Leseprobe Das Glück fällt, wohin es will

Kapitel 1

Meine Brüder malten der Katze ein Hitlerbärtchen, erschossen Enten mit dem Luftgewehr und ertränkten meine Puppe in der Regentonne.

„Du bist eh bloß adoptiert!“, schrien sie, wenn ich mich beschwerte.

„Papa, was heißt adoptiert?“, fragte ich einmal.

„Dass Leute sich ein Kind aussuchen, das keine Eltern hat, und es mit nach Hause nehmen und wie ein eigenes Kind aufziehen.“

„Also nicht verwandt?“, wollte ich wissen.

Die Vorstellung gefiel mir sehr gut, dass die drei gemeinen Kerle und diese mürrischen Leute nicht meine richtige Familie waren.

„Mama, bin ich adoptiert?“, vergewisserte ich mich.

„Natürlich nicht, denkst du, sonst hätten wir dich ausgesucht?“, meinte sie bloß, und damit war das Thema erledigt.

Meine gesamte Kindheit über wünschte ich mir brennend, ein Einzelkind zu sein. Einzelkinder trugen Kleidchen mit Spitzenkragen wie meine Freundin Angela und lebten mit ihren Eltern in einem schön geweißelten Haus, nicht in so einer verblichenen Schuhschachtel mit abblätterndem Putz. Sie mussten nicht die gebrauchten Kleider ihrer Brüder tragen und ihre Süßigkeiten nicht mit drei raufenden Idioten teilen.

Noch lieber hätte ich aber eine Schwester gehabt. Ich beneidete meine Cousinen Aurora und Maria, dass sie keine Brüder, dafür aber einander hatten. Sie hatten auch ein super Verhältnis zu meiner Tante Silvia, die sich geduldig all ihre kleinen und großen Kümmernisse anhörte und ihnen täglich drei liebevoll zubereitete Mahlzeiten servierte.

„Mach dir ein Brot, wenn du Hunger hast. Ich hab zwanzig Jahre lang gekocht, das reicht!“, erklärte meine Mutter, wenn wir uns übers fehlende Mittagessen beschwerten. Das mochte sogar stimmen, nur war das leider in den zwanzig Jahren vor meiner Geburt gewesen.

Meine Pubertät war noch viel schlimmer als die Kindheit und ich nutzte die erstbeste Chance und zog weg – seither traf ich die Familie nur noch, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Ich rettete mich in kurze, perfekt choreografierte Besuche, bei denen ich mit niemandem in echten Kontakt kam.

Im Gegensatz zu meiner Mutter hatte ich mir meine beiden Kinder sehnlichst gewünscht und kümmerte mich wirklich um Till und Lotte. Leider dankten sie mir das weder damit, auf mich zu hören, noch mir ein kleines bisschen Luft zum Atmen übrigzulassen. Sie hatten es geschafft, innerhalb von fünf Jahren nicht nur meine Figur, sondern auch meine Karriere und meine Ehe zu zerstören. Das sagte ich natürlich niemandem, ich bin ja nicht bescheuert. Jedenfalls nicht total, ein bisschen vermutlich schon, sonst hätte ich meinem Mann nicht geglaubt, dass man Kinder und Karriere bestens unter einen Hut bringen kann.

Als Hagens Einladung zur Taufe seiner Tochter bei uns eintraf, passte es mir kein bisschen. Erstens kam sie gerade mal drei Tage vor der Feier an, und dann auch noch ausgerechnet einen Tag vor Tills sechstem Geburtstag. Und außerdem war mein letzter Besuch in Kirchbach erst ein halbes Jahr her und der Abstand damit viel zu kurz. Ich überlegte, ob meinem Bruder eine Absage per SMS reichen würde und legte die Klappkarte vorübergehend ins Bücherregal, denn ich musste die Hände freikriegen.

Es war Donnerstagvormittag und ich hatte eine lange Liste vor mir, die ich abarbeiten musste.

Hektisch und beinahe zu spät hatte ich Till in den Kindergarten gebracht und war mit Lotte auf dem Heimweg einkaufen gewesen, wobei sie so lange gebrüllt hatte, bis sie ihren eigenen Wagen schieben durfte. Leider wollte sie auch selbst auswählen, was wir einkauften, und die Vorlieben einer Dreijährigen wichen stark von meinem Einkaufszettel ab.

Lotte kann sich wochenlang nur von Nudeln und Schokolade ernähren und verschmäht jede Art von Obst und Gemüse. Seit ich mit ihr allein zuhause war, ernährte ich mich daher überwiegend von Kaffee mit Milch und zwischendurch hektisch eingeworfenen Kleinigkeiten, wenn mein Blutzuckerspiegel absackte. Ich beneidete meinen Mann Stan heftig darum, dass er immer noch jeden Tag mit den Kollegen in der Kantine essen konnte und manchmal sogar meinen Sohn um den ausgewogenen Speiseplan im Kindergarten.

Doppelt zu kochen, war mir zu aufwändig, und Lotte war so dünn, dass ich ihr nichts Falsches vorsetzen wollte, denn sie konnte problemlos drei Tage lang hungern, um mir zu zeigen, wie sehr sie meine Wahl verabscheute. Also gab ich meistens nach und brachte nur noch auf den Tisch, was sie mochte: Pfannkuchen, Nudeln mit nichts, Reis mit nichts, Spätzle mit nichts, Kaiserschmarrn oder Nutellabrot. Gelegentlich gönnte ich mir Pesto oder eine Soße dazu, wenn Lotte nicht aufpasste. Meiner Figur hatte diese Ernährung gar nicht gutgetan, während meine Tochter rank und schlank durch ihr junges Leben stolperte.

Niemals hätte ich mir in meiner Zeit ohne Kinder vorstellen können, dass ich Jahre später von einem kleinen Diktator durch den Supermarkt gescheucht werden und meine Befehle in Empfang nehmen würde, welches „Bäh“ wir im Supermarkt lassen sollten. Wir einigten uns schließlich nach harten Verhandlungen auf Milch, Saft, Brot, Tomaten, Schokoladenkekse und Waschpulver, wohingegen ich die Zwiebeln und das Suppengemüse zurücklegen musste. Vor der Kasse luchste sie mir noch zwei Schokoriegel ab, die sie sofort im Auto aß.

Als wir vor unserem Haus parkten, blieb ich kurz sitzen, weil ich zu erschöpft zum Aussteigen war. Es war erst halb 10 Uhr morgens.

„Mama, Mulli!“ Meine Tochter war mit den Süßigkeiten fertig und brauchte einen Ersatz, den sie in ihr schokoladenverschmiertes Mündchen stecken konnte. Ich kramte in meiner Handtasche, fand nichts und resignierte. Gleich würde sie mich wieder anschreien.

„Wir sind gleich in der Wohnung und dann bekommst du deinen Schnulli“, schmeichelte ich, aber sie legte schon los. Ich hielt mir die Ohren zu und betrachtete Lotte im Rückspiegel. Die blonden Haare standen ihr wild vom Kopf ab, und sie sah aus wie ein wütendes Küken. In diesem Stadium war jedes Argument sinnlos.

Sobald ich mich aufraffen konnte, stieg ich aus, schnallte die zeternde Sirene ab und schleppte uns mit den Einkäufen ins Haus. In der Wohnung steckte ich Lotte als allererstes den Notfallschnuller vom Schlüsselbrett in den zornigen Mund und verstaute dann die Einkäufe in der Küche. Noch bevor ich mir einen Kaffee machte, beseitigte ich das Chaos in der Garderobe. Schuhe ins Regal, Jacken auf den Haken, schmutzige Socken in den Wäschekorb. Lotte sah mir ungerührt zu und zeigte mir, welche Stellen noch dreckig waren. Dann holte ich die Post, legte Hagens Einladung ins Regal und machte mir endlich einen Kaffee. Leider war die Kaffeemaschine seit drei Wochen kaputt, weshalb ich mich mit Instantpulver zufriedengeben musste. Danach saugte ich den Flur und warf eine Ladung Wäsche in die Maschine.

Mittags sah die Wohnung einigermaßen annehmlich aus und ich machte Pfannkuchen für Lotte, die sie ablehnte, weil sie „komisch“ aussahen.

„Probier doch wenigstens mal, nur einen Bissen!“, bat ich, aber sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Wenn sie dabei nicht so unendlich süß ausgesehen hätte, hätte ich sie erwürgt.

Später spielte sie mit meiner alten Babypuppe Franziska und erklärte ihr in ihrer speziellen Sprache, dass eine gute Mutter gerne auch zwei oder dreimal für ihr Kind kochte, wenn es „Ekelessen“ gab.

Ich machte das Radio an und legte mich kurz aufs Sofa.

„Was ist Luxus?“, fragte der Radiomoderator.

„Ein Parfüm für dreihundert Euro? Ein Tauchurlaub in der Karibik? Ein eigener Pool?“

Der Typ hatte doch keine Ahnung! Sollte er mal eine Kleinkindmutter fragen. Luxus ist, aufs Klo zu können, wenn man muss. Luxus ist, auszuschlafen und mit einer sauberen Bluse rauszugehen. Wer Babys oder Kleinkinder hat, ist mit den simpelsten Vergnügungen zufriedenzustellen. Mütter sind nicht anspruchsvoll. Mütter sind dankbar.

Wir haben gelernt, Kleinigkeiten zu genießen. Ein Heißgetränk in der Sonne zu trinken, solange es noch heiß ist, und ohne es über die Hose geschüttet zu bekommen: Ein Traum! Acht Stunden am Stück zu schlafen: Das Paradies. Ein ordentliches Wohnzimmer zu haben, das länger als zehn Minuten sauber bleibt: Doch eher eine Vision. Diese Müdigkeit! Und das Chaos! Darauf hatte mich nichts vorbereitet.

Warum sagte das einem vorher eigentlich keiner? Alle Mütter, die ich gekannt hatte, hatten mich blindlings in diese Falle tappen lassen, allen voran meine eigene. Natürlich hatte ich als kleines Mädchen mit Puppen gespielt und mir auch eine eigene Familie gewünscht. Aber ganz ehrlich: Die Puppen waren kooperativer gewesen. Sie ließen sich anziehen, umziehen, füttern und wickeln, ohne zu protestieren. Wenn ich sie schlafen legte, schliefen sie, und zwar solange, bis ich sie wieder aufweckte, fünf Minuten, eine Nacht, zwei Monate. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich Lottis Puppe sehnsüchtig über den Kopf streichelte. Wir hatten gute Zeiten zusammen gehabt.

Auch die Puppenväter waren pflegeleicht gewesen, sofern sie im Spiel überhaupt auftauchten. Außer ein paar zerquetschten Himbeeren hatten sie nichts weiter von mir und meinen Cousinen gewollt. Das war kein Vergleich zu dem Alptraum, in dem ich mich nun befand. Mein echter Mann erwartete abends eine ordentliche Wohnung, fröhliche, saubere Kinder, ein warmes Abendessen und eine gutgelaunte Frau, die ihn betüddelte. Dabei wäre ich selbst abends gerne mal betüddelt worden.

„Mami, Hunger!“, brüllte Lotte und ich rappelte mich auf und überlegte, ob ich ihr die Pfannkuchen irgendwie noch untermogeln konnte. Vielleicht mit so viel Nutella, dass sie die „komische Farbe“ nicht mehr bemerkte?

Leider bemerkte sie meine List und bekam einen neuerlichen Wutanfall. Den Teller konnte ich retten, bevor sie ihn durchs Zimmer schleuderte. Ich mischte mit schlechtem Gewissen ein Milchfläschchen und bugsierte das Kind ins Auto. Die Flaschen hatte ich ihr eigentlich schon beinahe abgewöhnt, aber hier waren wenigstens alle vorgeschriebenen Nährstoffe drin. Außerdem brauchte ich ihre Stunde Mittagsschlaf dringend, um solange die verbotenen Sachen einzukaufen, und wenn sie so wütend war, ließ sie sich nur durch ein Fläschchen beruhigen. Weil Till sich eine spezielle Schlumpfglasur gewünscht hatte, musste ich quer durch die Stadt fahren, aber ich hatte Glück, denn Lotte schlief sofort ein und wachte erst wieder zuhause auf.

Vier Stunden später war ich am Ende. Ich hatte die Zutaten für drei Kuchen, Geburtstagsservietten, Luftballons und Girlanden gekauft, Till abgeholt und war mit ihm beim Friseur gewesen. Dann hatte ich den Kindern Tiefkühlpommes in den Ofen geschoben und mich bei ihnen für das Fehlen von Ketchup entschuldigt.

Mittlerweile war die Ordnung in der Garderobe wieder zerstört und der Flur sah schlimmer aus als in der Früh. Das morgendliche Aufräumen war wie immer verschwendete Energie gewesen.

Jetzt musste ich noch beide Kinder baden, ins Bett stecken und dann das Wohnzimmer aufräumen. Das würde ich wahrscheinlich noch schaffen, bevor ich ins Bett fiele. Wobei ich eigentlich noch die Mahnung für Müllers Traummöbel schreiben musste, aber nachdem die seit kurzem nur noch mit ihrem Scheidungskrieg beschäftigt waren und keine Rechnungen mehr beglichen, konnte ich das auch noch aufschieben. Auf Lottis Mittagsschlaf am nächsten Tag vielleicht. Obwohl ich da eigentlich bereits den Geburtstagstisch decken musste … aber vielleicht konnte ich das gleich nach dem Frühstück machen. Genau, und dann schnell die Torte backen, bevor Lotti Mittagessen haben wollte. Obwohl ich mir da eigentlich die Haare waschen sollte. Aber das könnte ich vielleicht heute Abend noch reinquetschen.

Es war schwer, neben den Kindern zu arbeiten, auch wenn ich selbständig war und nur kleine Aufträge bekam, aber da wir immer noch keinen Krippenplatz für Lotte bekommen hatten, musste ich meine Arbeit in die kleinen Lücken quetschen, die ich dringend zu meiner Erholung gebraucht hätte.

Ich ließ mich für eine Minute auf das Bett sinken. Oh, war das schön. Nur eine Minute. Wenn ich einfach liegenbleiben könnte … Aber da schrien sie schon aus dem Bad.

„Mama! Mama, Till Ente genehmt!“

„Die Lotti hat mich zuerst gespritzt!“

„Dimmt gar nicht! Till ist gemein!“

„Mama, komm jetzt sofort!“

Eine halbe Stunde später schlummerten Till und Lotte friedlich in ihren Bettchen und ich war durchgeschwitzt. Ich wischte den Boden im Bad halbherzig trocken und beschloss kurzerhand, meine Pläne für den Abend zu canceln. Also ließ ich frisches Wasser einlaufen, schüttete großzügig meinen Lavendel-Entspannungsbadezusatz hinein, streifte die feuchten Klamotten ab und ließ mich in den Schaumberg fallen. Was sollte ich mir so einen Stress machen? Es ging doch nur um einen läppischen Kindergeburtstag. Die Kinder würden nicht in alle Ecken schauen. Hauptsache, es gab Kuchen. Und den konnte ich notfalls auch morgen Vormittag noch kaufen. Alles was ich brauchte, waren fünf Minuten Ruhe und Entspannung. Dann würde ich morgen bestimmt alles andere schaffen!

Außerdem freute ich mich so sehr auf eine Feier gemeinsam mit meinem Mann. Nachdem mein Geburtstag letzten Monat zeitbedingt ins Wasser gefallen war und Stan in Aussicht gestellt hatte, wir würden ihn an Tills Tag nochmal nachfeiern. Er hatte eine Überraschung angedeutet und ich fragte mich, was er mir wohl schenken wollte.

Unsere gemeinsamen Stunden waren so selten geworden, seit Stan permanent Überstunden schob.

Als ich gerade nach dem Shampoo greifen wollte, klingelte es schrill an der Tür. Wer konnte das denn jetzt sein? Es war schon fast neun! Stan wollte nicht vor zehn da sein und hatte natürlich seinen eigenen Schlüssel.

Seufzend erhob ich mich schwerfällig aus der Wanne, trocknete mich notdürftig ab und wickelte mich in meinen alten Morgenmantel. Dann tappte ich schlecht gelaunt zur Tür und linste durch den Spion. Mir wurde schummrig vor Augen. Das durfte doch nicht wahr sein! Durch das Zerrglas sah ich die aufgeplusterte Dauerwelle meiner Schwiegermutter! Wie kam die um Himmels Willen heute hierher? Schließlich wohnte sie in Hamburg!

Ich kramte in meinem Gedächtnis … nein, Stan hatte mit keinem Wort etwas von einem Besuch erwähnt!

Wie konnte Agnieszka es wagen, unangemeldet vorbeizukommen? Ich brauchte normalerweise mindestens eine Woche Vorlaufzeit, um die Wohnung so weit in Ordnung zu bringen, dass sie Agnieszka-tauglich war. Am liebsten wollte ich mich wegschleichen und einfach nicht öffnen. Aber es half nichts. Ich konnte sie ja schlecht dort stehenlassen. Also öffnete ich langsam die Tür.

„Sophia!“, jubelte Agnieszka und fiel mir um den Hals. „Lass dich anschauen!“ Küsschen rechts, Küsschen links, Küsschen rechts, starkes Parfüm. „Du siehst gar nicht gut aus. Was ist los, bist du krank?“

Nein, zu Tode erschrocken, dachte ich grimmig, während ich den Gürtel meines Bademantels fester zog und eine Unterhose unter den Garderobenschrank kickte.

„Kommt doch erstmal rein“, sagte ich verlegen.

Agnieszka stakste auf ihren High Heels durch die Tür, Wojtek schlurfte brummend mit dem Koffer hinter ihr her.

„Herzlich willkommen“, murmelte ich und drücke mich an die Wand, um sie mit ihrem Gepäck durch den Flur zu lassen.

Am liebsten wollte ich sie fragen, was zum Teufel sie hier machten. Aber das würde unsere Beziehung wahrscheinlich nicht verbessern.

„Wann hast du denn das letzte Mal mit Stan gesprochen?“, fragte ich diplomatisch.

„Vor halber Stunde. Die Ausfahrt war gesperrt und Stanislaw hat uns am Telefon umgeleitet. Ach, der Junge ist immer so hilfsbereit.“

Ich schaute unauffällig auf mein Handy, ob er mir eine SMS geschickt hatte. Nichts. Was mich betraf, war er weniger hilfsbereit.

„Habt ihr Hunger?“, fragte ich. Bitte, bitte nicht. Es gab nur noch angetrockneten Spinat und drei Erbsen.

„Keine Umstände, erstmal nur eine Kawetschka!“, trällerte meine Schwiegermutter.

Sie wusste nicht, dass momentan jeder Kaffee Umstände machte. Ich dimmte das Licht, damit sie den Staub in der Küche nicht sehen konnten. Der Milchaufschäumer funktionierte zwar noch, aber der „Espresso“ war dünn wie Wasser. Deswegen ließ ich einen wässrigen Cappuccino heraus und löffelte heimlich Instantkaffeepulver hinein, bis er stark genug aussah.

Agnieszka wollte zuerst ihr Gepäck in ihr Zimmer bringen und dann die „Süßlichkeiten“ sehen.

Die „Süßlichkeiten“ schliefen aber bereits, und „ihr Zimmer“ gab es nicht, weil ich normalerweise mein Arbeitszimmer für sie freiräumte, was ich diesmal nicht gemacht hatte.

„Die Kinder schlafen schon“, sagte ich vorsichtig.

„Aber ich habe sie so lange nicht gesehen. Habe ganzen Weg an sie gedacht. Sind sie auch glücklich, wenn sie ihre Babcia sehen!“, flötete sie honigsüß.

Ja, und sie sind auch glücklich, wenn sie jetzt noch bis Mitternacht aufbleiben und dann morgen um halb sieben aufstehen müssen …

„Okay“, gab ich nach, „aber ganz leise.“

Wir schlichen ins Kinderzimmer und Agnieszka betrachtete Till und Lotte mit Tränen in den Augen. Mann, das war wirklich egoistisch von mir. Sie wollte sie doch nur kurz mal anschauen und … „Was machst du da?“, zischte ich.

„Streicheln!“, sagte Agnieszka laut. „So zarte Haut!“

Ja, so zarte Haut und so zarter Schlaf, dachte ich wütend, als Till blinzelte.

„Omi!“, schrie er plötzlich und setzte sich auf. Ruckartig verzog Lotte das Gesicht und begann zu weinen.

„Darf ich …?“, fragte Agnieszka und beugte sich zu ihrer Enkelin. Ich zuckte stumm mit den Schultern. Jetzt war es eh zu spät. Lotte sah das offenbar anders, sie strampelte sich frei und brüllte markerschütternd: „Mami! Zu Mami! Flaschi!“

Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihr erneut das geforderte Milchfläschchen zu machen, denn ich hatte einfach keine Nerven für einen weiteren Wutanfall. Ich klemmte mir mein Mädchen unter den Arm und goss einhändig Milch in einen Topf. Nebenbei versuchte ich, türkischen Kaffee für Wojtek aufzubrühen, der am Küchentisch saß und mich schweigend musterte. Lotti hatte die Arme um meinen Hals geschlungen und ließ ab und zu erbärmliche kleine Schluchzer hören. Mein Schwiegervater beobachtete uns und schüttelte leicht den Kopf. Was passte ihm nicht? Meine Frisur? Mein Nachthemd? Mein Leben? Warum konnte er nicht zu Agnieszka und Till ins Kinderzimmer gehen?

„Komm zu Dziadek, księżniczka moja!“

Er streckte die Arme aus und wollte mir Lottchen abnehmen. Ich wusste nicht, wie ich ihm schonend beibringen sollte, dass sie nachts nur an der Mama klebte und sich nicht mal von Papa streicheln ließ.

Aber Lotti giggelte überrascht und kletterte Wojtek einfach auf den Schoß. Wie bitte? Sie hatte ihn doch wochenlang nicht mehr gesehen.

„So ist gut, kleine Prinzessin.“

Sie fasste ihm in den Bart und zog daran, er lachte. Ich wollte ja nicht sagen, dass mich das kränkte, aber …

Ich schob meine widersprüchlichen Muttergefühle zur Seite und nutzte die Pause, um das Fläschchen und den Kaffee fertigzumachen.

Wojtek nahm mir die Flasche wie selbstverständlich aus der Hand und fütterte seine Enkelin. Sie schmiegte sich in seinen Arm und nuckelte selig.

Es wurmte mich, wie wenig meine sonst so anhängliche Tochter mich gerade brauchte. Allerdings gab mir das die Gelegenheit, das schlimmste Chaos im Arbeitszimmer zu beseitigen. Ich hastete in mein Zimmer, schob alle Sachen von der Couch und warf sie unten in den Schrank. Dann bezog ich das Sofa und fegte noch meinen Schreibtisch leer, indem ich eine flache Kiste davorhielt und alle Papiere unsortiert hineinrutschen ließ. Die Kiste stellte ich oben aufs Regal, wo hoffentlich niemand hinschaute. Seit Agnieszka mich einmal in der Waschküche erwischt und tränenreiches Mitleid mit den schlecht zusammengefalteten Kleidungsstücken geäußert hatte, versuchte ich, sie nie mehr mit Unordnung zu konfrontieren. Staubsaugen konnte ich jetzt aber nicht mehr, das wäre zu laut. Obwohl Agnieszka und Till auch einen Heidenlärm im Kinderzimmer veranstalteten.

Dann sperrte ich mich im Schlafzimmer ein und rief meinen Mann an.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass deine Eltern kommen?“, flüsterte ich ins Telefon. Ich war so wütend, dass ich fast platzte.

„Aber das haben wir doch an Ostern besprochen!“, erwiderte er ruhig.

„An Ostern hast du mal gesagt, dass sie vielleicht gerne zu Tills Geburtstag kommen würden, aber in den letzten fünf Monaten hast du das nie wieder erwähnt!“

„Siehst du! Du hast doch sonst so ein gutes Gedächtnis!“

„Es passt mir aber gerade überhaupt nicht!“

„Willst du meiner Mutter ihre Enkel vorenthalten?“

Gott, war der dämlich. „Nein, ich will mich nur ausreichend vorbereiten können, wenn sie kommen!“

„Mach es doch nicht so kompliziert. Sei einfach du selbst!“

„Ich selbst mache aber keinen guten Eindruck. Morgen will sie sicher wieder hier putzen!“ Jetzt heulte ich fast.

„Dann lass sie doch! Du bist ja eh überfordert mit dem Haushalt. Ich muss jetzt auflegen.“

Manchmal hasste ich den Mann, den ich geheiratet hatte.

Ich schaute ins Kinderzimmer, wo Wojtek Lotti in ihrem Bettchen wiegte. Mit dem Zeigefinger streichelte er ihr Bäckchen, sie hielt seinen kleinen Finger fest umklammert. Mit der anderen Hand schaukelte er die Wiege gleichmäßig und summte dabei. Till saß strahlend in seinem Bett und Agnieszka fütterte ihn mit Schokolade.

„Er hat schon Zähne geputzt!“, sagte ich schwach.

„Ist mit Calcium, ist ganz gesund!“, erklärte sie und hielt mir die Packung der Milchschokolade hin. Glaubte sie das wirklich? Offenbar ja.

Bei meinen seltenen Besuchen in Stans Herkunftsland war mir aufgefallen, dass die Polen alle Kinder grundsätzlich mit Süßigkeiten versorgten, als wäre es Trinkwasser. Vielleicht brachte man ihnen dort bei, dass junge Menschen ohne ihre Dosis Zucker keinen Tag überlebten?

Ich beschloss, die vier in Ruhe zu lassen und verschwand im Bad, wo ich mir hektisch die Haare im Waschbecken wusch. Ins kalte Badewasser wollte ich nicht mehr zurück und entspannen konnte ich mich eh nicht, solange der polnische Putzteufel in der Wohnung weilte.

Als ich beinahe mit Föhnen fertig war ertönte ein schriller Schrei. Ich ließ vor Schreck meine Rundbürste fallen und eilte in den Flur. Aber es hatte sich nur ereignet, dass Stan heimgekommen war. Agnieszka fiel ihm so stürmisch um den Hals, als wäre er gerade aus dem Krieg heimgekehrt. Sie weinte und küsste ihn ab. Okay, das war halt das slawische Temperament.

„Pscht, die Kinder!“, flüsterte ich trotzdem, aber mich beachtete hier sowieso niemand. Also schlich ich mich ins Kinderzimmer und sah zu meiner Freude, dass beide Kinder schliefen. Till lag mit schokoladeverschmiertem Gesicht im Bett und Lotti umklammerte irgendetwas mit ihrem kleinen Händchen. Einen Stift? Ich betrachtete das Ding näher. Igitt, war das etwa ein Knochen? Ich nahm nicht an, dass sie ihrem Opa den Finger abgebissen hatte. Sicherheitshalber wollte ich aber mal nachsehen. Die wiedervereinte Familie saß im Wohnzimmer und schwatzte laut auf Polnisch. Vor ihnen standen Wodka, Kaffee, Wasser und diverse Häppchen in Plastikboxen. Als würde es bei uns nichts zu essen geben! Na gut, heute gab es bis auf ein paar vertrocknete Pommes auch nichts, aber trotzdem kränkte mich das. Ich setzte mich vorsichtig ans ungemütlichste Ende der Couch. Agnieszka belegte meinen Lieblingsplatz und neben Stan wollte ich nicht sitzen.

Vorsichtig stupste ich meinen Schwiegervater an.

„Wojtek, was hast du Lotti gegeben?“

„Ist Knochen, ist gut für Zahnen!“

„Sie isst aber noch kein Fleisch!“

„Sie nur knabbert!“, sagte er ungerührt.

Wer bringt denn bitte einem Kleinkind abgenagte Knochen mit? Das mit der Schokolade konnte ich ja noch verstehen, auch wenn ich schon hundertmal gesagt habe, dass sie mich zuerst fragen sollen, aber es ist sowieso hoffnungslos. Aber das? Ich schaute meinem Mann ins Gesicht, um zu sehen, ob es ihm leidtat, was er mir angetan hatte. Er zwinkerte mir zu. Offenbar nicht.

Die Unterhaltung war so laut und schnell, dass ich kein Wort verstehen konnte. „Worum geht es?“, fragte ich vorsichtig.

„Tante Kasia weigert sich, ins Altenheim zu ziehen. Sie hockt wie ein Adler auf seinem Nest in ihrem winzigen Dorf hinter Kattowitz und lässt keinen Pflegedienst herein. Da gibt es nicht mal Internet, irgendwann muss Mama hinfahren und sie zum Umzug zwingen“, erklärte Stan.

„Vielleicht will sie eben lieber allein sein?“, sagte ich missmutig.

„Das will sie sogar ganz bestimmt. Allerdings hat sie Diabetes und bräuchte täglich eine Spritze. Selbst kann sie die nicht setzen und auf den Arzt hört sie auch nicht. Eine Katastrophe, cholera jasna!“ Agnieszka verfiel in polnische Flüche und redete dann weiter in ihrer Muttersprache. Die Männer nickten und stimmten ihr zu. Wojtek schenkte ihr laufend nach und Stan massierte ihr tatsächlich die Beine, wozu er bei mir immer zu müde war. In mir brodelte es.

Da mich hier keiner mehr beachtete, konnte ich mich auch verziehen.

„Ich gehe ins Bett“, informierte ich unsere Gäste, aber keiner nahm Notiz von mir. Im Bett wählte ich die Nummer meiner besten Freundin, die wie meistens während ihrer Reise durch Mexiko nicht erreichbar war. Mir war zum Heulen zumute, aber das war mir dann auch zu anstrengend. Also löschte ich einfach das Licht und presste mein Gesicht ins Kopfkissen.

Kapitel 2

Wenn man Kinder hat, kann man nirgends mehr hingehen. Man macht nämlich keinen guten Eindruck. Man verliert vieles als Mutter: Zeit, Geld, Nerven, Figur, aber das Schlimmste für mich war, meine Souveränität verloren zu haben. Früher war ich eine hübsche, selbstbewusste Frau, die wusste, wie man die meisten Situationen meistert, entschlossen oder charmant, mit Taktik, Witz und Gespür für den Moment.

Jetzt war ich ein Trampel, der überall zu spät kam, in ruhige Momente hineinplatzte, wichtige Gespräche unterbrach und Joghurtflecken an der Bluse hatte. Wenn ich es überhaupt in eine Bluse schaffte. Meine Hose passte nicht zum Oberteil, die Jacke war zu eng, die Handtasche riesengroß und immer voller Krümel, die Schuhe waren flach und abgestoßen. Ich hatte niemals mehr eine hübsche Frisur, ich war schon froh, wenn die Haare gewaschen waren.

Meine Augenbrauen waren ungezupft, dafür zupfte mich ständig etwas am Arm. Ich schämte mich neben den normalen Menschen, die nachts geschlafen und heute schon geduscht hatten, die den Kopf über mich schüttelten und sich zuzischten, dass die Alte ihre Kinder nicht im Griff hatte. Ich stimmte ihnen absolut zu. Die Alte hatte ihre Kinder nicht im Griff und sah dazu noch schrecklich aus.

Till und Lotte waren Vampire, sie beanspruchten meinen kompletten Tag und oft genug auch noch ein paar Stunden meiner Schlafenszeit dazu. Es war ausgeschlossen, irgendetwas fertig zu bekommen, solange ich alleine mit ihnen zuhause war. Ich schaffte nur das Nötigste im Haushalt und musste mir dann Stans Vorhaltungen anhören, wenn er abends nach Hause kam. Nur wenn ich Till in den Kindergarten und Lotti zur Nachbarin brachte, konnte ich mit schlechtem Gewissen ein paar liegengebliebene Aufträge abarbeiten. Und was die Fragerei betraf: Till fragte mir mit seinen sechs Jahren apfelgroße Löcher in den Bauch, und seit neuestem tat die dreijährige Lotte es ihm gleich. „Warum nicht Nutella? Warum nicht Ssseiße sagen? Warum weint die Mama?“

Ich ertappte mich dabei, wie ich völlig erschöpft nach Antworten rang, während die Kinder die Frage längst vergessen hatten und fröhlich Knäckebrot in den Ausguss stopften.

Wenn meine Schwiegereltern zu Besuch kamen, war es noch schlimmer. Egal, wie früh Agnieszka auch aufstand, sie war stets vollendet geschminkt. Nach einem kompletten Tag mit den Kindern hatte sie keinen einzigen Fleck auf dem Kostüm und schneller als ich konnte sie in ihren High-Heels auch laufen. Neben ihr kam ich mir meistens wie ein absoluter Trottel vor.

Und nach diesen stressigen Wochen, in denen Stans Leben nur noch aus Überstunden zu bestehen schien und ich Lotte mühsam in durchbrochenen Nächten das Milchfläschchen abgewöhnt hatte, war ihre Anwesenheit besonders schwer zu ertragen, denn sie war die leibhafte Erinnerung an mein Versagen auf so vielen Ebenen.

An Tills sechstem Geburtstag lief es zunächst besser als erwartet, Stan war den ganzen Tag im Büro und Agnieszka ging mit Lotti einkaufen und holte Till vom Kindergarten ab. Ich nutzte die Zeit, um meine Papiere zu sortieren und die Torte zu backen.

Als ich meinen eher mickrigen Kuchen aus dem Ofen zog, kam Agnieszka zurück. Auf den Händen balancierte sie eine dreistöckige Schokoladentorte aus dem Schaufenster unseres Konditors. Die Torte, die ich Till verweigert hatte, weil sie hundert Euro kostete und eher einer Hochzeit angemessen war. Es hatte mich eine Woche und unzählige Diskussionen gekostet, bis er endlich eingesehen hatte, dass dieses Monstrum für den 6. Geburtstag eines kleinen Jungen überdimensioniert war.

Dafür hatte ich extra die blöde Schlumpfglasur gekauft, mit der ich meinen mickrigen Kuchen verschönern wollte. Das konnte ich mir jetzt ja wohl sparen.

Ich mag meine Schwiegermutter, wirklich. Ich kann nur ihr Verhalten meistens nicht nachvollziehen und weiß auch nicht, was ich mit ihr reden soll. Sie findet alles süß, niedlich und entzückend. Sie trinkt ein Käffchen mit einem Sähnchen und krault Till das Köpfchen, während sie das Kommandochen an sich reißt.

„Gehst du mal kurz aus die Küche, ich will nur noch schnell durchwischen, bevor die Gäste kommen! So kann man ja niemanden empfangen. Also, das ist nur meine Meinung!“, setzte Agnieszka höflich nach, als sie meinen Blick sah. Ich floh ins Schlafzimmer, bevor ich Gefahr lief, meine Schwiegermutter mit Schlumpfglasur zu überschütten, und sperrte ab, damit sie nicht merkte, dass ich heulte.

Ich versuchte nochmal, Veronika anzurufen, aber ihre Mailbox sagte nur, dass sie verhindert war. Also riss ich mich zusammen, puderte mein Gesicht, steckte die Haare hoch und malte mir die Lippen rosa. Besser. Die frische Bluse konnte ich mir im Prinzip sparen, denn sie würde keine zehn Minuten lang weiß bleiben. Andererseits zeigte ich damit wenigstens guten Willen.

Als ich mich beruhigt hatte und wieder herauskam, staunte ich nicht schlecht. Irgendwie hatte meine Schwiegermutter es geschafft, innerhalb von zwanzig Minuten die ganze Wohnung sauber und ordentlich zu zaubern, obwohl meine Kinder ihr dabei „geholfen“ hatten und die ersten Gäste samt ihren Eltern schon eingetrudelt waren. Ich begrüßte sie höflich, nahm Geschenke ab, verteilte Stoppersocken und zeigte den Kindern ihre Plätze. Lärm, Lärm, Geschrei, gepresstes Lächeln, dirigieren, lächeln, lächeln. Als alle Eltern bis auf Leons Mutter verschwunden waren, atmete ich auf.

„Pscht, könnt ihr mal etwas leiser sein? Dann können wir mit den Spielen anfangen!“, versuchte ich, zu der Meute durchzudringen. Die Kinder entschieden sich dagegen, leiser zu sein. Also ließ ich sie weiter sinnlos im Kreis herumrennen und bahnte mir einen Weg zum Sofatisch.

„Kriegst du ein Baby? Dein Bauch ist so dick!“, fragte mich Leon, während er seinen Rotz laut hochzog.

„Nein!“, fauchte ich den Fünfjährigen an und rechnete im Kopf nach, wann ich zuletzt meine Regel gehabt hatte. Verdammt, verdammt, verdammt!

Ungläubig ließ ich mich aufs Sofa sinken, um sofort wieder aufzuspringen, weil mich etwas Spitzes in den Hintern gestochen hatte. „Aua!“, schrie ich.

„Mama, nein, mein Traktor!“, schrie Till. Scheiße. Jetzt hatte ich Leons Geschenk kaputtgemacht, das einzig Gute, was er zu dieser Feier beigetragen hatte.

„Das kann man sicher wieder kleben“, meinte ich beschwichtigend, aber Till heulte schon los.

„Du weißt wohl gar nichts. Das ist ein intellentes Stecksystem, man kann alles zusammenstecken“, belehrte mich Leon. Woher hatte er diesen oberlehrerhaften Ton? Aber Hauptsache, das Ding war nicht kaputt.

„Bis auf dieses Teil, das du abgebrochen hast. Jetzt ist es hin!“, ergänzte Leon triumphierend und schloss sich wieder den rennenden Kindern an.

„Das tut mir leid“, sagte ich zerknirscht.

„Davon wird es auch nicht wieder heil!“, rief er mir quer durch das Zimmer zu. Till blieb stehen und heulte noch lauter.

„Willst du was Süßes? Ich hab Mohrenköpfe im Kühlschrank!“, fragte ich.

„Das kann man aber heutzutage wirklich nicht mehr sagen, das ist total diskriminierend, Sophie“, informierte mich Leons Mutter, die im Schneidersitz auf dem Teppich saß. „Heute sagt man Schaumküsse.“ Daher hatte Leon also diesen Ton.

„Okay, ich hab auf jeden Fall diese weißen Dinger mit Schokolade“, verbesserte ich mich. „Willst du dich nicht aufs Sofa setzen?“

„Nein, danke. Machst du das immer so, dass du die Kinder mit Süßigkeiten von Problemen ablenkst?“, fragte Julia weiter.

Ich sah hilfesuchend zu Agnieszka, die aufstand und in die Küche ging. „Keine Ahnung“, sagte ich nervös, „darf Leon so was nicht essen?“

„Wir leben ovolacto-vegetarisch und zuckerfrei. Weißt du eigentlich, wie viel Gift in so einem Schaumkuss steckt?“

„Nein.“

„Wenn man Ratten damit füttert, sterben sie nach dreißig Tagen!“, sagte sie triumphierend. Offenbar mochte sie weder Sofas noch Ratten.

Zum Glück kam meine Schwiegermutter mit der Torte auf einem Tablett zurück und die Kinder scharten sich laut um sie.

„Kinder, Kinder, setzt euch doch erstmal auf eure Stühlchen. Wer still ist, bekommt das erste Stück!“ Gebannt beobachtete ich, wie Agnieszka die lärmende Bande nur kraft ihrer Stimme auf die Stühle presste und ihre Mäulchen schloss. Warum besaß ich nicht solche Superkräfte? Ich wollte den Kindern Saft eingießen, aber Agnieszka bedeutete mir, dass sie das schneller und besser konnte.

„Möchtest du vielleicht auch einen Kaffee?“, fragte ich Julia, die keine Anstalten machte, zu verschwinden.

„Habt ihr auch Tee?“

„Klar“, sagte ich erleichtert. Tee hatten wir nun wirklich genug, weil Stan in jeder Stimmung eine andere Sorte wollte. „Was möchtest du, Earl Grey, Ceylon Assam, Darjeeling?“

„Wir trinken niemals schwarzen Tee. Im schwarzen Tee ist nämlich eine Droge drin: Teein!“

„Ach so. Ich schau mal, ob wir noch Kräutertee haben.“

Ich flüchtete in die Küche. Stilltee, Babybauchtee, abgelaufene Pfefferminze, Kamille, Winterglück und Verdauungstee. Das war das richtige für Julia, weder abgelaufen noch voller Drogen, einfach nur eine ekelhafte Kräutermischung, die keiner von uns mochte. Ich brühte ihr eine großzügige Portion auf, stellte das Kännchen auf ein Tablett und stellte den Honig dazu. Zucker war out, das hatte ich mir gemerkt.

„Ist der aus biologisch dynamischem Anbau?“, fragte Julia misstrauisch, als ich ihr das Getränk brachte.

„Ja“, log ich.

„Okay.“ Fasziniert sah ich zu, wie sie die braune stinkende Brühe schlückchenweise trank. Vielleicht hatte ovodingsbums mit der Zeit ihre Geschmacksnerven abgetötet?

Bevor ich mir einen Kaffee machen konnte, zitierte Lotte mich brüllend ins Kinderzimmer.

„Mama!“, schrie Till, als ich Lotte wickelte.

„Mama!“, rief Agnieszka, als ich Lotti anzog.

„Tills Mama!“, schrien sieben Kinder aus dem Wohnzimmer, als ich mit Lotte zurückkam.

„Alle warten auf dich, du wolltest doch Spiele mit ihnen machen!“, sagte Agnieszka vorwurfsvoll.

„Das wollte ich vorhin, aber da habt ihr mir nicht zugehört, jetzt …“

„Topfschlagen!“, quietschte Till.

„Kannst du Lotte nehmen?“, fragte ich meine Schwiegermutter.

„Nein, issich alt genug, kann allein auf Sofa sitzen. Komm, Mama, komm, alle warten auf dich!“ Agnieszka nahm mir die Kleine aus dem Arm und schob mich in die Mitte des Zimmers. Die Kinder sahen mich lauernd an.

„Wer will anfangen?“, fragte ich dummerweise.

„Ich, ich, ich!“, schrien sie im Chor. Julia saß stoisch auf dem Boden und schaute zu, wie mir der Schweiß ausbrach, als ich die Kinder dirigierte, Augen verband, den Topf versteckte und versuchte, auf niemanden zu treten. Lotti saß auf dem Sofa und brüllte nach mir. Agnieszka saß neben ihr, plauderte mit Julia, trank Kaffee und ignorierte sie vollkommen. Sobald ich mich dem Sofa näherte, wurde ihre Stimme lauter und sie verwies mich auf Till und seine Gäste.

„Die Kinder wollen Spaß, Mama! Nicht nur Baby, Baby, Baby!“ Ich hasste es, wenn sie mich Mama nannte. Als müsste sie mich an meine Rolle erinnern, die ich so schlecht ausfüllte. Leon patschte mir mit dem Kochlöffel auf die Beine und hinterließ eine braune Spur auf meiner Hose. Offenbar hatte er ihn zuvor in etwas Klebriges getaucht … das waren wohl die bösen Schaumküsse gewesen.

„Früher haben sich die jungen Frauen auch mal hübsch gemacht für ein besonderes Ereignis“, sagte Agnieszka gerade zu Julia, „sind auch mal zum Friseur gegangen oder haben sich ein neues Kleid gekauft. Der sechste Geburtstag ist etwas ganz Besonderes in Polen.“

Julia, die in Schlabberpulli und Jeans yogaartig vor dem Tisch hockte, stimmte ihr nachdrücklich zu, während ich schweißüberströmt versuchte, Leon unauffällig den Kochlöffel zu entwenden. Wo blieb Stan denn nur, verdammt noch mal?

„Wo sind die Geschenktüten?“, fragte mich Leon, als die Zeit endlich um war.

„Tills Geschenke stehen da drüben auf dem Tisch“, sagte ich ahnungslos und streichelte Lotte, die ich endlich auf meinen Schoß geholt hatte.

„Nein, die Geschenktüten für die Kinder!“, korrigierte er mich.

„Es gibt keine“, sagte ich knapp. Schließlich hatte Till Geburtstag und nicht diese Bazillenschleuder hier.

„Bei allen anderen Geburtstagen kriegt man welche!“, sagte Leon vorwurfsvoll.

„So ist sie immer, so zerstreut“, sagte Agnieszka zuckersüß und tätschelte mir den Arm. „Vergisst das Wichtigste. Hier, deine Süßlichkeiten!“

Lächelnd übergab sie Leon und allen anderen eine durchsichtige Zuckertüte, in der sich saure Schlangen um Mäusespeck, Gummibärchen, Schokoriegel und Lutscher schlängelten. Wann hatte sie die bitteschön besorgt? Die Frau war mehr als gruselig.

Julia fragte nicht, wie viele Ratten man damit töten könnte, sondern bedankte sich bei Agnieszka für die gelungene Feier und nickte mir knapp zu, als sie endlich aus der Tür gingen.

„Gott sei Dank!“, sagte ich aus tiefstem Herzen und ließ mich auf den Boden fallen. Um mich herum lagen zerfetzte Geschenkpapierschnipsel, Luftschlangen und Kuchenkrümel. Aber es war still.

„Muss man sich schon ein bisschen Mühe geben, Sophia!“, sagte Agnieszka und holte den Staubsauger. Ich rappelte mich auf und räumte den Tisch ab. Als ich an eine Tasse stieß, fiel sie um und der Rest von Julias Kräutertee ergoss sich auf den Teppich. In diesem Moment betrat Stan die Wohnung und ich brach in Tränen aus.

„Wie sieht es denn hier aus? Und warum weinst du?“

„Weil ich eine Tasse umgestoßen habe.“

„Hat Mutter dir denn nicht geholfen?“

„Doch, hat sie!“, heulte ich weiter.

„Warum regst du dich dann so auf?“

„Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Sie hat mir verboten, Lotti auf den Arm zu nehmen.“

„So ein Unsinn! Was gibt’s zum Abendbrot?“

Diese Mahlzeit hatte ich vollkommen vergessen. Agnieszka verdrehte die Augen und zauberte ihrem Bübchen innerhalb von einer Viertelstunde ein Steak mit Kartoffeln und Bohnen. Pünktlich zum Nachtmahl erschien auch mein Schwiegervater, der sich zehn Stunden lang im Baumarkt „umgesehen“ hatte. Kurz vor seinem Eintreffen eilte meine Schwiegermutter ins Bad, zog sich die Lippen nach und besprühte sich mit noch mehr Parfüm. Dann empfing sie ihren Mann duftend und lächelnd an der Wohnungstür und fragte ihn nach seinem Befinden. Ich war mir nicht sicher, ob sie das jeden Tag so machte, oder ob es eine Lehrstunde im Fach „Gute Ehefrau“ für mich darstellen sollte.

Ich duschte die Kinder ab und fiel mit ihnen ins Ehebett. Till war tortensatt und schlief sofort ein, Lotti nuckelte an ihrer Milchflasche und kuschelte sich in meinen Arm. Es waren die ersten ruhigen Minuten des Tages, bis Stan hereinplatzte und wissen wollte, wieso das Wohnzimmer ein Chaos war und die Kinder nicht in ihren Betten lagen.

„Ich hab jetzt keine Kraft mehr, das noch zu machen“, flüsterte ich. „Bitte sprich nicht so laut, sonst wachen sie wieder auf.“

„Das ist auch mein Bett! Ich bin mit dir verheiratet und nicht mit den Kindern!“

„Bitte lass sie heute hier. Ich schaff es nicht, heute Nacht noch mal rüberzugehen, wenn sie aufwachen.“

„Das kann Mutter machen!“

„Nein!“

„Du weißt auch nicht, was du willst! Deine Hormone gehen mit dir durch, man könnte meinen, du wärst schon wieder schwanger“, sagte er.

Richtig, das hatte ich vor lauter Kindergeburtstag schon wieder vergessen.