Leseprobe Das Erbe von Kincaid Hall

Prolog

Zum Brennen von Whisky braucht man vor allem zwei Tugenden: Sorgfalt und Geduld. Er wird schließlich nicht umsonst das flüssige Gold genannt. Es benötigt Jahrmillionen, um mithilfe von Druck und Hitze aus Kohlenstoff Diamanten zu formen. Und so wie ein Edelstein braucht auch der Whisky seine Zeit, um zu reifen. Wobei wir uns glücklich schätzen können, dass es keine Millionen Jahre dauert; uns reichen schon ein oder zwei Dekaden.

Sorgfalt hingegen ist bei der Auswahl der Zutaten unerlässlich. Die Qualität des Wassers ist nicht weniger von Bedeutung wie die der Gerste, der goldenen Verheißung. Nur kristallklares, naturreines Wasser aus den besten schottischen Quellen vermag das Bouquet eines fabelhaften Whiskys zu wecken.

Die Tropfen, die wir hier in den Lowlands brennen, sind bekannt für ihren milden Geschmack, der im Kontrast zu den fruchtig-würzigen Sorten der Highlands steht.

Es ist nicht nur eine Familientradition. Whisky zu brennen ist eine Leidenschaft, eine Berufung, auf die wir stolz sein können. Aber es ist auch ein Handwerk, das erlernt werden muss. Ich lernte es von meinem Vater, der mich mit in die Destillerie nahm, kaum dass ich laufen konnte.

Er zeigte mir nicht nur, wie man Whisky brennt, er lehrte mich auch, ihn zu lieben. Denn nur aus inniger Liebe zu dem, was wir tun, kann etwas wirklich Erhabenes entstehen. Ein vollkommener Whisky, intensiv im Geschmack, gebrannt aus den besten Zutaten.

Mein Vater war es, der das Stillhouse baute und die ersten kupfernen Brennblasen aufstellte. Damit begründete er nicht nur das Familienunternehmen, sondern vor allem unseren Wohlstand. Wir sind es ihm schuldig, sein Erbe in Ehren zu halten und die Tradition in seinem Sinne mit allem gebührenden Respekt fortzuführen. Auf dass noch in einhundert Jahren Menschen in der gesamten Welt unseren Whisky trinken können.

Kapitel 1

Die Fassade von Kincaid Hall mochte auf sensible Gemüter einschüchternd wirken.

Besonders jetzt, wo die Sonne hinter den Spitzgiebeln und den mit Fresken und Ornamenten verzierten Türmchen gen Horizont sank.

Lady Morag Kincaid seufzte, als Graham den Rolls Royce in den Schatten des Gemäuers fuhr. Auch wenn sie einem Schwätzchen mit ihrem Chauffeur für gewöhnlich nicht abgeneigt war, so hatte sie dieses Mal kein einziges Wort mit ihm gesprochen und die gesamte Strecke von Edinburgh bis nach Hause in schwermütigem Schweigen verbracht.

So einschüchternd Kincaid Hall auch sein mochte, auf sie selbst hatte das dunkelgraue, mit Efeu bewachsene Mauerwerk stets eine beruhigende Wirkung gehabt. Bis heute.

Warum war ihr früher nie aufgefallen, wie trostlos das pompöse Familienanwesen aussah?

Wie es in der von grünen Hügeln umsäumten Senke, inmitten der schottischen Lowlands, vor dem Panorama der Pentland Hills ruhte. Schwarz und drohend. Eine dicke, steinerne Spinne. Unablässig auf Beute lauernd, um sie in ihren Schlund zu ziehen und ihr das Leben auszusaugen.

So wie es mir das Leben ausgesaugt hat, dachte Lady Morag, als Graham die Limousine vor der Freitreppe stoppte. Das Familienoberhaupt des Kincaid-Clans wandte den Blick von dem Eingangsportal ab, das in dräuenden Schatten lag, und betrachtete versonnen den Springbrunnen in der Mitte des kiesumsäumten Rondells.

Die Strahlen der tiefstehenden Sonne, die sich ihren Weg kraftvoll zwischen den Giebeln und Zinnen hindurchbahnten, strichen sanft über das Haupt der bronzenen Nixe. Bäuchlings, mit durchgedrücktem Rücken, reckte sie ihr Gesicht gen Himmel und präsentierte dem Betrachter ihre wohlgerundeten Brüste. Ihr kupferfarbener Teint leuchtete im orangefarbenen Licht, in dem albernen Bestreben, der alternden Lady so etwas wie Hoffnung zu geben.

Ein Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Lady Morag erschrak, als der Wagenschlag geöffnet wurde. Graham Johnston stand stocksteif daneben und bedachte seine Dienstherrin, der er seit fünfundvierzig Jahren die Treue hielt, mit einem kummervollen Blick.

Müde schwang Lady Morag die Beine aus dem Rolls Royce. Er stammte noch aus dem Nachlass ihres verstorbenen Gatten Chester und hatte mehr als vierzig Jahre auf seinem chromblitzenden Buckel. Ein Zeichen für die Wertarbeit, die damals geleistet worden war. Dass er heute so tadellos in Schuss war wie am ersten Tag, verdankte er der gewissenhaften Pflege von Graham, dessen helfende Hand Lady Morag geflissentlich ignorierte.

Nicht, dass sie diese Geste nicht zu würdigen gewusst hätte, im Gegenteil, aber sie hatte sich noch nie beim Aussteigen helfen lassen und würde auch heute nicht damit anfangen.

Graham war das durchaus bewusst. Trotzdem erachtete er es als seine Pflicht, seiner Dienstherrin zu versichern, dass sie sich auf ihn verlassen konnte, komme was da wolle. Als ob sie das nicht gewusst hätte.

„Soll ich Sie ins Haus begleiten, Mylady?“

Lady Morag schnaubte. „Noch lebe ich und kann auf eigenen Beinen laufen.“

Sie richtete sich auf und raffte den Saum des hochgeschlossenen Kleides, damit es nicht über den Boden schleifte. Um ihrem Chauffeur zu beweisen, dass ihre Worte keineswegs nur leere Hülsen waren, schritt sie die steinernen Stufen der Freitreppe zügig und erhobenen Hauptes empor.

„Sie können den Wagen in die Garage fahren“, rief sie ihm vom oberen Absatz zu, als sie sah, dass er keine Anstalten traf einzusteigen. So als fürchtete er, dass sie, oben erst einmal angekommen, einen Ohnmachtsanfall erleiden und rücklings die Treppe hinunterstürzen könnte. Doch den Gefallen tat sie ihm nicht. Stattdessen öffnete sie das Eingangsportal und betrat das Vestibül, in dem sich die Düsternis und Tristheit der Fassade spiegelte, ausgelöst durch die hohen holzvertäfelten Wände.

Lady Morag eilte schnurstracks durch die Eingangshalle und begab sich schnellen Schrittes in das Arbeitszimmer.

Shona hob kaum den Blick, als ihre Mutter eintrat.

„Schon zurück?“, fragte sie abwesend, bevor sie sich wieder dem Laptop widmete, vor dem sie förmlich zusammengesunken war.

Lady Morag nickte, obwohl Shona es nicht sehen konnte, da sie den Kopf gesenkt hielt, um sich ihrer ursprünglichen Tätigkeit zu widmen.

„Ich wusste, dass ich dich hier finde! Warum arbeitest du noch? Wir haben Wochenende.“

„Wir haben Freitag, Mutter. Und diese Abrechnungen schreiben sich nun mal nicht von alleine.“

„Sicher, mein Schatz. Weißt du, wo sich dein Bruder aufhält?“

Shona zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich zeigt er Annabelle sein Schlafzimmer.“

Lady Morag entging die abfällige Betonung des Namens von Rowans neuester Eroberung keineswegs. Sie konnte es ihrer Tochter nicht einmal verübeln. Ihr Sohn, Shonas Zwillingsbruder, wechselte die Liebschaften so oft wie andere Leute die Unterwäsche.

Nichtsdestotrotz gab sie die Hoffnung nicht auf, dass es diesmal etwas Ernstes sein würde. Immerhin waren er und Annabelle seit mittlerweile zwei Monaten ein Paar. Ungeachtet der Tatsache, dass sie knapp zwanzig Jahre jünger war als er.

„Kannst du ihn bitte holen, Kind? Ich muss mit euch sprechen.“

Shona seufzte und klappte den Laptop zu. „Sicher, Mutter.“

Als sich ihre Tochter erhob, war es Lady Morag, als starre sie in einen Spiegel, der ein fünfundzwanzig Jahre jüngeres Abbild ihrer selbst zeigte. Ein schmales Gesicht mit einem blassen Teint, der typisch für ihre Familie war, sodass sich Shona geradezu genötigt sah, mit ein wenig Rouge nachzuhelfen. Der Kontrast wurde durch das lackschwarze Haar, das ihre Tochter als Pagenschnitt trug, noch verstärkt. In Lady Morags Augen wirkte Shona dadurch viel zu maskulin. Ein Eindruck, der durch ihre Vorliebe für dunkle Hosenanzüge bestätigt wurde.

Aber offenbar war das ja auch Shonas Absicht. Selbst jetzt hatte sie den Blazer nicht abgelegt, unter dem sie eine weiße Bluse trug, auf dem das Collier mit dem in Gold gefassten Lapislazuli leuchtete.

Shona verließ das Arbeitszimmer und machte sich auf die Suche nach ihrem Zwillingsbruder.

Lady Morag trat ans Fenster und warf einen Blick in den weitläufigen Park. Mücken führten über dem Karpfenteich zuckende Tänze auf, während Schmetterlinge und Bienen von Blüte zu Blüte huschten und sich am Nektar der Stockrosen, Narzissen und Rhododendronsträucher labten.

Wie gerne hatte sie dort die lauen Sommerabende verbracht.

Sie konnte sich noch gut an die Zeiten erinnern, als dort rauschende Feste gefeiert wurden und der nächtliche Park von Lampions und Fackeln erhellt worden war.

Doch diese Zeiten waren vorbei und würden auch nicht mehr wiederkehren. Beinahe wütend schüttelte Lady Morag den Kopf. Es brachte nichts, in der Vergangenheit zu schwelgen und der guten alten Zeit hinterherzutrauern. Es galt, hocherhobenen Hauptes in die Zukunft zu blicken. So trüb sie dieser Tage auch erscheinen mochte.

Schritte näherten sich der Tür und kurz darauf kehrte Shona in Begleitung ihres Bruders zurück, dem man sein Alter ebenso wenig ansah wie seiner Schwester. Sein Haar war länger als das von Shona und fiel bis auf die Schultern. Die Augen lagen tief in den Höhlen und verrieten, wie wenig Schlaf er letzte Nacht bekommen hatte, die er vermutlich mit Annabelle in irgendeinem Club in Edinburgh verbracht hatte.

„Was ist denn so dringend, dass es nicht bis zum Abendessen Zeit hat?“, wollte er wissen und versuchte gar nicht erst, aus seiner Langeweile einen Hehl zu machen.

„Setzt euch!“ Lady Morag spürte, dass sie ärgerlich wurde. Rowans offensichtliches Desinteresse machte ihr die folgende Ansprache weiß Gott nicht einfacher.

Herrisch deutete sie auf das lederbezogene Sofa zu ihrer Rechten unterhalb eines schmalen Fensters, hinter dem der Niedergang zum Keller lag. Sie selbst blieb vor der Panoramascheibe stehen, der sie den Rücken zuwandte, während sie die Hände auf die Lehne des halbhohen Schreibtischstuhls legte.

Ihr Blick streifte die deckenhohe Vitrine mit den dutzenden Whisky-Flaschen. Jede einzelne besaß ein anderes Etikett. Bei manchen waren die Unterschiede offensichtlicher als bei anderen, doch wer genau hinsah, der stellte fest, dass sie eine chronologische Abfolge der Firmen- und damit auch der Familiengeschichte darstellten. Angefangen bei den ersten bauchigen Flaschen aus dem Jahr 1884 bis zu den schlanken Ausführungen, wie sie heutzutage bevorzugt wurden. Das lag hauptsächlich daran, dass ein nicht geringer Anteil des Umsatzes aus Exportgeschäften stammte. Die Kincaid-Destillerie verkaufte ihre edlen Tropfen in die ganze Welt und eine schmale, längliche Flasche ließ sich sicherer und vor allen Dingen kostengünstiger transportieren.

Das war zumindest die Meinung ihrer Tochter und der Vertriebsangestellten, denen Lady Morag bedingungslos vertraute. Zu behaupten, dass die Globalisierung und der Siegeszug des Internets, inklusive der damit einhergehenden Veränderungen des weltweiten Handels, an ihr vorbeigegangen wären, wäre übertrieben gewesen. Allerdings nur geringfügig.

Ein Grund mehr, der ihr die folgende Entscheidung leichter machte.

Nach vorne schauen, Morag, ermahnte sich die Lady. Immer nur nach vorne schauen …

„Es ist an der Zeit, dass wir über die Zukunft der Kincaid-Destillerie sprechen!“

Sie legte eine Pause ein, in der sie ihre Worte wirken ließ. Sie genoss den kurzen Augenblick angespannter Erwartung. Immerhin hatte sie die Aufmerksamkeit ihrer Kinder erregt. Rowan beobachtete seine Mutter neugierig, während Shonas Gesichtsausdruck zwischen Hoffen und Bangen wechselte. Der Blick ihrer dunklen Augen flackerte leicht.

Oh mein armes Kind, es tut mir leid, dachte Lady Morag Kincaid und holte tief Luft, bevor sie weitersprach.

„Ich bin nun siebenundsechzig Jahre alt und es ist an der Zeit, dass ich zurücktrete und der nächsten Generation das Feld überlasse, in der Hoffnung, dass ihr euch der Verantwortung bewusst seid und das Unternehmen gleichermaßen mit Herz und Verstand in eine glorreiche Zukunft führen werdet.“

Obwohl sie versuchte, beide Kinder anzuschauen, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Blick deutlich länger auf Rowan verharrte. Vor allem bei dem Wort „Verantwortung“.

„Du willst in den Ruhestand gehen?“, fragte Shona verblüfft.

Lady Morag nickte langsam. „Ja, was überrascht dich daran?“

Ihre Tochter schüttelte den Kopf. „Nichts, ich … ich hätte nur nicht so plötzlich damit gerechnet. Ist etwas vorgefallen? Ich meine …“

„Nein!“, erwiderte Lady Morag schärfer als beabsichtigt und biss sich sogleich auf die Unterlippe. „Ich werde euch natürlich auch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite stehen“, schob sie rasch hinterher. „Auch wenn das vermutlich nicht nötig sein wird.“

Zumindest nicht, was dich betrifft, fügte sie in Gedanken hinzu und schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, denn jetzt folgte der unangenehme Part.

„Obwohl ihr beide zu gleichen Teilen erbberechtigt seid, werde ich das Unternehmen auf Rowans Namen überschreiben lassen. Der …“

„Was?“, platzte Shona heraus, deren Kopf puterrot anlief, während Rowan aussah wie eine Katze, der der Kanarienvogel gerade von selbst in den aufgesperrten Rachen geflogen war.

„Bitte lass mich ausreden, mein Kind!“

Shona sprang von dem Ledersofa auf, als habe sie eben festgestellt, dass es vor Ungeziefer nur so wimmelte. Dazu passte auch ihre Miene, die Fassungslosigkeit und Empörung widerspiegelte. Fast hätte Lady Morag geschmunzelt. Nein, Shona war nie ein Kind gewesen, das schnell in Tränen ausgebrochen war. Sie besaß eine Kämpfernatur, die sie für den Posten der Geschäftsführung der Kincaid-Destillerie prädestinierte. Weitaus mehr als Rowan. So viel stand fest. Doch leider ging es nur in den seltensten Fällen darum, ob jemand für einen bestimmten Posten qualifiziert war oder nicht. Oft genug spielten andere Faktoren eine Rolle.

Shona würde das verstehen, sobald sie sich beruhigt hatte.

„Warum? Du hast doch schon alles gesagt! Ich reiß mir hier den Arsch auf, während unser Goldjüngelchen hier den Playboy spielt, und das ist der Dank?“

Nun erhob sich auch Rowan und trat auf die Vitrine zu. „Jetzt beruhig dich erst einmal, Schwesterherz.“ Er griff in eine der Auslagen und drehte sich mit einer Kincaid-Oak-Flasche um, die mit fünfzehn Jahren Reife zu den jüngeren Erzeugnissen zählte. Ob Shona das in der Kürze der Zeit, die sie benötigte, um herumzuwirbeln und ihm die Flasche aus der Hand zu schlagen, gesehen hatte oder es ihr schlicht und ergreifend egal war, konnte Lady Morag nicht mit Gewissheit sagen.

Die Flasche prallte mit einem dumpfen Laut auf den Teppich, blieb aber zum Glück unversehrt. Sie verfehlte Rowans Fuß nur um Haaresbreite, der mit einem kieksenden Schrei auf den Lippen zurückwich.

„Ich will mich nicht beruhigen!“, rief Shona aggressiv, sodass ihre Mutter fürchten musste, dass sie Rowan jeden Moment an die Kehle ging.

Er hob beide Arme und wich zurück. „Schon gut! Schon gut! Flipp nicht aus, wir …“

Lady Morag bezweifelte, dass Rowans jovialer Charme seine Schwester zu besänftigen vermochte. Eher würde das Gegenteil eintreten. Daher sah sie sich bemüßigt, einzugreifen.

„Es reicht!“, rief sie so laut, dass es ihr in der Kehle schmerzte. Aber sie hatte Erfolg, denn sowohl Shona als auch Rowan zuckten zusammen und starrten ihre Mutter aus geweiteten Augen an. Es lag schon lange zurück, dass sie ihre Stimme hatte erheben müssen. Vermutlich zeigte ihr Ruf auch nur deshalb Wirkung.

„Ihr benehmt euch wie die Kinder. Rowan, lass uns allein!“

„Aber …“

„Verschwinde!“, zischte Lady Morag und trat auf ihn zu.

Rowan verschwand so hastig, als hätte sich seine Mutter gerade vor seinen Augen in eine Walküre verwandelt, die mit blankem Schwert auf ihn loszugehen gedachte.

„Mutter, ich …“, begann Shona, wurde aber ebenso unterbrochen wie kurz zuvor ihr Bruder.

„Setz dich!“, verlangte Lady Morag, ging in die Knie und hob die Flasche auf. Saubere Gläser standen stets auf einem Sideboard für etwaige Verkostungen bereit. Sie nahm zwei davon mit zum Schreibtisch und registrierte zufrieden, dass Shona ihren Befehl befolgte. Halb hatte sie damit gerechnet, dass ihre Tochter wutschnaubend aus dem Büro stürmen würde. Aber sie war eben doch keine vierzehn mehr.

Lady Morag goss drei Fingerbreit der goldbraunen Flüssigkeit ein, stellte die Flasche ab und reichte Shona eines der Gläser.

„Trink!“

„Mutter …“

„Trink!“, beharrte diese, stieß mit ihrem eigenen Glas gegen das ihrer Tochter, sodass ein leises Klingeln den Raum erfüllte. Sekundenlang war es das einzige Geräusch. Bevor sie selbst einen Schluck von dem Whisky trank, umrundete sie den Schreibtisch und nahm auf dem Sessel Platz, auf dem Shona noch vor wenigen Minuten gesessen hatte.

Erst dann kostete sie von dem Whisky und genoss das milde, nach Getreide schmeckende Aroma, das im Nachgang eine leicht nussige Note besaß, als es über die Zunge in den Rachen floss.

„Sag mir, dass das eben nur ein Scherz war, bitte!“, flüsterte Shona und in ihren Augen glitzerte es verräterisch.

Lady Morag leerte das Glas und stellte es geräuschvoll neben den zugeklappten Laptop.

„Du machst es mir wahrhaft nicht leicht, Tochter.“

„Ich dir?“

„Ich muss an die Firma denken.“

„Und ich nicht, oder was? Was glaubst du denn, was ich hier jeden gottverdammten Tag mache? Solitär spielen?“

„Mir ist bewusst, was du für das Unternehmen geleistet hast. Und immer noch tust. Aber die Konkurrenz ist groß und in der heutigen Zeit schauen die Leute mehr denn je auf das Image der Firma. Hast du mir das nicht selbst vor einiger Zeit noch gepredigt? Dass wir unser Marketing auch auf die sozialen Netzwerke ausweiten müssen?“

Shona schüttelte den Kopf. „Worauf willst du eigentlich hinaus?“

Versonnen strich Lady Morag über den glatten Kunststoff des Laptops, als wäre er ein wertvoller Schrein, in dem sich sämtliche Antworten auf ihre Fragen befänden. Ach, wenn es doch nur so einfach wäre. „Ich denke, dass die Destillerie eine größere Chance hat zu überleben, wenn ein Mann an der Spitze steht.“

„Bitte was?“

„Ich weiß, dass du das nicht gerne hörst, aber Whisky wird nun einmal mit Männlichkeit assoziiert. Auch heute noch. Und …“

„Was redest du da für einen Bullshit? Du selbst leitest diesen Laden schon seit vierzig Jahren!“

„Ich bin Einzelkind. Und Witwe.“

„Oh, ich kann Rowan umbringen, wenn du willst.“

„Hör auf“, donnerte Lady Morag und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Was glaubst du, warum dein Großvater darauf bestanden hat, dass ich Chester heirate? Weil ich ihn so sehr geliebt habe?“

„Was soll das bedeuten?“

„Das bedeutet, dass Whisky von Männern gekauft wird. Und wenn er nicht von Männern gekauft wird, wird er von ihnen getrunken. Warum macht Mira Kuni sonst wohl Werbung für Johnny Walker?“

„Mila Kunis. Und es war Jim Beam.“

„Wie auch immer.“

„Rowan wird die Firma in den Ruin treiben!“

„Nicht, wenn du ihm hilfst.“

„Er wird sich nicht helfen lassen.“

„Natürlich wird er das. Er weiß, dass du dich mit den Geschäften besser auskennst als er.“

„Mag sein. Bei Annabelle bin ich mir da nicht so sicher.“

„Was hat die denn damit zu tun?“

Shona lachte auf. „Muss ich dir das wirklich noch erklären? Was glaubst du denn, warum sie sich ihm an den Hals geworfen hat? Weil er so gut im Bett ist?“

„Shona, bitte!“

„Vermutlich erzählt er ihr jetzt schon die tollen Neuigkeiten. Und unsere liebe kleine Annabelle wird sich mächtig ins Zeug legen, damit sie auch etwas von dem Kuchen abbekommt.“

„Unsinn. Sie ist nur eines seiner Betthäschen. Ein Wunder, dass du dir ihren Namen gemerkt hast.“

„Immerhin sind sie schon zwei Monate zusammen. Sie muss wirklich gut sein.“

„Schluss damit. Ich verlasse mich darauf, dass du Rowan mit Rat und Tat zur Seite stehst. Du weißt selbst, dass unsere Verkäufe rückläufig sind. In den letzten Jahren haben allein in den Lowlands drei weitere Brennereien ihren Betrieb aufgenommen. Das heißt, in ein paar Jahren wird sich die Konkurrenz verdoppeln. Hättest du dich nicht von Morgan scheiden lassen, dann …“

„Das kann nicht dein Ernst sein, Mutter. Morgan hatte es von Anfang an auf die Destillerie abgesehen und du willst sie ihm in den Rachen werfen?“

„Das allein ist es nicht. Auch als Geschwisterpaar könntet ihr die Brennerei vertreten. Wenn jedoch rauskommt, dass du am anderen Ufer …“

Sie bereute die Worte, kaum, dass sie ihr über die Lippen gekommen waren. Shonas Röte wich aus ihrem Gesicht, das eine aschfahle Farbe annahm.

Ruckartig stand sie auf, schritt auf den Schreibtisch zu und rammte das Glas wuchtig auf die Platte. „Du hast es nie akzeptieren können, stimmt’s?“

Lady Morag fühlte sich wie ein Ballon, aus dem sämtliche Luft mit einem Schlag entwich. „Shona, darum geht’s doch überhaupt nicht.“

„Worum geht es dann?“ Tränen standen in Shonas Augen. Sie war gekränkt und zutiefst verletzt.

„Shona, ich …“ Ein scharfer Schmerz zuckte durch Lady Morags Kopf.

„Es geht doch bloß darum, dass Rowan tun und lassen darf, was er will. Das durfte er doch schon immer. Egal wie viele Minderjährige er vögelt.“

„Shona, ich bitte dich.“ Eine glühende Nadel bohrte sich durch Lady Morags Schädeldecke, geradewegs in ihr Gehirn.

„Aber er ist ja der heterosexuelle Kerl. Du kannst froh sein, dass er nicht schwul ist. Wem hättest du die Brennerei dann überschrieben? Graham?“

„Shona, so versteh doch …“ Ein kribbelndes Gefühl breitete sich in ihrem Kopf aus. Ihre Handflächen wurden feucht, die Finger zitterten.

„Hast du eigentlich je daran gedacht, wie es Cybill damit geht? Oder hoffst du ernsthaft, dass Rowan noch einen Sohn zur Welt bringt? Was ist, wenn er nur Töchter bekommt, die alle lesbisch werden?“

Lady Morag schloss die Augen und drängte die aufkeimende Panik erfolgreich zurück. Zum Glück hatte sich ausreichend Wut in ihr aufgestaut, die ihr dabei half.

„Shona!“, sagte sie leise, aber mit genug Timbre in der Stimme, damit ihre Tochter zuhörte. Die Lider hielt sie weiterhin geschlossen. „Ich habe momentan nicht die Nerven, das mit dir auszudiskutieren. Mein Entschluss steht fest! Es bringt uns nicht weiter, wenn du überall Gespenster siehst und Intrigen witterst.“

Als sie die Augen wieder öffnete, konnte sie gerade noch sehen, wie Shona wutschnaubend aus dem Arbeitszimmer stürmte. Sie schlug die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Flaschen in der Vitrine klirrten.

Mit zitternden Fingern ergriff Lady Morag Kincaid die Whiskyflasche und füllte ihr Glas nach, das sie in einem Zug leerte. Der Anfall ging so rasch vorüber, wie er gekommen war.

Wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre.

Kapitel 2

Shona ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, ihr heftig klopfendes Herz zu beruhigen, indem sie tief ein- und wieder ausatmete. Sie dachte an Siobhan, die sie in diesem Augenblick zu irgendeiner Yogaübung verdonnert hätte, und musste unwillkürlich schmunzeln.

Der Anflug von Heiterkeit verflog so schnell wie er gekommen war. Die Kränkung über die Brüskierung durch ihre Mutter wog einfach zu schwer.

Der Schlag der Standuhr verriet Shona, dass es bereits zwei Uhr nachmittags war. In spätestens einer Stunde würde Morgan auftauchen, um seine Tochter abzuholen. Dies war sein Wochenende.

„Mir bleibt auch nichts erspart“, murmelte sie.

Die Aussicht, ihrem Ex-Mann zu begegnen, erstickte den kläglichen Rest an guter Laune, der ihr geblieben war. Statt sich zu beruhigen, legte ihr Herz gleich noch ein paar Takte obendrauf. Shona eilte die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo ihr Cybill bereits auf dem Flur entgegenkam.

Ihre Tochter trug eng anliegende graue Reiterhosen, die an den Innenseiten der Schenkel mit Leder verstärkt waren. Der weit fallende Rollkragenpullover kaschierte ihre weiblichen Formen, die seit einigen Monaten deutlicher zutage traten.

Die dicken Strümpfe hatte sie über die Aufschläge der Hose gezogen, was Cybill nur dann tat, wenn sie vorhatte, ihre Reitstiefel anzuziehen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter besaß sie blondes Haar, das im Licht der Sonne wie reifer Weizen leuchtete. An den Wangen sah man noch ein wenig kindlichen Speck, der ihr Gesicht runder machte als Cybill es gerne gehabt hätte. Sie mochte weder darauf angesprochen, geschweige denn dort berührt werden und reagierte auf Missachtung dieser ungeschriebenen Gesetze mit einer Hysterie, wie sie vierzehnjährigen Teenagern in der Pubertät vorbehalten war.

„Wo willst du hin?“, fragte Shona wider besseren Wissens.

Cybill wich ihrem Blick aus und verdrehte dabei leicht die Augen.

„Zu Kendra“, leierte sie und wollte an ihrer Mutter vorbei, die ihr jedoch mit einem schnellen Ausfallschritt den Weg abschnitt.

„Nicht so schnell, junges Fräulein. Du weißt genau, dass dein Vater in einer Stunde kommt, um dich abzuholen. Es ist sein Wochenende.“

Der Teenager wich von ihr ab und schaute sie fassungslos an. In Cybills blauen Augen leuchtete die Wut. „Sein Wochenende? Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“

Shona blinzelte irritiert. Vor vierzehn Tagen hatte sie ihr Schicksal noch stillschweigend hingenommen. Widerwillig zwar, wie man ihr deutlich angesehen hatte, aber ohne Protest. Was war bloß in sie gefahren?

Die Pubertät, hätte Siobhan vermutlich gesagt und damit recht gehabt. Doch Shona war nicht in der Stimmung, um die Launen ihrer halbwüchsigen Tochter zu tolerieren oder ihnen gar nachzugeben.

„Du bist aber auch noch nicht volljährig! Und Morgan hat ein Recht darauf …“

„Ein Recht?“, rief Cybill. „Ich bin deine Tochter und kein Fass voller Whisky.“

„Ich diskutiere das hier bestimmt nicht mit dir aus“, presste Shona mit mühsam unterdrückter Wut zwischen den Lippen hervor. „Geh auf dein Zimmer, zieh dich um und pack deine Sachen!“

„Nein!“, rief Cybill regelrecht empört und mit schriller Stimme.

„Tu es!“, brüllte Shona.

Sie sah, wie ihre Tochter zusammenzuckte. Ihr Blick begann zu flackern, die Unterlippe bebte und selbst Shona spürte, wie ihr die Knie zitterten.

„Cybill“, flüsterte sie. „Es … tut mir leid!“

Ruckartig drehte sich ihre Tochter um und rannte zurück in ihr Zimmer. Der Knall, mit dem sie die Tür ins Schloss warf, hörte sich an wie ein Gewehrschuss.

Shona wollte ihr folgen, um mit ihr in Ruhe darüber zu reden. Sie hasste sich selbst dafür, doch das Gesetz stand auf Morgans Seite. Es hatte ihm ein vierzehntägiges Besuchsrecht gewährt, das er nur allzu gerne in Anspruch nahm. Weniger aus Liebe zu seiner Tochter – Shona war sich sicher, dass der Dreckskerl zu solchen Gefühlen nicht in der Lage war – sondern allein, um ihr eins auszuwischen.

Sie wusste, dass er nur auf eine derartige Gelegenheit wartete, um sie mit seinen Anwälten unter Druck zu setzen und fertigzumachen.

„Was ist denn los?“

Shona schloss für die Dauer einer Sekunde die Augen und atmete tief durch, ehe sie sich umdrehte. Annabelle Forbes stand vor ihr. Zweiundzwanzig Jahre jung, womit sie weniger Jahre von Cybill trennten als von ihr. Oder von Rowan.

Verflixt, sie könnte seine Tochter sein!

Nicht, dass das heutzutage etwas zu bedeuten hätte. Dennoch brauchte Shona niemand mit der großen Liebe zu kommen. Was hatten sich denn solch ein Küken, das kaum flügge geworden war und noch niemals in ihrem Leben für ihren Unterhalt hatte aufkommen müssen, und ein zweiundvierzigjähriger Mann, der ein Familienunternehmen zu leiten hatte, schon zu sagen?

Nun ja, allzu viel mit Sicherheit nicht. Rowan hatte Annabelle bestimmt nicht ihrer rhetorischen Fertigkeiten wegen als Freundin auserwählt. Andererseits entsprach er auch nicht den Erwartungen, die Shona gegenüber einem Geschäftsführer hatte.

Sie spürte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg.

„Ich denke, das geht dich einen feuchten Dreck an!“, zischte sie.

Annabelle hob die feingeschwungenen Augenbrauen und schüttelte leicht den Kopf, sodass ihr wasserstoffblondes Haar in Schwingungen geriet. Ihre Haut besaß die perfekte Bräune, die man sich nicht allein auf dem Sonnendeck der Aida holte.

„Sorry, hab nur gefragt.“

„Und ich habe geantwortet. Und jetzt …“

Shona unterbrach sich mitten im Satz, als es an der Tür schellte. Sie warf einen Blick über die Galerie hinweg ins Vestibül. Sie ahnte, wer vor der Tür stand und mit einem Mal fühlte sie sich unsagbar erschöpft.

Sie trat an das hölzerne Geländer und beobachtete, wie Emily, ihre Haushaltshilfe, auf die Tür zuschritt und öffnete. Es war tatsächlich Morgan Baxter, ihr geschiedener Gatte.

Er nickte Emily zu und schenkte ihr ein freundliches Lächeln, bei dessen Anblick sich Shona der Magen umdrehte. Es war so falsch wie das Schwarz seiner Haare. Die graumelierten Schläfen sollten vermutlich einen Eindruck von Weisheit vermitteln. Normalerweise würde er aussehen wie ein räudiger Straßenköter. Schmutzig-braun mit grauen Stellen. Doch das konnte er sich als Tanzlehrer, der die besten Jahre knapp hinter sich gelassen hatte, nun einmal nicht leisten.

Und der Erfolg gab ihm recht.

Die Pärchen rannten ihm zwar nicht die Tür ein, aber er hatte ein ordentliches Auskommen und sah gut genug aus, sodass es immer ein paar ledige Frauen gab, die sich unter seine Fittiche nehmen ließen. Wenn Morgan wollte, konnte er sehr charmant sein, zumal er ein wahrhaft begnadeter Tänzer war.

So hatte er letztendlich auch Shona herumgekriegt. Damals, kaum dass sie ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte und dank ihrer Mutter bereits unter Torschlusspanik litt.

Danke Mum, schoss es ihr durch den Kopf. Sie leistete der alten Dame aber noch im selben Augenblick Abbitte. Sie war alt genug gewesen, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

„Shona!“ Morgan hatte sie natürlich längst gesehen und breitete die Arme aus. „Willst du mich etwa einfach so hier stehen lassen?“

„Gott bewahre!“, murmelte sie und ging die Treppe hinunter, dicht gefolgt von Annabelle, die sich nicht abschütteln ließ. Herrgott, wo war Rowan, wenn man ihn mal brauchte?

Emily schloss die Tür und zog sich auf Shonas Wink hin diskret zurück. Diese trat auf Morgan zu, die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt.

„Wo ist Cybill?“, verlangte er zu wissen und sein Lächeln erlosch, als hätte er einen Schalter umgelegt.

„Du bist eine halbe Stunde zu früh, mein Lieber. Sie ist in ihrem Zimmer und zieht sich um.“

„So? Dann wird es dir ja sicherlich nichts ausmachen, mich in der Zwischenzeit deiner neuen Freundin vorzustellen.“

Er wandte den Kopf und warf Annabelle einen interessierten Blick zu. Und schon kehrte das Lächeln nicht nur zurück, es wurde auch erwidert. Shona hätte zu gerne die Augen verdreht und geseufzt, konnte sich aber beides erfolgreich verkneifen.

„Morgan, das ist Annabelle Forbes. Annabelle ist Rowans … Freundin. Annabelle, darf ich dir Cybills Vater Morgan Baxter vorstellen?“

„Sehr erfreut“, sagte dieser und ergriff Annabelles Hand. Er verbeugte sich sogar galant, was Rowans Liebchen mit einem mädchenhaften Kichern quittierte. Das wiederum veranlasste Shona nun doch, mit den Augen zu rollen.

„Ich werde Cybill holen“, sagte Shona und eilte die Treppe wieder hinauf, auf deren oberem Absatz sich endlich ihr Bruder blicken ließ.

„Beeil dich besser, bevor sich mein Ex an deine neue Spielkameradin heranschmeißt“, raunte sie ihm im Vorbeigehen zu. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zur Tür von Cybills Zimmer und klopfte.

„Hey Schatz! Bist du fertig?“

Sie seufzte, als sie keine Antwort erhielt. Offenbar schmollte Cybill noch. „Es tut mir leid, in Ordnung?“ Wie fast alle Teenager in diesem Alter, so reagierte auch Cybill empfindlich, wenn man unaufgefordert eintrat. „Ich komme jetzt rein.“ Shona öffnete und trat ein, während sie weitersprach. „Hör mal, ich weiß, wie schwer das für dich ist. Aber lass es uns einfach …“

Sie stockte, als sie bemerkte, dass sie mit sich selbst sprach. Das Zimmer war leer, Cybill verschwunden. Shonas Gedanken überschlugen sich. Ihre Wut, die im Angesicht ihres verhassten Ex einer beinahe konspirativen Verbundenheit mit ihrer Tochter gewichen war, kehrte mit einem Schlag zurück.

Sie drehte sich auf dem Absatz um und riss die gegenüberliegende Badezimmertür auf. Auch auf die Gefahr hin, dass ihre Tochter gerade auf der Toilette saß und ihr eine Szene machte, die das ganze Haus unterhalten würde. Doch das Bad war ebenfalls leer.

Da wusste Shona, dass Cybill sich ihrer Anweisung widersetzt hatte. Sie brauchte gar nicht noch einmal in das Zimmer ihrer Tochter zurückzugehen, um zu wissen, dass sie sich keineswegs umgezogen hatte. Sie hatte lediglich abgewartet, bis die Luft rein war, um über den ehemaligen Dienstbotenaufgang am Ende des Flurs zu verschwinden.

In der Zwischenzeit hatte sie Devil vermutlich längst gesattelt und war auf dem Weg zu Kendra.

Shona knirschte vor Wut mit den Zähnen.

„Warte nur, bis du zurückkommst!“, murmelte sie und machte sich auf den Weg, um Morgan über die Flucht seiner Tochter in Kenntnis zu setzen.

 

„Sie ist … was?“

Morgans Stimme klang leise, wenn auch keineswegs ruhig. Shona kannte den Vater ihrer Tochter gut genug, um das schwache Vibrieren zu bemerken, das anzeigte, wie zornig er war. Er stand kurz vor einem Wutausbruch und allein die Anwesenheit von Annabelle hielt ihn davon ab, komplett aus der Haut zu fahren.

„Du hast mich verstanden“, erwiderte Shona gelassen. „Deine Tochter hat es vorgezogen, das Wochenende hierzubleiben.“

„Das war aber nicht abgesprochen.“

„Das weiß ich selbst. Und Cybill ebenso.“

„Und wieso ist sie dann weg?“

„Weil sie ein Teenager ist, verdammt noch mal! Deshalb!“

Morgan Baxter verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und warf Rowan und Annabelle einen abschätzigen Blick zu, bevor er auf Shona zutrat und ihr seinen nach Pfefferminz und Zigarettenrauch riechenden Atem ins Gesicht blies.

„Du hast sie nicht im Griff. Hattest du noch nie. Cybill fehlt die väterliche Strenge. Kein Wunder, dass sie so launisch ist. Also, wo steckt sie?“

Shona starrte ihren Ex-Mann für die Dauer mehrerer Herzschläge stumm an. Sie konnte sogar Rowan und Annabelle atmen hören. Morgan taxierte sie förmlich, doch Shona hielt seinem Blick stand.

„Ich – weiß – es – nicht!“, sagte sie schließlich langsam und betont.

Morgan richtete sich auf. „Du weißt, was das bedeutet! Wenn ich nicht alle vierzehn Tage …“

Die Eingangstür öffnete sich. Cybill stand in der Tür, zusammen mit Graham, der hinter ihr aufragte wie ein fleischgewordener Golem.

„Cybill!“ Morgan Baxter drehte sich um und rief den Namen seiner Tochter in einem Tonfall, mit dem er vermutlich sonst seine Schülerinnen zu empfangen pflegte. Cybill lächelte nicht, doch das tat sie eigentlich nie. Trotzig schaute sie an ihrem Vater vorbei auf Shona.

„Wo warst du?“, schnauzte diese sie vor Wut kochend an. Cybill war klug genug, um zu schweigen, sodass Graham die Antwort übernahm.

„Ich habe die junge Lady im Stall ertappt, wie sie Devil satteln wollte. Offenbar hatte sie vergessen, dass heute Freitag ist, beziehungsweise dass Sie, Mister Baxter, kommen würden, um sie abzuholen.“

„Ist das wahr?“, fragte Morgan.

Cybill nickte.

„Geh rauf und pack deine Sachen!“, zischte Shona ihr im Vorbeigehen zu. „Wir sprechen später darüber.“

Cybill zeigte keine Reaktion und stampfte wutentbrannt die Treppe hinauf.

„Komm, Annabelle! Es ist wohl besser, wenn wir gehen“, murmelte Rowan seiner Freundin zu, die ihm widerwillig gehorchte.

Sie folgten Cybill in das obere Stockwerk.

„Guter Mann“, wandte sich Morgan an Graham. „Es freut mich zu sehen, dass wenigstens auf Sie Verlass ist.“ Er klopfte dem Bediensteten jovial auf die Schulter, was dieser mit einem leicht indignierten Blick quittierte. Morgan bemerkte ihn zwar, ignorierte ihn aber geflissentlich.

Stattdessen drehte er sich zu Shona um. „Glück gehabt, Liebes. Bedank dich bei Graham. Daran kannst du erkennen, wie wichtig es ist, einen Mann im Haus zu haben.“

Shona schlug das Herz bis zum Hals. Sie presste die Kiefer aufeinander, im Geiste immer wieder dasselbe Mantra wiederholend: Lass dich nicht provozieren. Spiel ihm nicht in die Hände. Lass dich nicht provozieren. Spiel ihm nicht in die Hände.

„Ich warte im Wagen.“ Er grinste und schob sich an Graham vorbei nach draußen.

Shona warf dem Chauffeur einen kurzen Blick zu, dann stampfte sie wütend die Treppe hinauf und stürmte in Cybills Zimmer, die auf der Bettkante saß und das Handy verschwinden ließ.

„Verdammt, warum klopfst du …“

„Ruhe!“, schrie Shona und Cybill schrak zusammen. „Was sollte das werden?“

„Ich … ich …“

„Überlege dir gut, was du jetzt sagst.“

„Ich habe keinen Bock, das ganze Wochenende in Edinburgh zu verbringen!“

Shona runzelte die Stirn. „Wie jetzt? Ein junges Mädchen, das keine Lust hat, zwei Tage in der Stadt zu verbringen?“, fragte sie spöttisch. „Was ist los, wirst du krank?“

„Sehr witzig, Mum.“

„Was ist dann dein Problem?“ Sie trat näher, streifte mit dem Blick die gerahmten Pferdefotografien. Die meisten davon zeigten Devil, Cybills ganzen Stolz. Er war ein Araber, den sie ritt, seit er ein junger Hengst war.

Mit einem Anflug von Wehmut dachte sie daran, wie sie früher, in Cybills Alter, für Richard Grieco, Johnny Depp, The Cure und David Bowie geschwärmt hatte. Doch bis auf ein Poster von Pink, das an der Tür hing, sah Cybills Zimmer viel zu erwachsen für ein vierzehnjähriges Mädchen aus.

„Ist es wegen Dad?“, fügte Shona hinzu, als ihre Tochter es vorzog zu schweigen.

„Was? Nein! Ich meine … ja, schon irgendwie.“

Shona schluckte. Sie war nie gut in diesen Mutter-Tochter-Dingen gewesen, fühlte sich dabei stets unbeholfen. Aber irgendetwas sagte ihr, dass Cybill ihr etwas sagen wollte. Shona ging auf das Bett zu, um sich neben ihre Tochter zu setzen, die aufsprang und wahllos Zeug in ihre dunkelgrüne Sporttasche stopfte.

„Ist mit Oma alles in Ordnung?“, fragte sie rasch, bevor Shona dazu kam, nachzuhaken. Die wurde von dem plötzlichen Themenwechsel völlig überrumpelt.

„Was? Ja, ja. Es … ist nichts. Sie … wollte mit uns nur über das Geschäft reden.“

„Ist es was Ernstes?“

„Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen müsstest, junge Dame!“, erwiderte Shona streng, aber auch mit einem Hauch Amüsement. Es war erschreckend, wie seriös Cybill bisweilen auftrat.

Sie wuchtete sich die Tasche über die Schulter und wollte gehen, als sie bemerkte, dass sie noch ihre Reithosen trug. Sie verdrehte die Augen, ließ die Tasche fallen und schaute ihre Mutter vorwurfsvoll an.

„Könntest du dann bitte gehen? Ich muss mich umziehen.“

Shona nickte und erhob sich. „Es gab mal eine Zeit, da hat dir das nichts ausgemacht.“

„Es gab auch eine Zeit, da hat es mir nichts ausgemacht, in die Hose zu pinkeln. Willst du, dass ich damit auch wieder anfange?“

„Schon gut, beruhig dich wieder. Ich will nur, dass du weißt, dass ich das nicht tue, um dich zu ärgern. Ich …“

„Bye, Mum!“

„Na schön. Ich … hab dich lieb!“ Shona drehte sich um und verließ fluchtartig das Zimmer ihrer Tochter.