Leseprobe Riskantes Versprechen

Prolog

Maxon

Ein Jahr zuvor …

Ich hatte schon viele Menschen auf brutalste Art und Weise getötet. Der Tod war mir in meinem Milieu nichts Neues. Er besuchte uns täglich und jedes Mal war ich froh, dass nicht ich derjenige war, der ihn heute begleiten musste.

Nein, nicht jedes Mal.

Gerade hätte ich ihn wie einen alten Freund begrüßt, ihn in die Arme geschlossen und wäre freiwillig mit ihm gegangen, wenn das bedeutet hätte, dem Schmerz zu entfliehen, der sich in meiner Brust breitmachte. Ich kannte die Schreie, die Menschen ausstießen, wenn sie Stück für Stück zerschnitten, zerteilt und durchlöchert wurden. Hohe, flehende Schreie, die sich ins Trommelfell bohrten und sich im Gehirn für immer festsetzten. Laute, die man niemals wieder vergaß. Das Kreischen einer Mutter nach ihren Nachkommen. Das Betteln eines Ehemannes, wenn er zusehen musste, wie seiner Frau Unaussprechliches geschah. Das Wimmern eines ängstlichen Kindes. Und ich wusste, wie es roch, wenn Fleisch verbrannte, Haut angesengt wurde und Haare in Flammen aufgingen. Das Feuer hinterließ immer einen widerwärtigen, blutigen Geruch nach Eisen, Kohle und Ruß. Als würde jemand verdorbenes Fleisch auf einen Grill legen und es solange darauf liegen lassen, bis von dem Stück nicht mehr übrig war als ein Häufchen Asche. Der Gestank biss in der Nase, setzte sich dort fest und blieb selbst Tage danach bestehen, sodass ich auch Wochen später immer noch glaubte, die Leichenreste riechen zu können.

Normalerweise war das für mich in Ordnung. Es waren eben nur genau das: Leichenreste. Unbedeutende Gestalten, wertlose menschliche Körper. Abtrünnige, die es verdient hatten, dass auch der letzte Rest von ihnen von dieser Erde verschwand. Doch an der jetzigen Situation war gar nichts normal. Ich war es nicht gewohnt, das Opfer zu kennen. Der angebrannte, stechende Geruch vermengte sich mit dem Aftershave, das er immer getragen hatte. Der Gestank kroch mir tief in die Nase. Mir drehte sich der Magen um. Der Ekel vermischte sich mit dem Schmerz in meinem Inneren. Beides brachte mich zum Würgen. Am liebsten hätte ich mich übergeben, um meine eigenen Gefühle loszuwerden, doch ich bezweifelte, dass das wirklich helfen würde. Also starrte ich stattdessen auf das bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Fleisch vor meinen Füßen, das große Ähnlichkeit mit Erbrochenem hatte. Die Klumpen, die stellenweise nur noch mit Haut und Fleisch überzogen waren, lagen in einer Lache aus Flüssigkeiten, von denen ich nicht sagen konnte, was genau sie waren. Blut beschrieb es am besten, aber nicht gänzlich, immerhin schwamm in dem dunklen Rot auch eine gelbliche Masse. War das Körperfett? Nicht, dass er davon viel gehabt hätte. Er.

Ich war siebenundzwanzig Jahre alt, aber ich schaffte es dennoch nicht, seinen Tod beim Namen zu nennen. Ich machte aus ihm einen Unbekannten. Dabei hatte ich ihn besser gekannt als irgendjemand sonst in diesem Raum. Ich war seine rechte Hand gewesen, sein Eingeweihter, dem er alles erzählen konnte, dem er uneingeschränkt vertraut hatte.

Ich war sein Sohn.

Vergangenheit. Denn nun war er tot. Von ihm war nichts weiter übrig, als blutige, fleischige Reste auf dem Boden und dem Bett. Als wären die irdischen Überreste mit Absicht überall verteilt worden. Sie waren durch die verkohlte Matratze getropft. Sie taten es immer noch.

„Es war ein Unfall, ein schrecklicher – gar keine Frage – und wir müssen herausfinden, wie das Feuer entstehen konnte – aber es war eben nur ein Unfall.“ Die Stimme von Onkel Roman schallte durch den Raum und unterbrach meine Gedankengänge damit für einen Moment. Ich riss meinen Blick von der Leiche vor mir los und hob den Kopf. Ich fixierte die grünen Augen, die meinen so ähnlich waren, und suchte darin nach demselben Schock, den ich empfand. Dad war gestorben. Verbrannt in den Flammen, von denen bisher niemand wusste, woher sie gekommen waren. Dieser Raum war besser gesichert als jede militärische Einrichtung, Dad war schließlich nicht irgendjemand. Nein, er war der Don der Heels Bratwa. Der Organisation, die seit Jahren fest in der Hand meiner Familie war, und über den ganzen Untergrund von Michigan herrschte. Einer Organisation, der nun ihr Anführer fehlte, bis der nächste Don aus der Asche des alten emporstieg.

Das würde nicht lange dauern.

Onkel Roman hatte sofort reagiert, als die Nachricht des Feuers die Runde gemacht hatte. Er war sogar vor mir hier gewesen, weil ich noch von der Frau heruntersteigen musste, in der ich bis vor Kurzem noch meinen Schwanz vergraben hatte.

Tränen brannten in meinen Augen. Hatte ich mich jemals vor mir selbst dafür geekelt, jede Nacht eine andere Schlampe mit in mein Bett zu nehmen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Aber in dem Augenblick, als Ty wie ein Wahnsinniger an meine Tür geklopft und flehend verlangt hatte, dass ich mit in Dads Schlafzimmer kam, hatte sich die Feuchtigkeit der Frau wie pures Gift an meinem Schwanz angefühlt. Ätzend und schmerzhaft. Ich war aufgesprungen und hinter Ty her geeilt. Ob sie immer noch oben in meinen Räumen lag und darauf wartete, dass ich zurückkam? Wahrscheinlich. Das Haus war ein verdammtes Labyrinth. Niemand kam hinaus, ohne dass er von jemandem begleitet wurde, der den Weg kannte. Genauso wenig wie einer hineinkommen konnte, ohne Einladung oder Lageplan. Dennoch musste es irgendjemand geschafft haben, dieses Feuer zu legen. Und wenn es niemand von außerhalb sein konnte, dann war der Mörder noch hier.

„Er wurde zerteilt.“ Meine Stimme war leise. Die Worte waren nicht für jemand anderen bestimmt gewesen. Nein, sie waren nur für mich. Es laut auszusprechen, half mir beim Denken. Ein Teil von Dad – der größte – lag verkohlt auf den Überresten, die am Bettende thronten und irgendwann einmal ein Kissen gewesen sein mussten. Aber weitere Leichenreste befanden sich weiter unten, obwohl Dads Körpergröße keine zwei Meter bemessen hatte. Das musste bedeuten, dass er bereits in zwei Hälften zerteilt gewesen war. Oder? Fuck, ich hatte davon keine Ahnung. Knochen wurden durch Feuer brüchig. Das wusste ich. Aber konnte es auch einen Körper in der Mitte durchtrennen und den Kadaver im Raum verteilen? Nein, das war Bullshit! So gut hatte ich dann doch im Biologieunterricht aufgepasst.

„Du hast Articus gehört. Das Feuer hat ihn so zugerichtet.“ Roman machte eine wegwerfende Handbewegung. Ein Lächeln zierte seine Lippen, obwohl mein Bruder nur wenige Meter mit gesenkten, bebenden Schultern neben ihm stand und zu verbergen versuchte, dass er um seinen Don, seinen Dad, sein Idol weinte. Tys Schluchzen war kaum wahrnehmbar, aber ich hörte es trotzdem. Ich wollte ihn trösten, aber bevor ich mich auf ihn zubewegen konnte, huschte eine Gestalt an ihn heran und legte einen Arm um seinen zitternden Körper. Der Anblick beruhigte mich und ließ die Übelkeit ein wenig vergehen. Ja, Dad war tot, aber wir hatten immer noch uns. Ty, Lucius und ich. Wir würden das überstehen. Als Brüder. Irgendwie.

„Stimmt das, Art?“ Ich drehte den Kopf ein Stück. Gerade genug, um Articus im Augenwinkel zu sehen, aber meinen Onkel gleichzeitig nicht aus den Augen zu lassen. Irgendwas stank hier und damit meinte ich nicht die klebrigen Leichenreste, die wie zäher Kaugummi auf der verkohlten, aufgerissenen Matratze verteilt waren, die sich mit dem Löschwasser vollgesogen hatte. Es machte für mich einfach keinen Sinn. Ja, das Feuer war stark gewesen und in Dads Nachtschränken war bestimmt genügend Spiritus, um es lange brennen zu lassen, was auch den zertrennten Körper erklären würde. Aber irgendwie glaubte ich nicht, dass sein Tod so abgelaufen war. Das Gemisch aus Flüssigkeiten floss über das Parkett – direkt auf meine Füße zu. Ich erschauderte und zog das Hemd, das ich mir notdürftig übergezogen hatte, enger um meinen Körper.

Art nickte zustimmend. Auch in seinen Augen schwammen Tränen. Doch da war noch mehr als die Trauer. Scham, Angst. Er sah mich nicht an. Nicht wirklich. Seine geweiteten Pupillen fixierten meinen Brustkorb, den Hals und meine dunklen, abstehenden Haare. Aber niemals mein Gesicht. „Es tut mir leid, Sir.“ Seine Stimme klang nicht so fest wie sonst. Die Antwort kam nur sehr zögerlich über seine Lippen und das war sonst nie der Fall. Er war Wissenschaftler. Er glaubte an seine Untersuchungsergebnisse. Für ihn waren sie die absolute Wahrheit. Unsicherheiten gab es dabei nicht. Also warum zögerte er jetzt? Ich kannte die Antwort. Tief in meinem Inneren wusste ich es bereits, als Ty mich geholt hatte: Dad war nicht das Opfer eines Unfalls. Egal, was hier geschehen war, es war vorsätzlich gewesen.

„Geht!“, befahl ich laut und biss fest die Zähne zusammen, als sich mein Verdacht weiter bestätigte.

Dad wurde ermordet.

Ich war mir ganz sicher. Die Frage war nur wie. Und warum.

„Maxon, wir sollten unbedingt aufräumen, damit deine Schwester sich das nicht ansehen muss.“ Onkel Roman schnappte sich den letzten verbliebenen Zipfel der ansonsten eingeäscherten Decke und zog ihn vom Bett. Wasser tropfte von dem angekokelten Stoffstück. Die Knochenreste wurden über die Matratze bis zum Rand gezogen. Einer der Knochen fiel auf den Boden. Durch den Aufschlag splitterte er weiter und zerbrach in mehrere Teile. Ich keuchte erschrocken.

„Ich sagte, geht!“, wiederholte ich. Diesmal klang meine Stimme lauter. Strenger. Sie sollten verschwinden und überhaupt nichts anfassen. Ich hatte genug Tatorte verunreinigt und dafür gesorgt, dass die Bullen uns nicht auf die Schliche kamen, um das zu wissen. Jeder Fingerabdruck, jeder Schuh, der durch die Blutflecke schritt und jeder Atemzug veränderte die Beweise. Aber genau das wollte er, nicht wahr? Oder bildete ich es mir nur ein? Trübte meine Trauer meine Fähigkeit logisch zu denken? Vielleicht. Aber da war dieses Funkeln in Romans Augen – und hatten Vater und er nicht Streit gehabt?

„Du hast hier nicht die Entscheidungsgewalt, Maxon“, sagte er und ein drohender Unterton schwang in seiner Stimme mit. Er fuhr sich durchs braune Haar und grinste mich schadenfroh an. Obwohl die Leiche seines Bruders noch nicht einmal abgekühlt war, riss er sich bereits die Macht unter den Nagel.

Wut stieg in mir hoch. Sie drängte die Trauer in mir zurück und breitete sich in meinen Adern aus wie flüssiges Feuer. Ich wollte meine Hände um seinen Hals legen und zudrücken, bis seine hässliche Visage blau anlief und ihm die Luft ausging. Es wäre wahrscheinlich befriedigender als der schlechte Fick, den ich früher an diesem Abend gehabt hatte, doch es würde mich nicht weiterbringen. Wenn ich seinen Hass auf mich zog, brachte ich damit nur meine Brüder und mich in Gefahr. Es würde Dad nicht helfen. Dabei wollte ich genau das. Ich wollte nicht, dass er so in die Geschichte einging. Getötet durch einen Unfall. Das war eines Dons nicht würdig. Nein, ich brauchte ein anderes, ein besseres Ende. Und eine gottverdammte Erklärung!

„Ich möchte nur einen Moment mit ihm allein sein, Don.“ Ich schauderte. Wie flüssige Säure schmeckte das letzte Wort, das ich an meinen Onkel richtete. Jede Faser meines Körpers wehrte sich dagegen. Mein Gehirn schrie mir zu, dass dieser Titel einzig und allein Dad gehörte. Aber es funktionierte. Romans Grinsen wurde weicher, als ich ihm schmeichelte.

„Ich verstehe.“ Er verzog die Miene für einen Moment mitleidig, aber das Gefühl kam nicht in seinen Augen an. „Räumt das Zimmer“, forderte er und warf einen strengen Blick in die Runde. Sofort reagierten die Anwesenden. Sie stoppten ihre Tätigkeiten und sahen unsicher zwischen Roman und mir hin und her, bis Art den Anfang machte und zum Ausgang ging. Der Rest folgte ihm. Alle, bis auf meine Brüder, die Romans drängende Blicke ignorierten und sich weiter aneinanderklammerten, um sich Halt zu bieten.

„Wir warten vor dem Zimmer“, murrte Roman und zog die Tür hinter sich zu, als er ebenfalls endlich den Raum verlassen hatte. Stille breitete sich aus. Ich genoss die Ruhe für einen Moment. Sie wäre fast tröstlich gewesen, hätte Ty nicht viel zu laut geatmet. Hastig hob und senkte sich sein Brustkorb und zeigte, wie sehr er sich bemühte, seine Tränen zu stoppen. Dabei war ich stolz auf ihn. Ich wünschte, ich könnte auch weinen. Aber ich befürchtete, niemals wieder aufhören zu können, wenn ich einmal damit begann.

„Was ist los, Maxon?“, fragte Lucius und durchbrach damit die Stille. Seine Stimme hallte an den Wänden wider. Früher war mir das Zimmer nie so groß vorgekommen, aber nun erschien es mir riesig, während ich mich winzig fühlte. Und verloren. Sicher, Dad hatte schon lange damit aufgehört, mir bei Aufträgen die Hand zu halten, doch er war immer da, wenn ich einmal nicht mehr weiter gewusst hatte. Nun würde ich mit meinen Problemen zu niemanden mehr gehen können. Der Gedanke war erschreckend. Beängstigend.

„Das war kein Unfall.“ Ich schlang die Arme um meinen Körper, weil ich nicht wusste, was ich sonst mit ihnen tun sollte. Außerdem hoffte ich, es würde gegen die Kälte helfen, die sich in mein Innerstes geschlichen hatte. Stattdessen wurde es schlimmer. Ich fröstelte. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Ich trug nur das Hemd und meine Boxershorts, aber die Temperatur im Haus war dieselbe wie immer. Kuschelige zweiundzwanzig Grad. Daran konnte es also nicht liegen. Nein, die Kälte kam direkt aus meinem Herzen, das sich immer mehr in einen Eisklotz verwandelte, um dem Schmerz zu entgehen, der in mir wütete.

„Max … die Leiche liegt vor uns … und Art sagte …“ Ty brachte nur mühselig die einzelnen Worte hervor. Immer wieder musste er schlucken, um nicht an seinen eigenen Tränen zu ersticken.

„Es interessiert mich nicht, was er sagt. Er lügt.“ Ich wusste nur nicht, wieso. Er war Dads Freund und arbeitete schon seit einer Ewigkeit für unsere Familie. Fuck, Dad hatte ihm sogar das Studium bezahlt. Sollte er sich wirklich gegen ihn gewandt haben? Und wenn ja, wieso wunderte mich das? Jeder war käuflich. Die Frage war nur, wie tief man in die Tasche greifen musste.

„Wir wollen alle nicht, dass es wahr ist, Max. Glaub mir.“ Ty strich sich zittrig eine Strähne hinters Ohr. Die Haare hielten jedoch nicht an Ort und Stelle und fielen wieder in sein Gesicht.

„Ja, ich könnte mir auch Besseres vorstellen, als für unseren Onkel zu arbeiten. Vielleicht sollten wir uns alle zur Ruhe setzen.“ Lucius schnaubte unwillig. Seine Worte hörten sich wie ein schlechter Witz an, aber in seiner Stimme fehlte jede Belustigung. Unser Onkel und er hatten nicht das beste Verhältnis. Fuck, Lucius würde wahrscheinlich nicht einmal seinen Rang behalten dürfen, sobald Roman offiziell den Sitz des Dons übernahm. Und das würde er, auch wenn es eigentlich mein Vorrecht als ältester Sohn meines Vaters gewesen wäre. Da machte ich mir keine Illusionen. Er würde schon irgendwas erfinden, um mich zu diskreditieren. Beispielsweise, dass ich nach Dads Tod emotional zu instabil war, um die Verantwortung eines Dons tragen zu können, oder irgendeinen anderen Scheiß, den er sich zusammendichtete und der nicht der Wahrheit entsprach. Ich war bereit, ein Don zu sein. Nicht bereit war ich dafür gewesen, meinen Dad zu verlieren.

„Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich habe dieses Gefühl.“ Es war nicht wirklich ein Stechen in meinem Magen, aber damit war es am ehesten zu vergleichen. Wie ein penetrantes Pochen, das sich durch meine Eingeweide zog und mir sagte, dass ich ein zweites und drittes Mal auf die Situation sehen musste, um die Wahrheit zu finden. Dad hatte immer gewollt, dass ich darauf hörte, also würde ich das auch jetzt tun.

„Und was sagt es?“ Lucius’ Worte brachten das Eis in meinem Inneren zum Schmelzen. In seiner Stimme lag nichts anderes als Vertrauen. Er glaubte mir. Ohne Beweise, ohne Indizien. Einfach nur, weil er mich kannte und wusste, dass ich einen sechsten Sinn dafür hatte, vor allen anderen zu merken, wenn irgendwas schieflief.

„Dass wir vorsichtig sein sollten“, antwortete ich und warf einen Blick über meine Schulter zur Tür. Sie war immer noch geschlossen. Wenigstens würde uns Roman so viel Zeit lassen, wie wir brauchten.

„Warum?“ Ty fuhr sich mit dem Handrücken über die geröteten Wangen. Seine Tränen schimmerten auf seiner Haut, bevor er die Finger an seiner Jacke abwischte. Im Gegensatz zu Lucius und mir schien er noch nicht im Bett gewesen zu sein.

„Weil wir sonst die Nächsten sind.“ Ich atmete tief durch und versuchte, den Gedanken an den Tod meiner Brüder gleich wieder zu verscheuchen. Ich durfte sie nicht verlieren. Sie waren alles, was ich noch hatte. Dads Verlust traf mich hart. Das bewies der Kloß in meinem Hals, der mir das Sprechen erschwerte. Aber ich würde es überstehen. Irgendwie. Doch Ty und Lucius … Wir waren mehr als Familie. Sie waren alles für mich. Jeden Moment meines Lebens waren sie an meiner Seite gewesen und sie würden es auch bis zu meinem letzten Atemzug sein. Dad hatte das so gewollt. Ja, die Bratwa war unser Zuhause, aber wir waren eine Familie.

Ty ließ den Kopf auf die Brust sinken. Seine blonden Haare fielen nach vorn und verbargen sein Gesicht, während er sprach. „Es war ein Unfall. Vielleicht hat er im Bett geraucht und dabei getrunken. Ein Feuer kann schnell ausbrechen.“ Wieder war ein Schluchzen zu hören.

„Ja, vielleicht. Aber es ist ein komischer Zufall, oder?“ Ich glaubte nicht an Zufälle. Dafür war ich schon zu lange in der Bratwa tätig. Dad hatte mir mit fünf gezeigt, wie ich richtig eine Pistole hielt und mir beigebracht, dass die Kugel mein bester Freund war, wenn alle anderen sich als meine Feinde entpuppten.

„Was?“ Lucius drückte Ty noch fester an sich, drehte sich jedoch in meine Richtung. Verwirrt waren seine markanten Gesichtszüge verzogen. Sein dunkles Haar fiel ihm in die Stirn und verdeckte einen Teil seiner blauen, zu Schlitzen verzogenen Augen.

„Dad wollte umstrukturieren.“ Laut ihm wäre eine Veränderung schon lange überfällig gewesen. Die Bratwa war immer seine Familie gewesen, aber nach Moms Tod hatte er das aus den Augen verloren. Irgendwann war es nur noch um Profit gegangen und nicht mehr um den Zusammenhalt. Genau das wollte er wieder ändern und ich hätte ihm dabei geholfen. Auch wenn das bedeutet hätte, die Waffe gegen einige der Männer zu erheben, die vor der Tür darauf warteten, dass seine Söhne dem toten Don die letzte Ehre erwiesen und sich verabschiedeten.

„Das hat er gesagt?“ Ty hob den Kopf. Seine Stimme klang tränenerstickt. Er schluckte schwer.

„Ja.“ Mein Magen zog sich zusammen, als ein weiteres Fleischstück von der Bettdecke nach unten fiel und vor meinen Füßen landete. Hastig wich ich zurück, um nicht damit in Berührung zu kommen.

„Wann?“ Grimmig zog Lucius die Augenbrauen zusammen. Seine Kieferpartie spannte sich an und ein Knurren war zu hören. Seine Finger zitterten vor Wut. Einzig und allein die Tatsache, dass er immer noch seinen Arm um unseren Bruder gelegt hatte, hielt ihn davon ab, die Hände zu Fäusten zu ballen. Er hasste es, etwas nicht zu wissen und so wie es aussah, hatte Dad nur mit mir darüber gesprochen.

„Gestern.“ Eigentlich war es erst ein paar Stunden her. Das glaubte ich jedenfalls. Wie spät war es eigentlich? Ich hatte mit Dad gesprochen, mich mit Lucius im angesagtesten Club der Stadt getroffen, getanzt, gesoffen und die kleine Schlampe in mein Zimmer mitgenommen, nachdem sie bereits auf der Tanzfläche an meinen Lippen herumgelutscht hatte, als könnte sie es nicht mehr erwarten, mehr von mir in den Mund zu nehmen. Ja, es konnten nur ein paar Stunden vergangen sein, seitdem ich Dad quicklebendig gesehen hatte.

„Was hatte er vor?“ Lucius ließ Ty los, der endlich wieder sein Gleichgewicht zu finden schien, und griff mit der Hand stattdessen in seine Hosentasche, um sein Handy hervorzuziehen. Er drückte mit den breiten Fingern auf dem Display herum, öffnete die Kamera und schoss das erste Foto von der Decke. Eines und noch eines, bis er sogar die Brandflecke auf der Zimmerdecke und die Asche unter den Resten des Bettes dokumentiert hatte, oder eher den Haufen aus Asche und Wasser, das sich mit Dads Körpersäften verbunden hatte und nun über den Boden floss.

„Er wollte uns befördern.“ Ich war geschockt gewesen, als er mich in sein Büro gerufen hatte, um es mir zu erzählen. Sein Plan war radikal gewesen. Er hatte Onkel Roman und dessen treueste Gefolgsleute vor die Tür setzen wollen. Dad war nur wichtig, ob ich derselben Meinung war wie er, oder ob ich eine Alternative kannte. Ich hatte ihm zugestimmt. Fuck, würde er noch leben, wenn ich es nicht getan hätte?

Ty schüttelte verwirrt den Kopf und wischte sich verstohlen eine Träne von der Wange, als würden wir die geschwollenen, rot umrandeten Augen nicht sehen können, die das Resultat seiner Trauer waren. Er versuchte tapfer zu sein, aber mit sechzehn wäre es mir wohl auch schwergefallen, die Fassung zu bewahren. „Es sind gar keine Stellen frei.“

„Er wollte sie frei machen.“ Bedeutungsschwer sah ich Ty an. Seine Augen weiteten sich, als er verstand, was ich damit sagen wollte. Dad hätte einige seiner Generäle getötet, sie aus dem Weg geräumt. Und nun war er selbst ermordet worden. War das Gottes Auffassung von Ironie? „Er hat keinem dieser Männer vor der Tür vertraut. Dad sind Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung aufgefallen. Irgendwer hat Geld veruntreut und er hat nach dem Schuldigen gesucht.“ Dass er bereits gewusst hatte, wer seine Finger im Spiel hatte, ließ ich aus. Ich vertraute meinen Brüdern. Das war nicht das Problem. Doch ich wollte nicht, dass sie sich verdächtig verhielten oder offen unserem Onkel den Mord unseres Dads vorwarfen. Ty hätte das nicht getan, aber Lucius … Na ja, er war ein Hitzkopf.

„Was schlägst du jetzt vor?“ Lucius drehte sein Handy zur Seite, um horizontale Bilder von der Umgebung machen zu können. Dabei lehnte er sich über das Bett, sodass er den größten Teil der Leiche fotografieren konnte. Er rümpfte angeekelt die Nase. Blässe überzog sein Gesicht. Aber er schaffte es, die Aufnahme zu machen, ohne sich zu übergeben.

„Keine Ahnung, aber eins ist sicher –“ Ich stoppte und blinzelte gegen die Tränen an, die in meinen Augen drohten überzuquellen. Ich wollte nicht weinen. Auch nicht vor meinen Brüdern. Ich war der älteste und sollte nun eine Stütze für sie sein. Dennoch konnte mein Gehirn sich nicht mit dem Umstand abfinden, dass irgendwer, den ich schon mein ganzes Leben lang kannte – ein Teil meiner Familie – meinen Dad umgebracht hatte.

„Was?“ Lucius hob die Hand, in der er das Handy hielt, noch höher und machte ein weiteres Bild. Stück für Stück zeichnete er alles im Raum auf. Die Brandlöcher in der Matratze, das verbrannte Parkett und den Ruß an der Decke.

„Dass auch wir ihnen nicht vertrauen sollten“, hauchte ich und sah ein letztes Mal auf die Überreste von Dad. Sobald wir die Tür wieder öffneten, würden wir unser Misstrauen verstecken müssen, bis wir Articus auf den Zahn fühlen und weitere Antworten bekommen konnten. Wie schwer das sein würde, wussten wir zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. Keiner von uns würde die Möglichkeit bekommen, mit Art zu sprechen. Am nächsten Morgen war er nämlich verschwunden und das sollte er auch bleiben.

Genauso wie das Leben, das wir gekannt hatten.

Kapitel 1

Estelle

Gegenwart …

Viel zu fest warf ich die Autotür ins Schloss. Es knallte laut. Das Geräusch wirkte gespenstisch in der Dunkelheit, die mich umgab, und ich zuckte zusammen. Dabei stahl mir meine Angst nur noch mehr Zeit, die ich nicht hatte. Schon jetzt war ich viel zu spät dran. Ich hätte schon vor Stunden zu Hause sein sollen, aber den Schneesturm, der den halben Highway lahmlegte, hatte ich nicht in meine Pläne einkalkuliert, sodass ich nun mit kolossaler Verspätung ankam. Ich konnte nur hoffen, dass die anderen noch nicht alles aufgegessen hatten. Die dreistündige Fahrt hatte mir den letzten Nerv geraubt. Ich war unendlich hungrig und mir war eiskalt. Die Temperaturen waren noch einmal um mehrere Gerade gefallen. Der Boden war gefroren und rutschig, sodass jeder Kilometer der Fahrt eine Zerreißprobe für meine Fahrkünste gewesen war. Eigentlich wollte ich nur noch etwas essen, ein Bad nehmen und schlafen gehen, doch das würde Ava nicht zulassen. Sie würde schon fuchsteufelswild sein, weil ich zu spät kam, immerhin hatte sie heute Morgen viermal angerufen, um sicherzugehen, dass ich tatsächlich in den Weihnachtsferien zurückkam. Zumindest dieses eine Mal, nachdem ich es die letzten Jahre nicht geschafft hatte.

Ich ignorierte das unangenehme Gefühl in meiner Magengegend, das absolut irrational war, und stapfte durch den Schnee auf das Haus zu, in dem ich aufgewachsen war. Natürlich waren die Straßen verlassen und menschenleer. Es war Weihnachten. Alle waren um diese Zeit in ihren warmen Wohnzimmern auf der Couch zusammengekuschelt und warteten auf das Morgengrauen, um sich Geschenke wegen eines Brauchs zu überreichen, dessen Ursprung die meisten nicht einmal mehr kannten.

Der Schnee knirschte unter den Sohlen meiner Stiefel und ich zog meinen roten Mantel enger um meinen Körper. Mein Organismus reagierte auf die Kälte. Meine Gefäße zogen sich zusammen und versorgten meine Organe weiterhin mit Blut, was zur Folge hatte, dass meine Finger rot anliefen und es mir schwerfiel, meine Schlüssel aus meiner Manteltasche zu holen. Ich schaffte es jedoch, als ich die zwei Stufen, die zur Tür führten, hinter mir ließ und in den dämmrigen Schein der Glühbirne trat. Sie hing genau über dem Eingang und bot genügend Licht, um den Schlüssel ins dafür vorgesehene Loch stecken zu können. Die Tür sprang auf.

„Avaline, Malea, Dad, ich bin zu Hause!“, rief ich, schloss die Eingangstür hinter mir wieder, bevor die Kälte ins Haus strömen konnte, und entledigte mich meines Mantels. Gespannt wartete ich darauf, dass meine Schwestern angelaufen kamen und mich über das College ausfragten. Obwohl es bereits mein viertes Semester war, konnten die beiden immer noch nicht glauben, dass ich irgendwo im Nirgendwo Anthropologie studierte. Nicht, dass eine der beiden sich tatsächlich für meine Studienrichtung interessierte. Nein, sie wollten lediglich wissen, ob ich auf einer dieser berühmten Studentenpartys gewesen war oder endlich mit dem Typen, der sich bei jeder Vorlesung neben mich setzte, geknutscht hatte. Etwas, das niemals passieren würde. Ich sah zwar die Notwendigkeit einer Partnerschaft für sexuellen Kontakt und Zweisamkeit, doch bislang hatte mich die Symmetrie eines Menschen nicht genug erstaunt, um langfristig mit einem Partner zusammen zu bleiben. Außerdem faszinierten mich die Leichenteile, die von Speckkäfern vom überschüssigen Fleisch gereinigt wurden, viel mehr als der blonde Schönling, der es nur in den Kurs geschafft hatte, weil sein Vater der Universität einen neuen Flügel gespendet hatte. Intelligenz sollte über Geld stehen. Immer.

Ich hängte meinen Mantel auf einen der vorgesehenen Haken und zog den Reißverschluss meiner Stiefel auf, um meine nassen Schuhe auszuziehen und damit zu verhindern, den verschmutzten Schnee in den Wohnbereich zu tragen. Dann wartete ich. Und wartete. Aber weder Ava noch Malea kamen angelaufen. Ich stutzte. „Dad?“, rief ich erneut und tapste in Socken über die Fliesen des Flurs. Im Haus war es ungewohnt still, als ich über die Schwelle trat. Das Parkett knarrte unter meinem Gewicht leise. Waren sie alle schon ins Bett gegangen? Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet, dass es kurz vor Mitternacht war. Spät, keine Frage, aber nicht spät genug, dass alle im Tiefschlaf wären. Verwirrt lief ich weiter und brüllte erneut durchs Haus. „Ava? Malea?“

Auch diesmal bekam ich keine Antwort, dafür erklang jedoch ein Wimmern. Der Ton war hoch, fast wie ein schmerzerfülltes Quietschen. Und viel näher als erwartet. Hatte sich jemand verletzt? Eilig beschleunigte ich meine Schritte, bog um die Ecke ins Wohnzimmer und erstarrte. Niemand war im Bett. Meine ganze Familie war quer im Raum verstreut. Malea saß zitternd auf der Couch, die Beine fest an die Brust gezogen. Ihre Knie waren aneinandergepresst, über eines ihrer Beine lief Blut. Ich konnte nicht sehen, woher es kam, aber irgendwo musste sie verletzt sein. Ich konnte nur hoffen, dass es keine tiefe Wunde war. Es würde einen Kampf oder eine Flucht erschweren, wenn eine von uns nicht laufen konnte. Tränen schimmerten in ihren Augen und nasse Spuren waren auf ihren geröteten Wangen zu sehen. Ein breitschultriger Mann hatte eine Hand in ihrem roten Haar vergraben und zog ihren Kopf an den Strähnen weit nach hinten. Ihr Blick schoss zu mir, als ich den Raum betrat und sie stieß erneut ein Wimmern aus. Der Mann musste ihr wehtun, doch sie konnte nichts anderes tun, als still sitzen zu bleiben, in der Hoffnung, dass er sie nicht noch mehr verletzen würde, denn ein weiterer Typ stand mit einer Waffe ganz in der Nähe. Er hatte den Lauf der Pistole auf ihre Schläfe gerichtet, während er mit der freien Hand gegen Avalines Schulter drückte und sie so zu Boden presste. Sie stützte sich mit den Händen am Untergrund ab, um nicht mit dem Gesicht auf dem Parkett zu landen. Meine jüngere Schwester weinte nicht. Sie wimmerte und schluchzte auch nicht. Nein, stattdessen waren ihre leblosen Augen auf unseren Dad gerichtet. Ich folgte ihrem Blick. Mir entkam ein Keuchen. Angst durchzog mich. Nicht die irrationale Angst vor Spinnen oder Schlangen, vor denen Menschen mehr Ekel als Panik empfanden, aber es dennoch als Furcht deklarierten, sondern richtige Angst. Todesangst. Angst vor dem Verlust eines geliebten Menschen.

Ein Röcheln kam aus Dads Mund. Sein Körper wurde von einem Krampf geschüttelt. Er zuckte im Griff der beiden Männer, die ihn je an einem Arm gepackt hielten. Wie bei einer Exekution kniete er auf dem Boden. Den Kopf hatte er erhoben. Er war blass, sodass die farbigen Flecken auf seiner Haut noch besser zur Geltung kamen. Violett, rot und blau prangten mir seine Verletzungen entgegen. Irgendjemand hatte ihn geschlagen. Sein Jochbein war gebrochen und hatte sich durch die aufgeplatzte Haut gekämpft. Ein Stück Knochen war zu erkennen, während das Auge zugeschwollen war. Auch mit dem anderen konnte er sicher kaum noch etwas erkennen. Es war blutunterlaufen. Eine Ader war darin geplatzt und müsste den Sehnerv beeinträchtigen. Dennoch lächelte er entschuldigend, als er mein Keuchen vernahm. Blut lief über seine Lippen. Vor ihm auf dem Parkett lag ein Zahn. Es war nur eine Hypothese, aber ich war mir sicher, dass es sein eigener war. Ich erschauderte.

Automatisch griff ich mit der Hand an die Tasche meines Kleids, in dem mein Taschenmesser steckte. Ich wollte es ziehen und auf die Männer losgehen, die für die Verletzungen meiner Familie verantwortlich waren. Aber meine Hand verharrte an meiner Hüfte. Zuerst musste ich herausfinden, was hier vor sich ging. Vielleicht war es nur ein Missverständnis, richtig? Auch wenn ich nicht daran glaubte. Niemand nutzte Heiligabend, um einen Angriff auf eine x-beliebige Familie zu starten. Außerdem zeichneten sich auf Maleas und Avas Gesichtern Überraschung, Schock und Panik ab, während Dad nur ein einziges Gefühl zur Schau trug: Schuld.

„Wie schön, auch die Letzte kommt endlich zum Feiern.“ Einer der Männer, die Dad festhielten, lachte schallend. Seine blonden Haare fielen ihm strähnig ins Gesicht, als er den Kopf schief legte und mich aus stechend grünen Augen ansah. Sein Blick glitt von meinem Haaransatz bis zu meinen Zehen und wieder zurück, ehe er an meinen Brüsten stoppte. Sofort breitete sich Ekel in mir aus. Mir war bewusst, dass der weibliche Körper rein biologisch auf Männer anziehend wirken musste, aber die Tatsache, dass er sogar in der jetzigen Situation darüber nachdachte, sich mit mir fortzupflanzen, ließ mich würgen. Sein Verhalten verriet mir, was für eine Art Mann er war. Keiner, den ich näher kennenlernen wollte. „Wir haben schon auf dich gewartet“, säuselte er, ließ Dads Arm los und stürzte auf mich zu. Blitzschnell überbrückte er die Distanz, packte mein Kinn und zog es zur Seite, um mein Gesicht genauer in Augenschein nehmen zu können. Auf seinen Fingern klebte Dads Blut. Er war für dessen Verletzungen verantwortlich. Wut kochte in mir hoch. Er hatte jemanden verletzt. Mit purer Absicht. Mit purer Boshaftigkeit.

„Nein, lasst sie in Ruhe, Roman!“ Dad machte einen Satz nach vorne, versuchte sich aus dem Griff des überdurchschnittlich großen Typen loszureißen und mir zu helfen. Doch er war nicht einmal in der Verfassung, seinen Körper eigenständig aufrecht zu halten. Als der Mann ihn ebenfalls losließ, fiel Dad nach vorn und fing sich im letzten Moment mit den Händen ab, bevor sein Nasenrücken auf das Parkett prallen konnte. Das hatte jedoch zur Folge, dass sein gesamtes Gewicht gegen seine Elle und Speiche gepresst wurde. Es knackte. Die Knochen protestierten. Dad schrie auf.

Schmerz durchzuckte mich. Ich wusste, dass es nicht mein eigener war, sondern meine Empathie, die mich Dads Leiden nachempfinden ließ, doch das machte es nicht weniger unerträglich. Ich atmete tief durch und versuchte, die Angst auszublenden, die mich instinktiv zurückweichen ließ, um von der Gefahr wegzukommen. Jede Faser meines Körpers schrie nach Flucht, aber ich stemmte die Füße in den Boden und blieb. Es ging hier um meine Familie. Also packte ich das Handgelenk dieses Ekelpakets und zog seine Finger von meinem Kinn.

„Wer sind Sie? Was machen Sie in unserem Haus?“, fragte ich lautstark und war stolz auf mich, weil meine Stimme kühl und selbstbewusst klang. Ich hatte jedes Recht, in diesem Haus zu sein. Sie nicht. Und sie sollten gehen. Sofort!

„Ein hübsches Ding.“ Wieder lachte Roman. „Viel schöner als die anderen.“ Abfällig sah er zu meinen Schwestern hinüber. Er verzog die Lippen zu einem dünnen Strich und musterte die beiden. Gerne hätte ich ihm widersprochen. Sicher, nach den zurzeit geltenden Schönheitsidealen war Malea mit ihren roten Haaren und den Sommersprossen weniger attraktiv als ich mit den langen, blonden Haaren und den blauen Augen. Aber dafür war ihr dünner Körper mit der handgroßen Brust und dem Pfirsichhintern mehr gefragt als meine üppigen weiblichen Kurven. Und Avaline? Sie war noch ein halbes Kind. Natürlich, in einigen Kulturen wäre sie schon verheiratet worden, um Nachkommen zu generieren, aber ihr fehlte es noch an gesellschaftlich anerkannter Weiblichkeit. Jede von uns war es wert, angesehen zu werden und seine Andeutung, dass meine Schwestern es nicht wären, ließ mich rasend werden vor Wut. Malea zuckte unter seinen Worten zusammen, als hätte er sie geschlagen. Dadurch bewegte sie ihren Kopf und schrie auf, weil der Typ hinter ihr unbeabsichtigt einige Haarsträhnen aus der Kopfhaut riss. Zornig biss ich die Zähne zusammen. Ich ballte die Hände zu Fäusten und verzog die Augen zu Schlitzen. Empörung kroch in mir hoch. Was erdreisteten sich diese Gestalten eigentlich? Das war unser Haus!

„Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ Der Mann, der Maleas Haare fest im Griff hatte, schnaubte wütend, als hätte Roman auch ihn persönlich beleidigt. Sanft entwand er seine Finger aus dem Schopf und legte seine Hand stattdessen an Maleas Genick. Wenn er zudrückte, könnte er sie somit stärker verletzen, aber die Art wie er mit lodernden Flammen in den Augen auf Roman sah, zeigte, dass er Malea nicht verletzen würde, nur um seine Pflicht zu erfüllen. Nein, er wollte genauso wenig hier sein, wie ich ihn hier haben wollte. Aber wieso ging er dann nicht einfach?

„Ist das so? Dann stört es dich ja nicht, eine der anderen beiden zu nehmen, Lucius.“ Erneut erfüllte Romans widerwärtiges Gelächter den Raum. Er ließ von mir ab und trat zu Malea hinüber. Diesmal griff er nach ihrem Kinn und drehte es zu allen Seiten, als wollte er die Aussage zu ihrer Schönheit überprüfen. Erst dann hob er den Kopf und sah direkt Lucius an. „Sie könnte gut zu dir passen.“ Das Lachen wurde lauter. Es hallte von den Wänden wider und übertönte sogar Maleas ängstliches Keuchen, als Romans Finger von ihrem Kinn über ihre Wange wanderten. Er beugte sich zu ihr hinunter und drückte gewaltsam seine Lippen auf ihren Mund.

Ich riss die Augen auf. Lucius reagierte nicht auf den verbalen Seitenhieb, aber als sich der Mund von Roman auf Maleas legte, sie zu schluchzen begann und mit dem Kopf wackelte, um den Übergriff abzuschütteln, löste er die Hand von ihrem Genick und drückte gegen Romans Schultern, damit er von meiner Schwester abließ.

„Hören Sie sofort auf“, rief ich erzürnt und fühlte Mitleid für Malea in mir hochsteigen. Sie glaubte an die Illusion von Gott und die Reinheit vor der Ehe. Trotz ihres Alters hatte sie sich für den Richtigen aufgespart, der vermutlich niemals kommen würde, weil es ihn schlichtweg nicht gab. Ihren ersten Kuss nun an den Abklatsch eines Neandertalers zu verlieren, der allen menschlichen Gesetzen zum Trotz glaubte, sich nehmen zu können, was er wollte, zeigte wieder einmal, dass die Konstruktion des religiösen Glaubens nur falsch sein konnte, denn sonst hätte das Arschloch nun ein Blitz getroffen.

„Ach ja? Und wenn nicht?“ Roman hob den Kopf und drehte sich mit einem breiten Grinsen auf den Lippen zu mir um.

„Ich rufe die Polizei“, verkündete ich und hätte mir am liebsten gegen die Stirn geschlagen. Wieso hatte ich das nicht gleich getan? Ich hatte nicht einmal daran gedacht. Mein Handy befand sich in meiner Manteltasche. Ein Anruf und wir würden Hilfe bekommen. Ich drehte mich bereits um und wollte zum Flur rennen, als es hinter mir klickte.

„Estelle, nicht!“, schrie Dad auf, hustete und ein Würgen erklang. Schnell wandte ich mich ihm wieder zu. Noch mehr Blut kam über seine Lippen. Er spuckte es auf den Boden, während er auf die Waffe starrte, die nun nicht mehr auf Malea gerichtet wurde, sondern auf mich. Ich schluckte. Verflucht! Uns allen war nicht geholfen, wenn ich zu meinem Mantel lief und dabei erschossen wurde. Roman bemerkte mein Dilemma und sein Gelächter erreichte einen neuen Höhepunkt.

„Dad, was geht hier vor?“ Ich hob entwaffnend die Hände, um zu signalisieren, dass ich keine falsche Bewegung machen würde. Den Typ mit der Waffe schien das zu beruhigen, denn er nickte mir dankbar zu. In welchem abgedrehten Horrorfilm war ich gelandet? Ich – forensische Anthropologiestudentin mit Nebenfach Kriminologie – hatte Kriminelle mit Waffen im Haus, die erleichtert waren, wenn sie mich nicht erschießen mussten? Ich denke nicht, dass es ein Täterprofil mit diesen Indikatoren gab.

„Es tut mir so leid“, hauchte Dad und zog damit die Aufmerksamkeit von Roman wieder auf sich. Er ging auf Dad zu, trat gegen seinen Bauch und packte ihn an den Haaren, damit er sich nicht zusammenkrümmen konnte. Ein schmerzerfüllter Laut erklang. Dad würgte wieder. Diesmal kam kein Blut aus seinem Mund. Zumindest nicht nur. Stattdessen zwang der Schlag in die Magengrube die Magensäure dazu, sich einen Weg nach oben zu bahnen. Erbrochenes floss über das Parkett.

„Was tut dir leid?“ Dass er mich zu Weihnachten vom Studium abgehalten hatte, um … ja, was eigentlich? Ermordet zu werden? Nein, dann wären wir schon tot. Was wollten diese Männer dann? Geld? Davon hatten wir keines. Wir kamen gerade so über die Runden und das Haus, in dem wir wohnten, gehörte nicht uns. Nicht wirklich. Moms Familie hatte es besessen. Das konnte es also auch nicht sein.

„Es wird Zeit zu gehen“, sagte Roman entschieden, trat erneut zu und sorgte damit dafür, dass Dad sich wieder übergeben musste. Erst, als der letzte Strahl über die blutverschmierten Lippen gedrungen war, beugte Roman sich tief zu ihm hinunter. „Du hast gehört, was ich gesagt habe?“ Ein bedrohlicher Unterton schwang in seinen Worten mit. Hastig nickte Dad. Roman nutzte genau den Moment, um den Haarschopf loszulassen. Dad realisierte es zu spät und schaffte es nicht rechtzeitig, sein Gleichgewicht zu finden. Er fiel nach vorn und landete in der säuerlich stinkenden Pfütze. Das Erbrochene spritzte zur Seite. Ein paar Tropfen fielen auf Avas Fußrücken, aber selbst darauf reagierte sie nicht. „Gut.“ Zufrieden klatschte Roman in die Hände, hob einen Fuß und drückte ihn auf Dads Gesicht, sodass eine Hälfte seines Kopfs tiefer in die Lache gepresst wurde. „Deine Mädchen habe ich mir jetzt geholt und als Nächstes gehört auch noch dein Leben mir, wenn du nicht zahlst. Kapiert?“

„Ja.“ Dads Stimme klang wie ein Schluchzen. Ich hatte keine Ahnung, was hier los war oder wieso dieses Arschloch glaubte, er hätte Anspruch auf irgendwas oder irgendwen von uns. Aber wenn er wirklich glaubte, ich würde zulassen, dass er Dad umbrachte, hatte er nicht gut genug recherchiert. Ich war kräftig genug, einen menschlichen Körper auseinandernehmen. Schön, meistens waren es Überreste von Toten, aber der Unterschied war nicht so groß, dass ich es nicht versuchen würde, um mein eigenes Leben oder das meiner Familie zu schützen. Es würde nur blutiger sein. Dreckiger.

„Schnappt euch die Frauen und raus hier!“, befahl Roman, aber niemand bewegte sich. Alle anderen Männer zögerten. Blicke wurden ausgetauscht. Einer davon traf mich. Der Typ, der zuvor Roman geholfen hatte, Dad festzuhalten, starrte mich an. Und ich konnte nicht anders, als zurück zu starren. Er war mir im ersten Moment in dieser grotesken Situation gar nicht aufgefallen. Aber nun … nun da ich ihn sah, richtig sah, konnte ich meinen Blick nicht von ihm lösen. Er war bestimmt zwei Köpfe größer und mindestens doppelt so breit wie ich. Seine kräftige Statur passte zu dem kantigen Kinn und ließ ihn stark und dominant aussehen. Mit der geraden Nasenwurzel und der hochliegenden Stirn wirkte er jedoch fast schon aristokratisch. Seine vollen Lippen waren einen Spalt geöffnet und seine dichten, schwarzen Wimpern umrandeten die unglaublichsten Augen, in die ich je geblickt hatte. Sie waren grün, ähnlich wie die von Roman, aber nicht gänzlich, denn um die Pupille lag ein weiterer dunkler Ring, der eine Vertiefung des Farbempfindens anzeigte. Außerdem war die Sklera – der weiße Teil des Augapfels – um die Iris getrübt, sodass das gesamte Auge aussah wie ein einziger Farbverlauf. Es war schön. Und erstaunlich, dass die Natur etwas Derartiges erschaffen konnte.

„Ich sagte, schnappt euch die Frauen und lasst uns gehen!“, wiederholte Roman. Lauter diesmal. Strenge und Wut lagen in seiner Stimme. Der Ton riss mich aus meiner Betrachtung und ich drehte meinen Kopf schnell zur Seite, als Roman bereits mit den Händen nach mir griff. Schnell zog ich das Taschenmesser hervor, öffnete es mit einer fließenden Handbewegung und zielte mit der Spitze auf einen seiner Finger. Die Klinge fuhr über die Haut und ritzte sie ein, bevor Roman den Arm zurückziehen konnte. Einzelne Blutstropfen kamen aus der entstandenen Wunde, die jedoch nicht tief genug war, um Schmerzen zu verursachen.

„Ein schönes Messer.“ Anerkennend nickte Roman, drehte die Handfläche nach oben und besah sich die Verletzung. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich, während er an seine Hüfte langte und aus einer Halterung am Gürtel ein Messer zog. Es war doppelt so dick wie meines und auch ein Stück länger.

„Ich weiß, wie man damit umgeht.“ Ich umgriff das Taschenmesser fester und ließ es bedrohlich durch die Luft gleiten. Mehr aus Verzweiflung, als dass ich ihn wirklich verletzen wollte. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht mit Gegenwehr gerechnet hatten und verschwanden, denn es waren einfach zu viele, als dass ich alle töten konnte. Aber vielleicht war das auch gar nicht nötig. Lucius packte Malea nur sehr unwillig und hob sie sanft auf seine Arme. Tief sahen sich beide in die Augen. Irgendwas schienen sie stumm auszumachen, aber mir war es recht, solange er sie nicht verletzte.

Roman bekam davon nichts mit. Er drehte das Messer in seiner Hand, hob es auf Höhe meines Gesichts und kam damit Schritt für Schritt näher auf mich zu. Erneut überschwemmte mich Angst. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Alle Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Sein Blick war auf meine Augen gerichtet. Wollte er sie mir ausstechen? Mein Fluchtinstinkt übernahm die Oberhand. Ich wich zurück. Immer weiter und weiter, bis sich die kühle Mauer an meinen Rücken drängte. Ich japste vor Schreck. Abwehrend hob ich die Hände vor meine Wangen, um eine Barriere zwischen dem Messer und meinen Augen zu bilden. Das brachte Roman nur noch lauter zum Lachen. Er genoss meine Angst, schwelgte darin, indem er mit den freien Fingern meine Handgelenke packte und sie zur Seite zog, um die Klinge über meine Wange gleiten zu lassen. Das Metall berührte mich kaum, es verletzte mich nicht. Aber das Wissen, dass er meine Haut für immer verunstalten könnte, ließ mich erzittern.

„Du solltest sie nicht verletzen. Wenn du ihr Gesicht beschädigst, will sie vielleicht keiner mehr“, meldete sich eine tiefe, männliche Stimme und ließ Roman innehalten. Dankbarkeit durchströmte mich und Erleichterung, aber der Moment hielt nur für eine Sekunde an. Gerade lange genug, bis mir seine Worte bewusst wurden. Dann will mich vielleicht niemand mehr? Ich war die beste meines Kurses und mir stand eine umwerfende Zukunft bevor. Ich hätte die Chance, in ferne Länder zu reisen und dort alte Stämme zu untersuchen. Das würde auch eine Narbe nicht ändern. Schönheit war nicht alles. Sie bedeutete gar nichts und sollte kein Indikator dafür sein, mit jemandem sein restliches Leben zu verbringen.

„Gefällt dir ihr Gesicht denn?“ Roman grinste anzüglich und zog das Messer von meiner Wange. „Es wäre bestimmt noch schöner mit geschwollenen Lippen, Tränen auf den Wangen und deinem Schwanz tief in ihrem Mund.“

„Du hast selbst gesagt, dass sie wunderschön ist. Auf dem Schwarzmarkt könnte sie uns viel Geld einbringen. Das wäre vielleicht eine bessere Alternative für sie.“

Ich schluckte den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals bildete. Mir war klar, dass ich größere Probleme hatte, immerhin redeten sie gerade darüber, mich als Sklavin zu verschachern. Doch das Ziehen in meiner Magengrube konnte ich nur auf eines zurückführen: meinen verletzten Stolz. Seine zurückweisenden Worte trafen mich tief, auch wenn sie mich eigentlich nicht kümmern sollten. Dennoch störte es mich. Er hatte nicht zugegeben, dass er mich hübsch fand. Rational wusste ich, dass nicht jedem Mann jede Frau gefallen konnte, weil sexuelle Vorlieben auch in der Partnerwahl eine große Rolle spielten. Dennoch missfiel mir sein Desinteresse. War ich verrückt geworden? Dieser Mann – egal, wie unglaublich seine Augen auch sein mochten – war ein Verbrecher.

Roman schüttelte den Kopf. Hass loderte in seinem Blick auf, der jedoch nicht für mich bestimmt war, sondern für seinen Begleiter. „Ich denke, sie wird als deine Frau eine gute Figur machen. Findest du nicht, Maxon?“

Warte! Was? Seine Frau? Hatte ich mich gerade verhört? Ich glaubte zwar bereits, dass Roman bei der Intelligenzverteilung benachteiligt worden war, aber nun war ich mir sicher. Ich würde niemandes Frau werden. Niemals. Ich glaubte nicht einmal an das Konzept der Ehe!