan hatte, mit Vergnügen einen Schlag versetzen. Gewiss war sie längst über alle Berge, bis er zu sich kam und das Haus in Aufruhr versetzte oder sie gar identifizierte.

„Habt Ihr keine Angst, dass der Viscount die ausgebeulten Vorhänge bemerkt und der Sache auf den Grund geht?“, fragte der Earl dicht an ihrem Ohr.

„Nein“, flüsterte sie. „Ganz und gar nicht.“

„Ihr seid entweder mutig oder dumm.“

„Weder noch, nur entschlossen.“

„Bemerkenswert.“

Warum klang er so fasziniert?

„Keine Sorge, falls Viscount Sallis uns entdeckt, gebe ich mir größte Mühe, Euch zu beschützen“, flüsterte sie grinsend, was er glücklicherweise nicht sehen konnte.

„Mir sind vorhin Eure außerordentlich kräftigen, für eine Lady recht ungewöhnlichen Arme aufgefallen. Keine Angst, natürlich werde ich diesen meine Sicherheit anvertrauen.“

Sie lachte gedämpft, erstaunt darüber, wie sehr sie das Geplänkel genoss, obwohl er gerade impliziert hatte, dass er sie burschikos fand. Dennoch rümpfte Charity die Nase. „Ich bin so anmutig und grazil wie eine Gazelle.“

„Eine Gazelle?“, murmelte er ungläubig.

„Allerdings.“

„Dann ist es vermutlich auf Euren Einfluss zurückzuführen, dass sich meine Schwester in den letzten Monaten so drastisch verändert hat.“

Nein, dafür waren alle Ladys am Berkeley Square 48 verantwortlich. „Gern geschehen“, sagte Charity.

„Das sollte kein Kompliment sein“, sagte er in seltsam trockenem Tonfall.

„Dennoch habt Ihr sie nicht davon abgehalten, den Berkeley Square 48 zu besuchen."

„Jennas Glück liegt mir eben am Herzen“, erwiderte er todernst.

Charity verstummte und lauschte, wie der Viscount die Frau, die er mit nach Hause gebracht hatte, mit blumigen Komplimenten überhäufte. Der Earl schwieg, sein Körper angespannt. Charity spürte ihn hinter sich, und obwohl er sie nicht berührte, nahm sie seine Körperwärme in Form eines leichten Lufthauchs wahr, der seitlich über ihren Hals strich. Ihre Bauchmuskeln spannten sich an.

Was war das für ein flüchtiges Gefühl? Doch nicht etwa Begierde? Diesen Mann hinter sich zu spüren, brachte ihre Sinne auf eine Weise ins Strudeln, wie sie es noch nie erlebt hatte. Der Gedanke war sowohl berauschend als auch unangenehm.

Kapitel drei

Lady Charity wurde unruhig. Offenbar machte es sie nervös, mit Ethan hinter den Vorhängen zu stecken. Unerklärlicherweise bemerkte er auf einmal Details: den subtilen Duft ihres Parfüms und auch ihren eigenen Geruch, den Druck ihres herrlich runden Pos an seinen Oberschenkeln und dass sie ihm kaum bis zum Kinn reichte. Dennoch schien ihre Größe perfekt zu sein, sollte er sie an sich ziehen.

Er spürte, wie sie hektisch und ruckartig einatmete. Die Lady war sich ebenfalls bewusst, wie nah sie sich waren. Viel zu nah.

„Ihr hättet Euch unter dem Schreibtisch verstecken sollen“, murmelte sie.

Diese lächerliche Aussage verdiente keine Antwort.

„Warum bricht ein Mann Eures Formats in das Haus des Viscounts ein?“, fuhr sie sichtlich verärgert fort.

„Offen gestanden habe ich mit dem Gedanken gespielt, ihn zu erschießen. Das erschien mir zweckmäßiger und weniger aufwendig.“

Ihr? In einem Duell?“

Sie klang verblüfft und fasziniert zugleich. Er spürte die vertraute Spannung aus seinem Inneren an die Oberfläche steigen, als sie sich erneut bewegte und ihm dabei noch näher kam. Ein unbekanntes Gefühl erbebte in Ethan. Möglicherweise hatte er schon viel zu lange keine Geliebte mehr gehabt. Das dürfte der einzige Grund sein, dass Lady Charitys Nähe ihn nicht unberührt ließ. Lügner, warnte eine spöttische Stimme. Das war nicht der verdammte Grund, sondern es gab einen anderen, unerklärlicheren Auslöser.

Dennoch fragte er sich, warum er diese Frau auf so qualvolle und intensive Weise wahrnahm. Es war grässlich verunsichernd. Er dachte an die Gelegenheiten, zu denen er sie im ton gesehen hatte: meistens auf Bällen, einmal im Britischen Museum, das sie mit seiner Schwester und einigen anderen Frauen besucht hatte, wobei alle in ihrer eigenen Welt oder der Geheimhaltung ihres Klubs gefangen gewirkt hatten, auf dessen Existenz er vor einigen Monaten gestoßen war.

Obwohl er sich nicht übermäßig zu ihr hingezogen gefühlt hatte, war ihm einiges an ihr aufgefallen. Lady Charity wurde auf Bällen nicht oft zum Tanzen aufgefordert und hielt sich mit ihren Freundinnen am Rande auf, dennoch hatte er bemerkt, dass ihr Musik und Tanz gefielen. Sie beobachtete mit erfreuter Miene die Menge und wippte mit den Füßen im Takt der Musik.

Ihre offensichtliche Freude hatte ihn manchmal in ihren Bann gezogen und seine Neugierde geweckt, die er jedoch entschieden beiseitegeschoben hatte.

Mehrfach hatte er mitbekommen, wie andere verwöhnte Debütantinnen sie Mauerblümchen genannt hatten.

Ihr sommersprossiges Gesicht mit den funkelnden grünbraunen Augen wirkte intelligent und irgendwie staunend.

Zudem war sie diejenige, die seine Schwester überredet hatte, einem geheimen Damenklub beizutreten, zu dessen Treffen Jenna sich aus ihrem sicheren Zuhause schlich.

Heute hatte er gesehen, was für eine furchtlose und rücksichtslose Teufelin sie war. Offenbar sollte er Jennas Freundschaft mit ihr noch einmal überdenken und sie unterbinden.

In dem Fall musste er sich wohl auf einen Sturm gefasst machen, den Lady Charity wegen seiner inakzeptablen Selbstherrlichkeit, wie sie es nennen würde, auslösen würde. Sie drehte sich herum und blickte mit blassem Gesicht zu ihm auf, was er im Halbdunkeln gerade so erkannte. Sie vollführte eine Bewegung nach links, wobei sie ihn streifte. Ethan bemerkte weiche, runde Brüste und eine schlanke Taille. Er fluchte im Stillen und zog den Bauch ein, weil eine gewisse Reaktion in ihm aufzusteigen begann.

„Ruhig, Frau“, zischte er. „Wir wollen den Viscount und seine Begleitung doch nicht auf die Vorhänge aufmerksam machen.“

„Ich werde vorsichtig sein.“

„Was soll das heißen?“

„Ich will überprüfen, ob das Fenster ganz geöffnet ist. Vielleicht können wir unbemerkt hinausklettern.“

Du liebe Güte. „Es mag Euch entgangen sein, aber wir befinden uns im Obergeschoss. Wollt Ihr Euch das Genick brechen?“

„Ich könnte es bewerkstelligen“, flüsterte sie stur.

„Wahrscheinlicher ist, dass ich gezwungen sein werde, Eure waghalsige Haut zu retten.“

Sie zischte und drehte sich um, und die Rundung ihres üppigen Pos drückte gegen seinen Oberschenkel. Zu Ethans Verlegenheit strömte das Blut in seine Männlichkeit, die sich vor Erregung versteifte. Er schluckte ein leises Knurren hinunter und versuchte, Platz zwischen ihren Körpern zu schaffen, ohne Geräusche zu verursachen. Lady Charity durfte nicht mitbekommen, wie unbeherrscht sein Körper und Geist waren.

Diese unverzeihliche Reaktion ihr gegenüber war einfach lächerlich. Ethan war sich nicht sicher, ob er ihr trauen konnte. Auch wenn sie mit Jenna befreundet war, schloss das nicht aus, dass sie genauso bösartig war wie andere Frauen des ton. Jenna war ohnehin schon ein Nervenbündel. Wenn diese Briefe in die falschen Hände gerieten, könnte sie ruiniert sein.

Das würde er niemals zulassen.

Ethan war versucht, sie mit einem Arm zu packen und ihre Empfindsamkeit zum Teufel zu jagen, indem er in ihr Hemd fasste und die Briefe herausfischte. Krampfhaft verdrängte er den Impuls, atmete tief durch und fand sein übliches Gleichgewicht aus logischem und praktischem Denken. „Ihr habt also vor, Jenna die Briefe auszuhändigen.“

„Ja, gleich morgen früh“, flüsterte sie. „Ich verspreche es!“

„Warum vertraut Ihr sie mir nicht jetzt an?“

Schweigen breitete sich aus. Schließlich sagte Charity: „Weil Ihr sie lesen, Jenna für kompromittiert halten und sie zu einer Vermählung mit dem Schuft zwingen könntet.“

Ethan erstarrte, denn sie hatte recht. Wenn der Viscount sich zu viele Freiheiten bei seiner vornehmen Schwester herausgenommen hatte, würde er ihn zur Rechenschaft ziehen. „Seinen Rang zu missachten, hat nun mal Konsequenzen. Jenna war sich dessen bewusst, als sie dem Viscount intime Briefe schickte“, sagte er nüchtern.

Diese verfluchte Frau rammte ihm doch tatsächlich den Ellbogen in den Bauch.

„Deswegen leidet Jenna ja so. Sie befürchtet, dass Ihr sie zwingt, sich mit diesem Mann zu vermählen“, flüsterte Lady Charity erbost. „Viscount Sallis hat bewiesen, dass er ein wankelmütiger Schuft ist. Diese Ehe würde Jenna ins Unglück stürzen.“

„Er wäre eine gute Partie, und sie war ihm offensichtlich ausreichend zugeneigt, um ihm intime Briefe zu schicken.“

„Er hat eine andere Frau geküsst, während er um Jenna geworben hat! Sie verdient einen Mann, der sie von ganzem Herzen liebt und ihr treu ist.“

„Von ganzem Herzen?“, fragte er, sich seines spöttischen Tonfalls bewusst.

Sie wirbelte herum und schlug ihm gegen die Brust. „Ja, dieses Ding hier.“

Es hatte ihn schon immer fasziniert, dass die Menschen sich bei der Wahl eines Ehepartners auf ein Organ verließen, das Blut durch den Körper pumpte. Er verließ sich lieber auf logisches Denken, die romantisch veranlagte Jenna hingegen weniger, und diese Frau war offensichtlich genauso.

Als Jennas Name gefallen war, hatte eine Wut in Charitys Tonfall gelegen, durch die sich mehrere Knoten in Ethans Magen gelöst hatten. Dennoch musste er sie warnen, damit sie wusste, dass es ihm ernst war. „Ihr dürft Jenna die Briefe geben. Und zwar in wenigen Stunden. Solltet Ihr Jenna Schaden zufügen, werde ich Euch vernichten.“

Sie gab erneut ein brüskiertes Schnauben von sich. „Die Warnung ist angekommen“, murmelte sie. „Eure Feindseligkeit ist ungerechtfertigt.“

Ethan hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. Er bezweifelte, dass er sie eingeschüchtert hatte. Nach außen hin wirkte Lady Charity vornehm, im Inneren war sie aber ein Teufelskerl und jederzeit imstande, einen Skandal auszulösen.

Sie fluchte gedämpft und drehte sich wieder um.

„Ihr habt also auch ein schmutziges Mundwerk. Küsst Ihr Eure Verehrer mit diesem Mund, Lady Charity?“

Ihr empörtes Keuchen wegen seiner unflätigen Stichelei ertönte in dem engen Raum. Da sie schon wieder Anstalten machte, sich herumzudrehen, schlang er den Arm um ihre Taille und hielt sie davon ab.

Sie hielt erstaunlich still in seinem Griff. „Aber Lord Ralston, macht Ihr mir etwa schöne Augen?“, murmelte Lady Charity sarkastisch.

„Was für ein abwegiger Gedanke“, sagte er und verkniff sich ein Grinsen, als sie beleidigt schnaubte. „Bei Eurem Gezappel grenzt es an ein Wunder, dass der Viscount uns noch nicht entdeckt hat.“

Sie entspannte sich in seinem Arm, ihr Rücken und ihr üppiger Hintern pressten sich zu fest gegen ihn. Sie zu spüren war überwältigend. Ethan begehrte einen unbedachten Moment lang diese Frau, die ihm vorhin im Flur wie eine Gestalt aus einem seiner Träume erschienen war und sich nun an ihn schmiegte. Er gestattete sich, sich auszumalen, wie es wäre, sie zu küssen. Nur einen Kuss, unter Umständen auch zwei. Tiefe, leidenschaftliche Küsse auf diesen süßen, großen Mund, den viele für unattraktiv hielten. Er gestattete sich, sie in Gedanken zu schmecken. An ihrem Hals zu lecken, hinunter zu ihrem Bauch … und dann …

Genug!

Er ballte im Geiste eine Faust, packte die lüsternen Bilder und schmetterte sie in die Vergessenheit. Lady Charity Rutherford war nicht die Art von Frau, die in seinen sinnlichen Fantasien auftauchen sollte. Diese Ehre gebührte ausschließlich seiner künftigen Gattin, die eine Frau mit vornehmem Zartgefühl sein würde. In Wahrheit fand er Charitys gesamte Familie mit ihrem auffälligen, extravaganten Gehabe peinlich. Er atmete tief durch und ließ seinen Arm um ihre Taille sinken.

Sie zappelte nervös, und er spürte, dass sie erpicht darauf war, das Versteck zu verlassen. Diese Frau war wohl nicht fähig, lange stillzuhalten. „Der Viscount wird sicher bald zu Bett gehen“, flüsterte er.

„Was glaubt Ihr, warum er …“

Stoff raschelte, ein unverwechselbares Stöhnen erklang, und sie verstummte.

Verfluchter Mist.

Ethan hatte gehofft, dass der Viscount seine Begleiterin aus einem anderen Grund zu so später Stunde in sein Haus gebracht hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass sie so lange gebraucht hatten, bis sie zur Sache kamen, war er davon ausgegangen, dass sie diese Aktivität in ein anderes Zimmer verlegen würden. Verflucht noch mal. Gleich würden Laute zu hören sein, die jeder Frau die Schamesröte ins Gesicht trieben, selbst einem unbändigen Wildfang wie Charity.

„Was sind das für Geräusche?“, flüsterte sie. „Das klingt äußerst beunruhigend.“

„Nicht hinsehen“, befahl er unwirsch.

„Warum nicht?“, fragte sie und senkte weiter die Stimme. „Glaubt Ihr, der Rüpel tut ihr weh?“

„Im Gegenteil“, sagte Ethan knapp.

Es herrschte eine angespannte Stille, bevor diese verfluchte Frau sagte: „Ich verstehe nicht, was Ihr meint.“

„Ihr müsst meine Anweisungen nicht verstehen, sondern befolgen.“

Ein erstickter Laut entschlüpfte ihr. „Dieser Mann ist unerträglich.“

„Das habe ich gehört, Lady Charity.“

Sie schnaubte. „Ich werde Euch nicht blind gehorchen. Wer gibt Euch das Recht, mir Befehle zu erteilen? Also wirklich, was sind das überhaupt für Geräusche? Ich schwöre, dieser Schuft tut ihr weh.“

„Er bereitet ihr Vergnügen“, sagte er und seufzte gequält.

„Vergnügen?“

„Ja.“ Ethan spürte die Gedanken dieses kleinen Biestes regelrecht.

„Welche Art von Vergnügen?“

„Grundgütiger“, murmelte er. „Seid Ihr immer so neugierig?“

„Ja.“

Ethan merkte, dass er direkt in die Falle getappt war.

„Da Ihr es mir nicht erklären wollt“, sagte sie, nachdem er nicht antwortete, „überzeuge ich mich selbst davon, dass sie nicht verletzt wird und es sich tatsächlich um dieses mysteriöse Vergnügen handelt, von dem Ihr sprecht.“

„Was passiert, wenn er ihr doch wehtut?“, fragte er, jetzt doch neugierig geworden.

„Dann retten wir sie natürlich und kümmern uns später um unseren Ruf.“

Wir. Seltsamerweise gefiel ihm, dass sie ihn in die imaginäre Rettung einbezogen hatte. „Ich möchte, dass Ihr mir vertraut und nicht in diese Bibliothek seht.“ Er ließ seine Stimme reserviert und streng klingen und erwartete sofortigen Gehorsam.

Ethan blinzelte, als sie sagte: „Ich verspreche, äußerst diskret vorzugehen.“

Wie um sie weiter anzustacheln, gab die Frau in der Bibliothek ein lautes Quietschen und anschließend ein lang gezogenes, gehauchtes Stöhnen von sich.

Lady Charity versteifte sich und beugte sich ein wenig nach vorn. „Was tun sie da?“, flüsterte sie und schob die behandschuhten Hände zwischen die Vorhänge.

Ethan hielt die Teufelin zurück, indem er sie an der Hüfte packte, wobei er darauf achtete, nicht allzu fest zuzugreifen, um ihr keine blauen Flecke zu bescheren. Sie keuchte, worauf er über ihren Kopf hinweg zwischen den Vorhängen hindurchspähte. Durch die Lücke, die diese unerhörte Person geschaffen hatte, sah Ethan den Viscount vor der Dame knien, die sich auf dem Schreibtisch befand. Ihr Kleid war bis zur Taille hochgeschoben und Sallis hatte das Gesicht in ihrem Schoß vergraben.

So ein verfluchter Mist.