Leseprobe Unbändiges Herz der Highlands

Prolog

Burn Creag Castle

Im Jahr unseres Herrn 1509

Ein Blitz zuckte am tiefschwarzen Himmel und erleuchtete die gewölbten Wände des Turmzimmers. Schatten waberten und wogten umher wie die Geister längst verstorbener Menschen. Die Stille hielt einen Augenblick lang an, dann knisterte erneut ein Blitz und plötzlich schien ein kleiner Punkt roten Feuers in der Mitte von Rachels Handfläche auf.

„Dragonheart!“, rang Shona nach Luft, die das Amulett selbst im unbeständigen Licht erkannte. „Du hast es gestohlen, von–“

Donner krachte gegen den Turm wie die niederträchtige Faust eines Riesen, erschütterte die Steine um sie herum und schreckte die drei Mädchen auf, die im flackernden Kerzenlicht auf dem Boden kauerten. Der Lärm rollte langsam fort und ließ die Luft angespannt zurück.

„Du hast es von Liam gestohlen?“, endete Shona atemlos. Sie war die jüngste der drei, kaum neun Jahre alt und zitternd in ihrem wallenden Nachthemd.

„Aye.“ Rachel schürzte ihre Lippen. Ihr Gesicht sah eingerahmt von ihren dunklen Haaren blass aus. „Ich habe es genommen, während er schlief.“

„Das ist Zauberei“, flüsterte Shona, die wie gelähmt war von dem silbernen Drachen, der in der Handfläche ihrer Cousine zahm, aber unbeugsam aussah.

„Es kann keine Zauberei sein“, berichtigte Sara, die Shonas kleine Hand immer noch in ihrer eigenen hielt. „Es ist nur Stein und Metall.“

„Genau das ist der Grund, warum ich es bezweifelt habe“, sagte Rachel, und ihre Stimme war in dem hohen Lagerraum beinahe unhörbar. „Aber selbst Liam muss hin und wieder die Wahrheit sagen, schätze ich. Und er hat die Wahrheit gesagt, als er mir von unserer Urgroßmutter erzählt hat.“

Unserer Urgroßmutter?“, fragte Sara. „Aber woher weiß er von unseren Ahnen?“

„Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen“, gab Rachel zu und blickte vom einen Mädchen zum anderen. „Aber das ist die Geschichte, die er erzählt hat.

Vor langer Zeit lebte in einem Schloss ein Mädel. Ihr Name war Ula. Sie war so klein wie ich, hatte Shonas feuriges Haar und Saras Güte. Ihre Mutter starb, als sie ein Kind war, und sie hatte Angst davor, nachts allein zu sein. Manchmal weinte sie.“

„Und ihr Vater kam und erzählte ihr haarsträubende Geschichten, um sie zum Lachen zu bringen?“, schlug Shona vor.

„Aye“, lächelte Rachel. Shonas Vater, Roderic, hatte ihnen allen in den frühen Morgenstunden viele wilde Geschichten erzählt. „Aye, er erzählte ihr Geschichten. Aber sie hatte immer noch Angst. Also rief er den besten Steinmetz im Land, damit dieser neben ihrem Zimmer einen magischen Steindrachen anfertigte, der sie beschützte.“

„Er muss sie sehr geliebt haben“, flüsterte Sara, mehr zu sich selbst als zu den anderen.

„Sie schufen den Drachen oben auf dem Dach, sodass er über das umliegende Land blicken konnte“, sagte Rachel. „Jetzt fühlte sich das Mädel in seinem Zimmer sicher. Aber ihr Vater fürchtete, dass ihm etwas zustoßen würde und Glen Creag in die Hände des dunklen Zauberers fiele. Dann wäre die kleine Ula alleine. Er wusste, dass sie gezwungen sein würde, ihr Zuhause zu verlassen, wenn das der Fall sein sollte, und er wünschte sich für sie, dass sie mutig genug sei, um die Reise zu schaffen. Also ersuchte er einen guten Zauberer, ein silbernes Amulett für sie zu erschaffen. Es war ein magischer Anhänger, geschmückt mit Edelsteinen aus den verzauberten Wasser von Loch Ness.“

„Wo Nessie lebt?“

„Aye. Dieses Amulett würde Ula beschützen, wohin sie auch ging.“

„Und dies ist das Amulett?“

„Aye.“

„Aber Rachel“, sagte Sara, „auch wenn ich es nicht verstehe, glaubst du nie etwas, das Liam erzählt. Wieso vertraust du ihm hier?“

Rachel schloss ihre Finger um den Drachen. Er fühlte sich in ihrer Hand warm und schwer an, beinahe so, als habe er ein eigenes Leben. „Kommt her“, flüsterte sie und trat ans Fenster. Die drei drängten sich zusammen wie schelmische Feen und steckten die Köpfe zusammen. Kastanienbraunes Haar funkelte neben flachsblondem und schwarzem.

„Schaut hinaus.“

„Wohin?“

„Es ist dunkel“, sagte Shona, aber plötzlich durchfuhr ein Blitz den Himmel.

„Dort!“

„Ein Drache“, keuchte Sara, die sah, wie die Steinstatue erleuchtet wurde und sich scharf vor dem alten Dach abzeichnete. „Wie ist er da hingekommen?“

Rachel hob das Amulett näher an ihre Brust. „Er muss schon viele Jahre lang dort sein, aber man kann ihn von den meisten Stellen aus nicht sehen, nur von hier und von dem Zimmer, das daneben liegt.“

„Ulas Zimmer“, flüsterte Shona.

„Dann ist er wirklich magisch“, murmelte Sara.

„Aye“, sagte Rachel, „und heute Nacht werden wir seine Magie unserem Willen beugen.“

„Ja?“, fragte Shona mit Augen so rund wie Eier.

„Aye. Das werden wir. Denn morgen wird Sara in ihre Heimat zurückkehren. Und kurz danach wirst du die Rückreise nach Dun Ard antreten. Es ist unmöglich zu wissen, wann wir wieder zusammen sein werden.“

Es wurde still im Turmzimmer.

„Ich werde dich vermissen“, flüsterte Sara.

„Und ich dich“, sagte Rachel und streckte eine Hand aus, um die ihrer Cousine zu umschließen. „Ihr seid die Schwestern meines Herzens.“

„Wir werden dich sicher bald sehen“, sagte Shona. Sie fasste Saras Hand fester. Brüder hatte sie reichlich. Aber Schwestern waren eine seltene und kostbare Sache.

„Wenn das Wetter wärmer wird …“

„Eine von uns wird sicher bald verlobt sein. Tatsächlich hat MacHurt um meine Hand angehalten und–“ Rachel hielt unvermittelt inne und sah rasch in Richtung der Fässer, die an der runden Wand aufgestapelt waren. „Was war das für ein Geräusch?“

Die Mädchen hielten den Atem an und lauschten.

Hinter den Fässern tat Liam dasselbe und achtete sorgfältig darauf, keinen Laut von sich zu geben, während in seiner Seele Enttäuschung aufschrie. Verlobt! Sicher konnten die Mädchen nicht in solch zartem Alter versprochen werden – getauscht werden wie Schafe. Nicht seine kleinen Mädels. Selbstverständlich konnten sie Rachel nehmen. Es kümmerte ihn wenig, wenn sie jemand heiratete, der so alt war die Sünde und so hässlich wie ein Troll. Schließlich war Rachel eitel und unnahbar, und wenn sie lachte, tanzten ihre Augen wie …

Sie war nichts als ein albernes Mädchen, ermahnte er sich. Sie hatte seine lächerlichen Geschichten über Magie geglaubt. Sie hatte tatsächlich geglaubt, er habe geschlafen, als sie sein Amulett gestohlen hatte! Himmelherrgott, was war sie nur für eine schlechte Diebin! Dennoch, er hätte die beiden anderen schönen Mädels nicht hereinlegen sollen.

„Es muss eine Maus gewesen sein“, sagte Sara und wandte ihren Blick wieder zu Rachel. „Versprich mir, dass du nicht weit von uns wegziehst.“

„Ich werde nirgendwo hinziehen“, sagte Shona heftig. „Ich werde Liam heiraten und für immer in Dun Ard leben.“

„Liam!“, spottete Rachel. „Nicht diesen wilden Schurken. Du wirst einen großen Laird heiraten, so wie jede von uns.“

Die Andeutung eines Geräuschs kam hinter den Fässern hervor.

„Die Mäuse sind in der Tat unruhig“, murmelte Shona und blickte nervös hinter sich.

„Bitte verlass uns nicht“, flüsterte Sara erneut.

„Deswegen habe ich euch gebeten, in den Turm zu kommen“, sagte Rachel. „Wenn der Drache wahrhaftig magisch ist, kann er uns unsere sehnlichsten Wünsche gewähren und uns miteinander verbinden. Wir alle berühren das Amulett und schwören, uns um die anderen zu kümmern.“

„Aber wenn wir weit entfernt voneinander sind, woher sollen wir dann wissen, dass wir gebraucht werden?“, fragte Sara.

Rachel schaute finster drein und zog ihre dunklen Brauen über ihren Augen zusammen, die wie Amethysten leuchteten. „Der Drache wird es wissen“, improvisierte sie. „Er wird sicherstellen, dass wir in Sicherheit sind oder er wird Hilfe holen.“

Sara dachte für einen Moment nach, dann nickte sie. Ihr Ausdruck war ernst, aber sie zitterte vor Aufregung, während sie einen Kreis bildeten. „Wir sollten es alle gleichzeitig berühren.“

Und das taten sie. Sie schichteten ihre kleinen Hände über dem Amulett auf, und schlossen gleichzeitig ihre Augen.

„Mein sehnlichster Wunsch ist, eine große Heilerin zu werden, so wie meine Mutter“, setzte Rachel an.

Donner grollte wieder und ließ Shona zusammenzucken.

„Ich wünsche mir, mutig zu sein“, zirpte sie. „Wie Vater und die Flamme.“

Rachel drückte Saras Hand. Im Raum wurde es still.

„Du bist dran“, flüsterte Shona.

„Ich wünsche mir, für meine eigene Familie zu sorgen“, sagte Sara sanft. „Meine eigenen Kinder an meiner eigenen Feuerstelle. Nicht mehr.“

Stille legte sich über den Raum.

„Nun müssen wir einen feierlichen Schwur ablegen“, sagte Rachel. „Für immer und ewig sollen wir Freundinnen sein. Weder Zeit noch Entfernung soll uns trennen. Wenn eine in Not ist, soll eine andere kommen und ihr beistehen, denn die, die wir hier in diesem Zimmer versammelt sind, sind für die Ewigkeit verbunden.“

Die ganze Welt schien plötzlich ganz und gar still zu sein.

„Jetzt müssen wir darauf schwören“, flüsterte Sara.

„Ich schwöre“, sagten sie.

Donner krachte wie eine Kanone an ihre Ohren. Die Kerze war ausgegangen und warf sie in die Schwärze. Wilde Energie knisterte durch den Raum und schoss die Finger der Mädchen herauf.

Sie kreischten gleichzeitig, ließen das Amulett fallen und rannten wie eins in Richtung Tür. Das Portal knallte auf. Nackte Füße trippelten die Treppe hinab. Im Raum wurde es still. Hinter den Fässern lag Liam ausgestreckt an der Wand, schlaff wie ein aufgespießter Hase.

Mutter Gottes, was war hier gerade passiert? Natürlich, es musste der Sturm gewesen sein. Ein verirrter Blitzschlag, entfesselt im Turm. Das musste es gewesen sein, und diese einfältigen Mädchen hatten das Amulett in ihrer Angst sicher fallengelassen.

Er sollte gehen und es finden – die Binsen durchforsten und es herausholen –, aber seine Glieder fühlten sich schwach an und sein Geist seltsam durcheinander.

Er sollte diesen Ort am besten verlassen. Jetzt!, entschied er, stieß sich vom Boden ab und floh den Mädchen hinterher die Treppe hinab.

Die Welt wurde von Stille beherrscht. Die Mondsichel kroch hinter einem Wolkenfetzen hervor, um auf die Welt unter ihr herabzulächeln. Und tief in den Binsen wartete Dragonheart.

Kapitel 1

Im Jahr unseres Herrn 1516

„Ich werde heute Nacht abreisen“, sagte Boden.

Lord Haldane nickte von seinem Krankenbett herüber. Er sah abgespannt und dünn aus, ein Relikt des robusten Mannes, dem Boden so viele Jahre lang gedient hatte. Über dem Kaminsims hing ein Porträt von ihm in seinen jüngeren Tagen. Sein dichtes, goldenes Haar war unbedeckt. In einer starken Faust hielt er einen Schild, der sein Wappen trug – die schwarze Natter und der Olivenzweig. Einigen mochten es als eine merkwürdige Kombination erscheinen, nicht aber dem Herzog von Rosenhurst. „Ich kann meiner Caroline nicht erlauben, in Holly House zu bleiben, wenn sie sich nicht sicher fühlt. Sie fürchtet dort um das Leben des Kindes.“ Der Herzog starrte aus dem nachtschwarzen Fenster. „Jedenfalls sagt sie das“, murmelte er. „Banditen sind ins Haus eingebrochen, hieß es in ihrem Brief. Ich denke allerdings, es war eher ein Disput mit ihrem aktuellen Liebhaber. Ich bin nicht so blind, wie sie denkt. Aber sie war rein, als sie das erste Mal bei mir lag, dessen bin ich sicher. Und so schulde ich ihr eine ganze Menge. Noch eine Torheit eines alten Mannes – meine Jugend in den Armen einer jungen Maid zu suchen.“ Einen Moment lang war es still, abgesehen vom Wind außerhalb der braunen Sandsteinwände. „Wie kess und lieblich sie aussah, als sie hier verweilte – solche Unschuld. Aber vielleicht war sie selbst damals nicht so naiv. Sicher wusste sie um die Vorteile, den Nachkommen eines Herzogs zu erzeugen. Jetzt denke ich, dass das alles war, was sie wollte. Gott weiß, dass sie froh war, mich zu verlassen, sobald sie wusste, dass sie mein Kind in ihrem Bauch trug. Ein anmutiges Gesicht kann eine Menge Geheimnisse verbergen. Wenigstens das hätte ich vor langer Zeit lernen sollen.“

Es war wieder still, dann folgten seine leisen Worte. „Es heißt, die Schmeichelei von Jungfrauen sei süßer als Wein, und einigen Versuchungen werde ich nie entwachsen, egal, wie lange ich lebe. Sie wusste, was sie sagen, wie sie mich unter ihren Lidern hinweg ansehen musste.“ Er seufzte, tief in seinen Gedanken versunken. „Eine weitere Sünde, die ich den anderen hinzufügen muss, schätze ich. Aber diese Sünde hat mir immerhin einen Sohn beschert. War es also Sünde oder war es Weisheit?“ Seine Stimme war leise, als spräche er mit sich selbst. „Ich würde das Kind nach Knolltop bringen, damit es bei mir ist, aber es wäre zu grausam, ihn unter dasselbe Dach zu bringen, unter dem auch meine Frau lebt. Es ist ganz sicher nicht Elizabeths Schuld, dass sie kein lebendes Kind zur Welt bringen kann. Vielleicht wäre es keine Sünde, sondern eine Erlösung, sie aus dieser Ehe zu entlassen. Vielleicht könnte ein anderer Mann ihr ein Kind schenken, und ich wäre frei. Frei, meinem Herzen zu folgen.“

Seine Stimme war beinahe so leise wie die Stille, seine Gedanken schweiften ab.

„Ich breche dann auf, mein Lord, wenn es nichts Weiteres gibt“, sagte Boden.

„Da ist noch etwas“, sagte der Herzog. Er hielt inne und starrte aus dem Fenster. „Lady Sara. Was ist mit ihr? Ich kann sie sicher nicht hierherbringen und Elizabeth ihre Anwesenheit unter die Nase reiben. Hätte ich sie vor Jahren gekannt, hätte ich aus Liebe geheiratet, nicht für Geld. Dann hätte ich sicher nicht das Bedürfnis verspürt, in das Bett einer anderen zu streunen. Meine Erben wären rechtmäßig. Meine Linie gesichert. Mein Glück vollkommen.“

Lord Haldanes Finger rollten sich auf der tiefblauen Decke zusammen, die sein Bett bedeckte. „Aber ich habe sie erst vor zwei Jahren kennengelernt – am Abend ihrer Hochzeit mit Williams Sohn Stephen. Ich hatte bereits mit Elizabeth mein Gelübde abgelegt, aber ich wusste es sofort. Sara war mir bestimmt – sie war die schönste Blume in ganz Schottland, in ihr rotes Plaid gekleidet, mit Haar so leuchtend wie Gold“, murmelte er. „Stephen wusste nie, was er an ihr hatte. Er kümmerte sich mehr um die Jagd und um sein Ale. Es war gerecht, dass er bei der Jagd starb.“ Seine Finger rollten sich zu einer engen Faust zusammen. „Ich wünschte nur, ich wäre nicht dort gewesen. Aber ich konnte nicht fernbleiben. Wie ein trunkener Narr reiste ich nach Baileywood, nur um einen Blick auf sie zu erhaschen, um ein paar Minuten in ihrer Gegenwart zu verbringen.“

Draußen stürmte der Wind und trieb einen Zweig an der Steinwand entlang.

„Er war ihrer nie wert“, flüsterte Haldane. „Sie war die personifizierte Liebe. Wie Sonnenschein in meiner Hand.“ Seine Handfläche öffnete sich, als stelle er sich seine Finger an ihrer Haut vor. Für einen Moment schloss er seine Augen. „Jetzt, wo Stephen tot ist und sie eine anständige Zeit der Trauer hinter sich hat, könnte sie mein sein. Nicht nur leibhaftig, sondern auch im Namen. Gewiss verdient sie etwas Besseres als das, was sie hatte, und ich könnte ihr all das geben, was sie verlangt, wenn doch nur …“

Boden räusperte sich, wollte nichts mehr hören. Es war weder seine Angelegenheit, noch sein Wunsch, den innersten Gedanken seines Lords zu lauschen.

„Ich bitte um Vergebung“, sagte der Herzog, zog sich aus seiner Träumerei und erhob die Stimme. „Es gibt dieser Tage zu viel, das meine Gedanken beschäftigt, und zu wenig, das meine Hände beschäftigt.“ Er blickte finster drein und erinnerte sich an ihre Unterhaltung. „Es wird eine lange Reise für Euch sein, Boden. Aber immerhin wird diese Mission kein Blutvergießen bedeuten. Dennoch hasse ich es, Euch so bald nach dem Ärger mit den Walisern loszuschicken. Wie geht es Eurem Knie?“

„Es geht ihm gut, mein Lord.“

Der Herzog beobachtete ihn einen Moment lang, dann grinste er und sah wieder etwas mehr wie der mächtige Herzog aus, dem Boden so lange gedient hatte. „Hättet Ihr gegen den Briganten Eure Armbrust eingesetzt, könnten Eure Worte tatsächlich wahr sein.“

„Es war ein Bauer mit einer Sense“, erinnerte ihn Boden.

„Es ist eine hinlänglich bekannte Tatsache, dass, wenn Steuern zu bezahlen sind, ein knauseriger Waliser mehr Schaden mit einfachem Landwirtschaftswerkzeug anrichten kann als die meisten Männer mit einer Kanone und einem Rammbock. Ich dachte, Ihr habet das von Eurem ersten Zusammentreffen mit den Walisern gelernt.“

Boden neigte seinen Kopf als Zugeständnis zu den Worten seines Lords. „Ich fürchte, ich lerne langsam, Euer Gnaden.“

Haldane beobachtete ihn genau. „Aber hättet Ihr es eher gelernt, hättet Ihr Euren Kurs nicht geändert. Das ist einer der Gründe, warum ich Euch jetzt schicke, Boden. Ich kann darauf vertrauen, dass Ihr kein Blut vergießt, es sei denn ein Kampf ist unvermeidlich. Vielleicht ist Carolines Furcht berechtigt. Aber ich glaube es nicht. In jedem Fall seid Ihr niemand, der nach Ärger sucht.“

Schwerlich, dachte Boden trocken. „Nur aus einem guten Grund“, sagte er. „Ich stelle fest, dass ich selten das Blut eines anderen vergieße, ohne etwas von meinem eigenen einzubüßen.“

Haldane lächelte. „Ich kenne Euch zu lange, um Euch zu glauben, und ich brauche Euch zu sehr, als dass ich streiten würde“, sagte er. „Ich bitte Euch lediglich, diese Aufgabe für mich auszuführen.“

Boden nickte. „Ich werde Euer Kind und seine Mutter sicher nach Cinderhall bringen, mein Lord. Wenn das alles ist …?“

„Und Lady Sara“, sagte Haldane.

Boden wurde angespannt. Sollte er beide Mätressen des Herzogs an denselben Ort bringen? Das schien weder vernünftig, noch gesund zu sein. Er hatte Caroline bereits kennengelernt, und sie wirkte nicht wie die Art Frau, die Konkurrenz zu schätzen wusste. „Sara?“, fragte Boden und tat so, als habe er Haldanes Gemurmel von vor nur ein paar Minuten nicht gehört.

„Aye. Sie ist Carolines Gefährtin.“

Boden zwang sich, einen stoischen Ausdruck zu behalten. Lord Haldane hatte stets eine Auswahl an Mätressen gehabt, aber bisher war Boden nie gebeten worden, sich mit irgendeiner von ihnen abzugeben. Und er bevorzugte das, denn er war nicht gut darin, der Versuchung zu widerstehen.

„Sie und Caroline haben sich vor Stephens Tod in Baileywood kennengelernt“, erklärte der Herzog. „Sara reiste nach London, um während der Geburt meines Sohnes an der Seite ihrer Freundin zu sein. Sie ist seitdem nicht abgereist. Meine Sara ist sehr loyal.“

„Also wollt Ihr, dass ich sie mit der Mutter und dem Kind nach Cinderhall bringe?“

„Fürs Erste. Ihr müsst ihr jede erdenkliche Höflichkeit erweisen, Euch um jedes ihrer Bedürfnisse kümmern, bis ich es selbst tun kann.“ Er hielt inne. Der Wind stürmte. „Denn in Wahrheit, Boden, ist sie es, die ich vor allen anderen schätze.“

Boden blickte Richtung Tür und hoffte, dass die Frau des Herzogs außer Hörweite war. Ihre Ehe war selbstverständlich nicht mehr als eine Zweckehe, aber gewiss gab es keinen Grund für die Herzogin zu wissen, dass ihr Gatte nicht nur eine, sondern beide Frauen, die er nach London geschickt hatte, in sein Bett geführt hatte. Sicherlich hatte Lady Elizabeth durch die Totgeburten ihrer Kinder genug Schmerz erlitten.

„Versteht Ihr meine Worte, Sir?“

„Das tue ich, my Lord“, sagte Boden und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Herzog zu.

„Gut“, sagte Haldane und seine Stimme wurde schroff. „Es gibt niemanden, den ich an Eurer statt schicken würde.“

„Ich danke Euch für Euer Vertrauen in mich. Ich werde versuchen, Euch nicht zu enttäuschen, my Lord.“

Der Herzog lächelte. „Ihr seid wie ein Sohn für mich.“

Bodens Augenbrauen hoben sich. Dies war in der Tat ein Tag voller Überraschungen. Dem Herzog mangelte es nie an Frauen, die er mochte, aber gefühlvolle Worte für seine Ritter waren spärlich und selten.

Haldane lachte laut. „Ich bin weder so jung, noch so gesund, wie ich es einst war. Ich habe nicht die Absicht zu sterben, ohne bestimmte Dinge ausgesprochen zu haben.“

„So dürft Ihr nicht reden“, sagte Boden. Der Herzog von Rosenhurst hatte so viele Fehler wie jeder andere auch, aber in zwanzig Jahren war er Boden gegenüber nie ungerecht gewesen. Das war etwas, wofür Boden ewig dankbar sein würde. Sorge durchfuhr ihn, während er auf das Bett zutrat. „Es ist nicht Eure Zeit zu sterben, my Lord.“

Haldane lächelte wieder. „Seid ihr sicher oder voller Hoffnung?“, fragte er.

„Ich bin beides.“

„Wohl gesprochen.“ Haldane streckte eine Hand aus, um Bodens Hand zu ergreifen. „Mein Dank dafür, dass Ihr eingewilligt habt zu gehen.“

„Ihr habt vergessen mir zu sagen, dass ich eine Wahl hatte.“

Haldane kicherte und ließ seine Hand frei. „Bringt die Lady sicher zu mir, Sir Blackblade, und Ihr werdet gerecht belohnt werden.“

Boden nickte und fragte sich einen Moment lang, von wem Haldane sprach. Dann ging er. Der Flur, den Boden hinuntereilte, wurde nur von einem einzigen Wandleuchter erhellt.

„Sir Blackblade.“

Boden wandte sich rasch zu der Stimme um. „My Lady.“

Lady Elizabeth eilte auf ihn zu, ihr weißes Nachthemd wogte hinter ihr. Boden machte einen vorsichtigen Schritt rückwärts. Nie hatte Elizabeth ihre Anziehungskraft erkannt. Es schien, dass es auch jetzt nicht anders war, denn sie griff mit beiden Händen nach seiner Hand. Sie fühlten sich warm und sanft wie Rosenblüten an.

„Er schickt Euch fort“, sagte sie mit atemloser Stimme.

„Aye, my Lady.“

„Bitte geht nicht.“

Boden starrte vor offener Überraschung. Sie war viel jünger als ihr Gemahl und gleichermaßen wunderschön und majestätisch. Jetzt aber hatte sie ihr vornehmes Betragen abgelegt. Ihr dunkles Haar war ungebunden, was sie jung und unschuldig aussehen ließ. Ihr kostspieliges Kleid war fort, ersetzt von diesem alltäglichen Stück Leinen, als habe sie gerade ihr Bett verlassen.

„Ich hatte einen fürchterlichen Traum, und ich sorge mich um Euer Leben“, fuhr sie fort und lehnte sich näher.

„Mein Leben?“, fragte er. Sie duftete nach Lavendel und süßem Wein. Er war kein Mann, der an die Gesellschaft von Frauen gewöhnt war, aber etwas stach deutlich aus seinen Gedanken hervor – sie war die Ehefrau seines Lords, unabhängig von den Liebeleien des Herzogs.

„Aye, guter Herr“, sagte sie. „Mein Ehegatte erkennt zuweilen Euren Wert nicht, glaube ich. Ihr seid der Beste seiner Ritter. Und obwohl ich weiß …“ Sie hielt inne, ihre Augen sahen sehr traurig aus. „Ich weiß, dass er mir nicht immer treu ist. Aber er ist immer noch mein Mann, und ich will das Beste für ihn.“

„Was meint Ihr?“

„Ich fürchte um sein Leben“, sagte sie und ihre Stimme klang dringlich. „Er ist dieser Tage nicht stark. Und London ist so weit weg. Was, wenn Ihr nicht rechtzeitig zurückkehrt.“

„Lady, Ihr solltet nicht von solchen Dingen sprechen.“

„Aber ich muss“, sagte sie und drückte seine Hand flehentlich. „Ihr dürft ihn jetzt nicht verlassen. Wollt Ihr nicht wenigstens in meine Gemächer kommen und das mit mir besprechen?“

Ihre Gemächer! Er mochte nicht an die Gesellschaft von Frauen gewöhnt sein, aber immerhin kannte er die Grenzen seine Selbstbeherrschung, und das ging weit über sie hinaus.

„Ich … ich darf nicht“, sagte er, entzog seine Hand ihrem Griff und eilte davon.

Bodens rasche Reise nach London war lang und fruchtlos gewesen, denn als er Holly House erreichte, war ihm gesagt worden, dass die Frauen, nach denen er suchte, fort waren.

Fort! Es hatte Bodens sämtliche Beherrschung gebraucht, den kleinen Diener nicht zu schütteln, der seine Nase rümpfte, als ob Bodens Gestank nach gärendem Pferdeschweiß irgendwie sein Zartgefühl beleidigte. Wohin fort?

Die Ladies hätten sich nicht herabgelassen, diese Information mit ihm zu teilen, antwortete der Hausdiener. Und es wäre nicht seine Aufgabe, zu fragen, lediglich dafür zu sorgen, dass das Packen gut und effizient vonstattenginge.

Packen?

Ja, für eine lange und beschwerliche Reise, den Ansprüchen der Lady nach zu urteilen. Caroline hatte Angst bekommen, nachdem die Straßenräuber ins Haus eingebrochen waren, obwohl ihre persönlichen Wachen die Schurken besiegt und das Haus gesichert hatten.

Boden verlagerte sein Gewicht im Sattel, während er seine Gedanken hin und herbewegte. Es waren fünf Tage, seit er London verlassen hatte, und er hatte seitdem keine anständige Mahlzeit gesehen. Die Sonne bewegte sich unwiderruflich Richtung Horizont und erinnerte ihn daran, dass er heute wieder hungrig schlafen gehen würde. Er war niemand, der sich beschwerte, aber sein Hintern tat weh. Es sah aus, als könne es wieder regnen.

Sein Knie schmerzte noch immer von der Begegnung mit der Sense des Walisers. Er hatte Kopfschmerzen, war müde bis auf die Knochen und sein Kettenhemd begann zu rosten. Unter ihm hob das graugefleckte Schlachtross namens Mettle eine Hüfte und stieß ein gepeinigtes Seufzen aus. Ihre Reise war lang und beschwerlich gewesen, und sie waren bereit dafür, sie zu beenden. Aber bisher hatte Boden keine Spur der Mätresse oder ihres Gefolges gefunden, obwohl er jeder erdenklichen Spur gefolgt war.

Sie gingen nach Norden, soviel wusste er, und obwohl er gerne geglaubt hätte, dass sie aus eigenen Kräften zu Lord Haldane zurückkehrten, hatte Boden das gehabt, was man verdammtes Glück nannte. Und so war er hier, mitten im Nirgendwo, und versuchte sich auszumalen, was den Frauen, die er suchte, zugestoßen war.

Um ihn herum setzte sanft die Abenddämmerung ein. Er würde eine weitere Nacht auf feuchter Erde verbringen, und obwohl dieses Schicksal kein ungewöhnliches war, war es auch nicht sonderlich willkommen. Es gab wenig Gründe, heute Nacht in sein Bett zu eilen. Also würde er Carolines Spur folgen und hoffen, seine Suche vor dem Morgen zu verkürzen.

Mettle trat nach einer Berührung von Bodens Sporen vorwärts. Das Tageslicht machte sich davon und verblasste zu einem perlmuttartigen Schimmer. Stille erfüllte die Welt, gestört nur von Mettles festen Schritten auf der Lehmstraße. Sie kamen um eine Kurve, aber plötzlich hielt der Hengst unvermittelt an. Seine an der Spitze dunklen Ohren schnellten über der Rossstirn aus schwarzem Metall, die seinen Kopf panzerte, vorwärts.

Boden versetzte ihm einen Stoß. Das Pferd bewegte sich abgesehen von einem Zucken seiner angespannten Muskeln nicht.

„Dies ist nicht die Zeit für eine deiner Launen“, murmelte Boden. Er stach dem Hengst erneut in die Seiten. Mettle schüttelte irritiert seinen Kopf, aber bewegte sich schließlich langsam vorwärts, sein Gang vorsichtig und holprig, sein riesiger Körper gespannt.

Sie waren nicht mehr als fünfzig Yards gegangen, als Boden einen Fetzen scharlachroten Stoffs sah. Er hing unordentlich über einem Zweig. Aber einen Moment später erkannte er, dass der Stoff nicht rot sein sollte. Nein, es war Blut, der ihn hatte rot werden lassen.

In Bodens Hals stieg Galle auf. Liebe, geheiligte Maria, bitte kein Tod mehr, betete er. Aber seine Bitten blieben unbeantwortet, denn keine dreißig Fuß in den Wald hinein fand er die erste aufgedunsene Leiche.

Boden schloss für einen Moment die Augen und hoffte, dies wäre ein Alptraum. Aber das war es nicht, und er konnte nichts anderes tun, als sich zum Absteigen zu zwingen und der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Seine Beine fühlten sich hölzern an, als er sich dem Leichnam näherte. Erinnerungen von einem Dutzend Schlachten suchten ihn heim – blinde Augen, abgerissene Glieder, die Schreie der Verwundeten.

Doch dies war noch schlimmer, denn dies war eine Frau. Caroline. Die Mätresse seines Lords. Er erinnerte sich daran, wie Haldane von ihrer Frische, ihrer Unschuld gesprochen hatte. Der Gedanke verdrehte sein Innerstes zu einem schmerzhaften Knoten und trieb seinen Mageninhalt heraus.

Er würgte und würgte, dann stolperte er rückwärts, bereit wegzurennen, wie der Feigling, der er war. Aber der nächste Körper war nur ein paar Yards entfernt. Es war ein Mann. Sein Hemd und seine Stiefel fehlten, und seine Brust war auf groteske Weise geschwollen.

Die nächste Leiche war die einer anderen Frau. Sie lag gerade so außerhalb eines zusammengefallenen Zelts. Ein roter Plaid-Schal lag verdreht um sie herum. Ihr blondes Haar war vom Blut matt geworden und ihr halbes Gesicht fehlte. Bodens Magen ruckte fürchterlich, aber jetzt spie er nur Galle. Sie war bitter und unangenehm, begleitet von der wilden Grausamkeit, die ihn Dutzende alptraumhafter Schlachten überstehen ließ.

Eine Grausamkeit, die Gerechtigkeit fordern würde – und Leben nehmen.

Sara wimmerte im Schlaf. Lord Haldane würde sie töten. Sie wusste es, aber sie konnte sich nicht bewegen, konnte nicht fliehen. Und plötzlich veränderte sich sein Gesicht, wurde dunkler und verhärtete sich zu etwas, das sie nie zuvor gesehen hatte. Sein boshaftes Grinsen war ein weißer Schlitz im Vergleich zu seinen granitenen Zügen, und in seiner Hand hielt er das Heft eines Schwertes, das umrankt war vom Bild einer schwarzen Schlange. Die Klinge erhob sich. Schrecken machte sich in ihr breit. Sie konnte nicht sterben. Nicht jetzt. Sie schrie und erwachte mit einem Ruck. Sie hielt den Drachenanhänger gepackt, der um ihren Hals hing.

Unter ihr raschelte Farnkraut. An ihrer Seite hingen noch immer die Fütterungsflasche und die Tasche an ihrem Gürtel. Sie blickte auf und sah, dass die Sonne tief am Himmel hing. Carolines Kind machte sich in seiner behelfsmäßigen Schlinge vor Saras Brust durch ein Stoßen bemerkbar. Thomas, süßer Thomas. Sara streichelte seinen Kopf, versicherte sich selbst, dass er in Sicherheit war, als sie ihre Gedanken ordnete. Es war nur ein Traum – nur ein weiterer furchterregender Alptraum, der sie in letzter Zeit besuchte.

Wo war sie?

Sie blickte sich um, beruhigte ihren Atmen und erinnerte sich.

Es war Saras Idee gewesen, in die Highlands zurückzukehren. Dort würden sie sicher sein, hatte sie Caroline gesagt. Aber die Reise nach Norden war alles andere als sicher gewesen.

Sie hatte gut genug begonnen. Das Wetter war warm und sonnig gewesen. Zwei Tage lang waren sie gereist, ohne belästigt zu werden, hatten Lieder gesungen und Thomas zwischen den drei Frauen in der Kutsche hin und her gereicht. Obwohl Anne of Boneau sich, wenn sie ihn nicht stillte, selten um den Säugling kümmerte, schien sie dem Kind gegenüber anhänglich zu sein. Ihr hatte Saras roter Plaid-Schal gefallen, und in einem Moment verspielter Schwesternschaft hatten sie einen Tausch gemacht – das Plaid gegen die Ledertasche der Amme.

Caroline hatte gelacht, als Sara ihre wenigen Gegenstände in der Tasche verstaut hatte, eine Nadel, einige Phiolen mit Kräutern, die Fiona ihr gegeben hatte – ihre hexenartigen Gebräue, wie Caroline sie nannte.

Sara hatte das Lachen erwidert, die Tasche an ihrem Gürtel befestigt und gesagt, dass sie jetzt alles habe, um in allen möglichen Fällen für sie zu sorgen.

Ihre Kameradschaft hatte länger gehalten als das gute Wetter.

Der Regen hatte am Nachmittag begonnen und ihr Vorankommen verlangsamt. Am Abend stellten sie fest, dass sie die nächste Schänke nicht vor Einbruch der Dämmerung erreichen würden. Sie waren gezwungen gewesen, die Nacht in der Wildnis zu verbringen, und sie waren darauf vorbereitet.

Aber nichts hätte sie auf die Straßenräuber vorbereiten können. Nichts außer den Träumen, die Sara aufgeweckt hatten. Noch vor den ersten Anzeichen von Gefahr hatte sie Thomas in ihre Arme genommen. Verzweifelt, aber ohne zu wissen, warum, hatte sie versucht, die Frauen zu warnen. Aber Caroline war nicht in ihrem Zelt gewesen und Anne hatte sich mit einem verschlafenen Stöhnen umgedreht.

Sara war in die Dunkelheit gehastet.

Sie dachte, sie habe Caroline aus dem Wald heraus kichern gehört. Sie eilte auf das Geräusch zu. Hinter ihr rief eine Wache eine Warnung aus. Sie wurde mitten im Schrei unterbrochen.

Schrecken durchfuhr sie, verstärkt durch Kampfgeschrei. Sie konnte nichts anderes tun als zu laufen. Laufen und sich vor den Schreien verstecken, die durch die Nacht hallten.

Am Morgen war alles still. Sara schlich aus ihrem Loch. Loyalität und Unsicherheit brachten sie zurück zu ihrem Lager.

Sie fand Caroline auf der Seite liegend, nicht weit entfernt von der Leiche ihrer Lieblingswache. Getrocknetes Blut hatte ihr Mieder durchtränkt, aber sie atmete noch, und ihre Augen sahen seltsam friedlich aus.

„Du hast Thomas.“ Die Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. „Ich wusste es. Habe gebetet. Gewartet, um sicher zu gehen.“

Sara streckte eine Hand nach ihr aus, aber die andere Frau schüttelte ihren Kopf.

„Lass mich reden. Habe nicht mehr viele Worte.“ Sie hielt inne und rang nach Luft. „Haldane.“

Sara versuchte zu verstehen. „Was?“

„Haldanes Schlange.“ Sie nickte schwach in Richtung der Erde nicht weit von ihrer Hand entfernt. Dort lag ein großes Stück Metall, zu einer Natter geformt und von einem größeren Stück abgebrochen. „Schwert … gesandt …“

Sie krampfte, dann entspannte sie sich.

„Caroline!“, keuchte Sara.

„Beschütze ihn“, flüsterte sie durch steife Lippen hindurch. „Vor ihnen.“

„Vor wem?“

„Versprich es.“

„Ich verspreche es. Ich verspreche, das werde ich!“, schwor Sara, aber Caroline war bereits fort, leise hinübergeglitten in den Tod.

Die Tage seitdem waren grässlich gewesen, die Nächte entsetzlich. Aber irgendwie, wundersamerweise, hatten sie so lange überlebt.

Es war nur ein weiterer böser Traum, der Sara jetzt heimsuchte, und doch schien er so real zu sein.

Aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn ihre Träume waren in letzter Zeit auf unheimliche Weise vorahnend gewesen. Vielleicht warnten sie sie vor irgendeinem nahen Bösen. Oder vielleicht auch nicht.

Angst wand sich in ihrem Magen. Sara stieß sich hoch.

Ein Rascheln im Unterholz! Angst wurde zu Schrecken. Sie drehte sich weg, aber plötzlich sprang ein Räuber aus ihren Alpträumen. Sein Gesicht war dunkel, und in seiner Hand hielt er die schwarze Klinge aus ihren Träumen.

Sie schrie und riss ihren Dolch hervor.

Er griff nach ihr. Sie holte aus. Die Klinge rutschte über seinen Kettenpanzer und schnitt in seinen Arm. Sie hörte sein schmerzerfülltes Zischen und zog sich zurück, um erneut zuzuschlagen. Aber er war bereits hinter ihr, mit einem Arm über ihrer Kehle, während der andere ihr Handgelenk packte.

Sie konnte nicht atmen, konnte sich nicht bewegen. Sie musste Thomas beschützen. Aber der Griff um ihren Arm war scheußlich fest. Ihre Finger wurden taub und sie ließ den Dolch wie ein Blatt auf den Waldboden fallen.

„Wollt Ihr hier sterben?“, zischte der Schurke.

Sie schüttelte ruckartig den Kopf, kaum in der Lage zu atmen. Angst lähmte ihre Muskeln. Ihr Herz krachte gegen Thomas’ Schlinge.

„Bewegt Euch. Und keinen Laut.“ Er versetzte ihr einen Stoß. Ihre Beine knickten ein und sie fiel beinahe hin, aber seine Hand auf ihrem Arm hielt sie aufrecht. Sie eilten durch den Wald. Wie hatte er sie gefunden? Wo waren die anderen und wohin brachte er sie?

Sie stolperte für eine Ewigkeit neben ihm her. Ein Fluss tauchte vor ihnen auf. Er war schmal und floss schnell dahin. Dahinter war ein Wust aus Blattwerk, und dahinter erhob sich eine Klippe mehr als zwanzig Fuß über ihren Kopf.

Er schob sie ins Wasser. Es schwappte kalt und rasch über ihre Füße und durchnässte ihr Kleid. Einen Moment später waren sie am anderen Ufer. Er schob sie in die Ginsterbüsche auf der anderen Seite. Die Zweige schlossen sich hinter ihnen. Eine Wurzel fing ihren Fuß. Sie stolperte erneut und er ließ sie fallen.

„Wo sind die anderen?“, fragte er, sein Blick so hart wie Obsidian und vollkommen verrückt.

Es brauchte ewig, bis sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, und als es so weit war, zitterte sie: „Welche anderen?“

Er lächelte. Der Ausdruck war brüchig. „Wieso habt Ihr sie getötet?“

Sie schüttelte ihren Kopf und versuchte, aus dem Wahnsinn schlau zu werden.

„Wenn alles, was Ihr wolltet, das Kind war, hättet Ihr sie leben lassen können. Seid Ihr hinter Lösegeld her? Wer hat Euch geschickt? Wo sind Eure Komplizen?“

„Komplizen? Ich habe keine!“

„Es hat wenig Zweck zu lügen. Ich habe bereits einen von ihnen getötet. Ich habe Euren Schrei gehört. Das hat mir geholfen, Euch zu finden. Hatten sie vor, Euch um Euren Anteil zu bringen? Habt Ihr deswegen geschrien?“ Er lehnte sich zu ihr, seine Zähne vor Wut zusammengebissen.

Sie duckte sich weg. „Es war nichts als ein Traum, der mich heimgesucht hat!“

„Ihr könnt Euch sicher eine bessere Lüge einfallen lassen als das.“

Sie krabbelte auf die Füße und beruhigte währenddessen den Säugling. „Es ist keine Lüge. Ich schwöre, es ist wahr.“

Für einen Moment starrte er sie an, als ob ihr Hirn aus Pudding gemacht wäre. Dann drehte er sich um, um den Wald mit seinem Blick abzusuchen. „Ihr müsst mich für wahrhaftig töricht halten“, sagte er, dann sanfter, wie zu sich selbst: „Wo sind ihre Freunde und wie viele? Unsere Hinterteile sind in Sicherheit. Sie kommen direkt zu uns. Seid Ihr hungrig, Schwarze Natter?“, fragte er und hob sein Schwert.

Angst vermischte sich mit Hoffnung. Also war irgendwer da draußen, jemand, der sie retten konnte, dachte sie, aber wenn sie ihretwegen kommen würden, würde dieser Mann hier sie gewiss niedermetzeln.

Neben ihnen ertönte ein raschelndes Geräusch. Blitzschnell bedeckte seine rechte Hand ihren Mund. Seine Aufmerksamkeit schnellte zum nahegelegenen Unterholz. Über seinem Kettenhemd traten die Sehnen seines dunklen Halses deutlich und starr hervor.

Sara starrte ihn an, wegen der Angst, die sie einhüllte, unfähig sich zu bewegen. Wovor hatte er Angst? Wovor versteckte er sich?

Ein Rehkitz erhob sich von seinem Schlafplatz im Winkel und schoss davon.

Der Räuber atmete geräuschvoll aus und ließ seine Hand von ihr herunterfallen. Sein Blick war etwas weniger wild.

Sie stolperte ein Stück zurück. „Wenn Ihr uns gehen lasst …“ Sie hielt inne und suchte nach der romantisierten Tapferkeit der Highlander, der Tapferkeit, die nie die ihre gewesen war. „Werde ich Euch bezahlen.“

Er kniff die Augen zusammen. Eine Narbe zog sich durch seinen rechten Mundwinkel, was es beinahe so aussehen ließ, als würde er lächeln. „Mich bezahlen?“

„Aye.“ Sie hatte ihn und sein Schwert in ihren Träumen gesehen – das Schwert mit der Schlange, die sich um das Heft wickelte, die gleiche metallene Natter, die so nah bei Caroline gelegen hatte, als sie im Sterben lag. Wer immer sie getötet hatte, hatte dieselbe Art Waffe getragen.

„Und warum solltet Ihr mich bezahlen?“, fragte er.

„Ich habe nicht die Absicht zu sterben.“

Er lachte. Es klang tief und humorlos. Es drang bis in ihren Magen vor, in neuen Wellen der Angst. „Warum sollte ich ein so hübsches Ding wie Euch töten? Abgesehen davon, dass Ihr eine Mörderin seid, natürlich.“

Sie schüttelte ihren Kopf, aber wusste, dass ihre Leugnung wenig nützen würde. „Ich gebe Euch …“ Ihre Stimme zitterte und ihre Knie fühlten sich an, als könnten sie sie auf die Erde niederwerfen. Was konnte sie ihm geben? Die Wahrheit war, sie hatte nichts, nichts bis auf … Mit zitternder Hand schob sie ihren Umhang beiseite. Das Drachenamulett zwinkerte in einem fehlgeleiteten Strahl des Abendlichts. „Ich gebe Euch Dragonheart.“

Sein Blick war auf den silbernen Anhänger gerichtet, der knapp über dem anständigen Mieder ihres zerfetzten Kleides hing. Er griff danach. Sie zuckte zitternd zurück und er grinste – der Ausdruck ein weißer Schlitz im Vergleich zu seiner dunklen Haut.

„Es ist hübscher Tand“, sagte er.

„Tand!“ Sie versuchte zu lachen, aber es klang kratzend. „Es ist viel mehr als nur Tand. Es ist ein magischer Gegenstand.“

Er neigte ihr seinen Kopf zu und hielt immer noch sein dunkles Schwert. Allerdings zeigte seine Spitze nach unten. „Magisch?“

„Aye. Es wurde vor langer Zeit geschaffen, als die Erde noch jung war. Gefertigt von einem allmächtigen Zauberer.“

Einer seiner Mundwinkel hob sich und ließ die feine Narbe auf seinen Lippen tanzen. Er lachte sie aus, ließ sie weiterplappern, während er finstere Pläne schmiedete. Sie musste fliehen! Sie hatte keine Hoffnung, ihm davonzulaufen, aber sie hatte Carolines Messer in ihrem Mantel verborgen. Wenn sie es erreichen könnte, wäre sie dieses Mal nicht so töricht, auf seine geschützte Brust einzustechen, immerhin lag sein Hals offen.

„Fürwahr“, sagte sie und zwang sich zur Konzentration, dazu, ihren Blick auf seinen Augen zu halten und nicht auf dem Herzschlag, der unter seinem breiten Kiefer pochte. „Wenn der Anhänger Euch freiwillig gegeben wird, werdet Ihr … zwei Mal so viel Stärke und List haben wie sonst. Das wäre gewiss nützlich für einen – für einen Mann wie Euch.“

Der Bandit senkte seinen Blick zu seinem verwundeten Arm. In seinem Kiefer hüpfte wütend ein Muskel, und als er seinen Blick wieder hob, sahen seine Augen primitiv und nur halb vernünftig aus. „Es scheint ein kleiner Kratzer zu sein für jemanden mit zweifacher Stärke.“

„Nay.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ihr versteht nicht. Dragonheart gibt nicht jeder Person dieselben Gaben. Es verstärkt lediglich die, die man bereits besitzt.“

Die Worte waren lächerlich, eine offensichtliche Lüge, und doch kamen sie wie von selbst. Vielleicht würde er sie unterschätzen, wenn sie weiterplapperte, würde sich entspannen und ihr eine Möglichkeit geben zu entkommen.

Er kam einen Schritt auf sie zu. Lieber Gott, er war ein großer Mann. Sie hätte in einem Kräftemessen keine Aussichten gegen ihn. Ihn zu überraschen war ihre einzige Hoffnung.

„Und welche Gaben besitzt Ihr, Hübsche?“

Sie trat in einem verlangsamten Tempo zurück, stolperte über die Büsche hinter sich und fiel in eine sitzende Position in den Ginster. „Güte.“ Das einzelne Wort klang wie eine Bitte um Gnade.

„Güte!“, knurrte er und schwang sein Schwert wild zur Seite. Sie duckte sich weg, aber er machte keine Anstalten, auf sie zuzugehen. „Ich bin umgeben von Tod. Ist das ein Beispiel für Eure Güte?“, fauchte er und griff nach ihr.

Sie schrie vor Angst. Ihre Hand mit dem Messer darin schnellte heraus. Sie stach zu und die Klinge fraß sich ihm seitlich in den Hals. Er brüllte vor Schmerz und stolperte zurück.

Sara kroch weg, krallte sich in die Büsche, während sie rannte. Zweige griffen nach ihr. Matsch saugte an ihren Füßen. Wellen zogen an ihrem Kleid, aber sie war durchs Wasser hindurch und fort, rannte wie wild, ihre Lungen brannten.

Verstecken! Sie musste sich verstecken! Doch da konnte sie bereits ihren Verfolger hören, seine Flüche und seinen kratzenden Atem.

Lieber Gott beschütze sie! Sie durfte nicht zurückblicken. Er kam näher! Sie hörte ihn ächzen, als er sprang, spürte seine Finger ihren Rücken entlangkratzen und plötzlich war sie von ihren Füßen gerissen und krachte auf den Boden.

Thomas heulte. Sie versuchte, ihn an ihrer Brust zu beruhigen, versuchte wegzukriechen. Aber der Schurke war über ihr und drückte sie nieder.

„Ein schönes Beispiel für die Güte einer Frau!“, krächzte er.

Sara bockte ihm entgegen, versuchte sich zu befreien, kämpfte um ihr Überleben.

„Hört auf!“, befahl er und presste sie auf die Erde. „Hört auf oder ich zahle Euch Eure eigene Art der Güte heim.“

Sara wurde still und fand seinen Blick. Seine Augen waren dunkel und zornig. Blut tropfte von seinem Hals auf ihr Kleid. Sie schluckte die Galle in ihrer Kehle und schloss die Augen. Die Furcht schmeckte bitter und streng. Der Tod wartete mit hungrigen Kiefern.

„Bitte“, flüsterte sie. Das Wort klang klein und armselig in ihren Ohren, aber es war ihr mehr als gleich. „Verschont uns, habt Gnade.“

„Ihr wagt es, um Gnade zu flehen! Nach dem, was Ihr getan habt?“, knurrte er. Sie schloss ihre Augen in der Gewissheit, dass der Tod nah war. Aber plötzlich stand er auf und zog sie auf die Füße.

Sie keuchte und riss die Augen auf.

„Ich habe keine Gnade“, sagte er. „Nicht mehr als Ihr. Sagt mir, welches Lösegeld dachtet Ihr, würdet Ihr für das Kind bekommen?“

„Lösegeld!“

Er schüttelte sie. „Denkt nicht, ich wäre so gütig, Euch nicht hier und jetzt zu töten. Warum habt Ihr den Säugling genommen?“

„Das habe ich nicht. Was meint Ihr? Wer seid Ihr?“

Er kniff seine Augen zusammen und sah sie an. Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. „Ich bin Sir Boden Blackblade, gekommen, um das zurückzubringen, was Lord Haldane gehört.“

Haldane! Sie schüttelte den Kopf, versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, sich einen Reim aus diesem Alptraum zu machen. Hatte Lord Haldane diesen riesigen Krieger geschickt, um sie töten? Aber warum? Es ergab keinen Sinn.

„Bitte lasst mich gehen“, bettelte sie.

„Gehen?“ Er lachte. Es klang wahnsinnig. „Sagt mir, habt Ihr je eine Frau gesehen, nachdem wilde Tiere sich an ihrer Leiche vergangen haben? Wenn ihr das halbe Gesicht fehlt?“

Sara presste die Augen zu und duckte sich weg.

Blackblade festigte seinen Griff und zog sie wieder zu sich zurück. „Das ist kein Anblick für Eure schönen Augen. Es war wenig von ihnen übrig, als ich sie fand. Dennoch waren die Anzeichen klar. Die Kutsche hatte angehalten, ehe die Straßenräuber angriffen. Wieso? Hat sie Euretwegen angehalten? Standet Ihr auf der Straße und habt eine Verletzung vorgetäuscht? So schön wie Ihr seid hattet Ihr womöglich wenig Schwierigkeiten, die Wachen abzulenken.“

Er ließ ihren Arm frei und fuhr mit einem Finger ihren Kiefer entlang. „Aber Ihr wäret nicht so wohlgestalt, wenn man Euch zum Verbluten im Wald zurückgelassen hätte.“

Sie lehnte sich von ihm weg, Angst verknotete ihren Magen. „Ihr seid wahnsinnig.“

„Vielleicht …“ Er hielt inne und sah ihr in die Augen, während er eine schmale Klinge aus einer Scheide an seiner Seite zog. „Und vielleicht werde ich Euren Tod nicht hinauszögern, wenn Ihr mir die Namen derer nennt, die an diesem Verbrechen beteiligt sind. Zum Foltern von Frauen habe ich nicht den Magen.“

„Bitte!“ Ihre Hände zitterten. Sie konnte nicht denken, konnte kaum stehen. Beschuldigte er sie der Morde an ihren Freunden? „Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Ich schwöre es.“

Er beobachtete sie, dann blickte er wieder auf die Lichtung, seine Stirn vor Gedanken angespannt. Ein Funke Vernunft leuchtete jetzt in seinen Augen auf. „Behauptet Ihr, Ihr hattet keinen Anteil an den Morden? Dass Ihr nichts von dem Plan wusstet?“

„Ich habe niemandem ein Leid zugefügt.“

„Also wurdet Ihr lediglich angeheuert, den Säugling zu stillen?“

„Angeheuert?“ Sie schüttelte wild den Kopf und suchte verzweifelt nach einem Weg, sich und das Kind zu retten. Gewiss wäre es das Beste, sich von diesem ganzen Alptraum zu distanzieren. „Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Ich wurde nicht angeheuert. Das Kind ist meines.“

„Ihr lügt!“

„Nay!“, flüsterte sie und wich zurück.

Der Wald lag still da. „Ihr seid mit den Männern verbündet, die die Mutter des Kindes getötet haben“, beschuldigte er.

„Nay, bin ich nicht“, krächzte sie. Mein Name ist Bernadette, seit Kurzem Shrewsbury.“ Ihre Gedanken rasten. „Ich war lediglich auf dem Weg nach Edinburgh, zum Haus meines Vaters.“

„Ihr lügt“, sagte er wieder, aber seine Stimme klang jetzt sanfter. „Keine Frau wäre in der Wildnis Englands allein unterwegs.“

„Ich war nicht allein. Mein Gatte …“ Ein Schluchzen kam von irgendwoher, erbeten oder nicht, sie war nicht sicher. „Mein William ist vor ein paar Monaten gestorben. Getötet von einem Wildschwein. Ich habe keine Familie hier, also war ich entschlossen, in meine Heimat zurückzukehren. Meine Maid war bei mir und ein kleines Gefolge von Wachen.“ Er sah aus, als würde er sprechen, aber sie eilte weiter, dieser phantasiereichen Geschichte ergeben, die womöglich ihr Leben und das des Kindes retten würde, das sie zu beschützen geschworen hatte. „Wir wurden von Räubern angegriffen. Vielleicht sogar dieselbe Bande, die diese Frauen getötet hat, von denen Ihr sprecht. Das ist die Wahrheit. Ich schwöre es.“ Sie schluchzte erneut. Thomas wand sich in der Sicherheit seiner Trage. „Ich schwöre es!“, wiederholte sie und fiel auf die Knie, um ihr Gesicht in ihre Hände sinken zu lassen und zu weinen.

Minuten verstrichen. Sie schluchzte weiter, sanft, versuchte nicht, den Fluss einzudämmen, aber dachte nach, plante.

Sie blickte zwischen ihren gespreizten Finger hindurch und sah, wie er sein Schwert in die Scheide steckte. Seine Beine waren bedeckt von schwarzen Kniehosen und seine Füße steckten in hohen Lederstiefeln. In der Nähe lag ein Stein von der Größe ihrer Faust. Wenn er ihrer Geschichte nicht glaubte, würde sie ihn in sein Knie rammen und um Stärke beten.

Er räusperte sich. Sie beobachtete, wie sich seine Füße leicht bewegten, als wären ihm ihre Tränen unangenehm.

Er räusperte sich erneut. „Wurden sie alle getötet?“ Seine Stimme klang immer noch schroff, aber es lag jetzt Unsicherheit darin.

„Ich denke nicht. Meine Maid Shona …“ Nicht Shona! Sie hätte nicht den Namen ihrer Cousine verwenden sollen, denn falls dieser Mann von Caroline und dem Kind wusste, wusste er vielleicht auch etwas von ihrer Familie. Aber es war zu spät, ihre Worte zu ändern. „Shonas Pferd lahmte. Wir mussten anhalten. Es war vor zwei Tagen, kurz vor der Abenddämmerung, als wir angegriffen wurden. Es waren so viele. Sie waren überall um uns herum. Ich kann nicht …“ Sie hickste. Hinter ihm war ein Hügel. Sie würde gegen seine größere Masse eine bessere Chance haben, wenn sie den Hügel hinaufrannte, besonders, wenn sein Knie gebrochen war. Aber das war ein letzter Ausweg. „Ich kann es den Wachen nicht verübeln, dass sie weggelaufen sind.“

Seine Fäuste spannten sich erneut an. „Eure Wachen habe Euch allein gelassen?“

Sie blickte auf und sah seine Narbe tanzen, während sein Mund zuckte. Aber der Wahnsinn hatte seine Augen verlassen.

„Sie versuchten zu kämpfen. Edward, der arme Edward fiel, und dann … Ich schäme mich so …“

„Was ist passiert?“ Seine Stimme war leer, sein Ausdruck undurchschaubar.

„Ich nahm John und versteckte mich im Wald. Ich sagte mir …“ Schluckauf. „Ich sagte mir, dass ich mein Kind retten musste, aber … Aber ich wusste, dass es reine Feigheit war. Und das im Angesicht solcher Tapferkeit.“

„Tapferkeit?“

„Shona! Sie ist stets so schlau … war es“, berichtigte sie sich sanft. „Sie hat sie von uns weggeführt.“

Er wartete still.

„Mein Ross war schneller. Sie hatte die beste Aussicht, die Banditen in die Irre zu führen, wenn sie Reul ritt.“

„Sie nahm Euer Pferd?“ Seine Stimme war tief, während er versuchte, ihre durcheinandergewürfelte Geschichte aufzunehmen.

„Aye. Und sie ist nicht zurückgekehrt. Ich habe solche Angst um sie. Sie könnte tot sein, oder Schlimmeres.“ Sie sah in sein Gesicht herauf und packte ihn am Ärmel. „Könntet Ihr … Könntet Ihr gehen und sie suchen?“

„Lady, ich–“

„Bitte. Mein Vater ist kein armer Mann.“ Sie starrte von ihren Knien zu ihm herauf. Es war ein weiter Weg. „Er wird bezahlen. Der kleine John hat sie geliebt. Sie ist so selbstlos und–“

„Aye.“ Er suchte die Lichtung erneut ab, dann pfiff er sanft – einen langen Ton und einen kurzen. „Sie hat Euer Ross mittlerweile wahrscheinlich ganz selbstlos verkauft und lebt gut vom Erlös, während Ihr und Euer Kind im Wald umkommen.“

Sie hob ihr Kinn ein Stück, während sie sich mit dem Handrücken die Tränen von einer Wange wischte. „Shona würde so etwas nicht tun.“

Er starrte sie an, während er seinen verwundeten Arm vor seine Brust legte. „Und Ihr besteht nur aus Güte und Fürsorge.“

„Ich muss gehen und sie finden.“ Sie hoffte mit all ihrer Kraft, dass er ihr glauben und sie gehen lassen würde, denn die Aussichten, ihm das Knie zu brechen, ehe er sie tötete, waren gering.

Aber nur einen Moment später hatte er ihren Arm gepackt und sie auf die Füße gezogen, was den Stein außer Reichweite brachte.

„Ihr werdet nichts dergleichen tun“, beharrte er.

Kapitel 2

Die Frau mit dem Namen Bernadette zog und versuchte, ihren Arm aus Bodens Griff zu befreien. Er vermutete, dass sie recht daran tat, ihn zu fürchten. Immerhin hatte er ihr Leben bedroht. Jetzt aber verblasste der Todeswahn. Die Wirklichkeit machte sich breit, trübende Erinnerungen an die Schrecken, die er im Wald gesehen hatte. Sie hatte nichts mit Carolines Tod zu tun. Zumindest sagte sie das. Und obwohl er ein Narr sein mochte, glaubte er ihr. Wenn sie Teil eines Plans war, das Kind von Lord Haldane zu entführen, wäre sie mittlerweile sicher bei ihren Komplizen und dabei, Lösegeld zu fordern.

Er hatte keinen klaren Gedanken fassen können, seit er die Leichen der Frauen gefunden hatte, so viel war sicher. Wäre er bei klarem Verstand gewesen, hätte er den Straßenräuber befragt, anstatt ihn gleich zu töten.

Bernadettes Schrei hatte nichts dazu beigetragen, seine Gedanken zu beruhigen. Hoffnung war in ihm aufgekeimt. Vielleicht hatte jemand den Angriff überlebt, dachte er. Aber die Frau hatte ihn nicht als Retter, sondern als Schurken betrachtet und angegriffen. Wieder hatte er keine Zeit gehabt um nachzudenken, nur um zu reagieren, Dinge anzunehmen und darauf basierend zu handeln. Und er war dazu ausgebildet worden, das Schlimmste anzunehmen. Und so war die Frau in seinen Gedanken zu einer Entführerin geworden. Die Theorie war recht logisch. Schließlich hatte er die Leiche des Kindes nicht gefunden, nur Kleiderfetzen und Blutflecke. Hinter ihm knisterte es. Überlebensinstinkte preschten hervor. In einem Moment hatte er sein Schwert in der Hand und stand dem Angriff gegenüber. Aber sein Pferd Mettle war die einzige Bedrohung, die aus dem Wald stürmte.

Boden atmete zitternd aus und brachte die Schwarze Natter wieder an seinen Platz an seiner Seite zurück. „Kein Grund zur Furcht“, sagte er. Er griff in die Tasche, die an seinem Gürtel hing, und holte ein Stück Brot für das Pferd hervor. Es gab wenig Hoffnung, dass es einen solch spektakulären Auftritt hinlegen würde, wenn es keinen Leckerbissen gab. Kein Wunder, dass es so verdammt fett war.

Boden wandte seine Aufmerksamkeit wieder Bernadette zu. Sie unterbrach ihren Rückzug unvermittelt, ihre Augen waren weit. „Euer Pferd ist hier“, sagte sie. „Ich mache mich auf den Weg.“

Boden grinste beinahe, als er Mettles herabhängende Zügel packte. „Ihr kommt mit mir, Lady.“

„Ich habe nichts Falsches getan.“

„Das sagtet Ihr. Aber Ihr seid eine Frau. Dessen bin ich ziemlich sicher. Es ist meine Pflicht, Euch zu beschützen.“

„Mich beschützen? Ist es das, was Ihr bisher getan habt?“

Er kicherte. „Sicher sorgt sich eine Kämpferin wie Ihr es seid nicht wegen ein paar leerer Drohungen“, sagte er. „Immerhin habt Ihr einige Treffer gelandet.“ Er sah auf das Blut auf seinem Arm, schnitt eine Grimasse und versuchte nicht daran zu denken, wie sein Hals aussehen musste.

Sie blinzelte, als ihr Blick seinem folgte. „Das sind … nur Fleischwunden“, versicherte sie ihm.

„Wahrlich“, sagte er. „Aber es ist mein Fleisch und ich ziehe es, wo immer möglich, unversehrt vor. Dennoch seid Ihr eine Frau und ich bin ein Ritter.“

„Ein– ein Ritter?“

Er drehte sich um, um festzustellen, dass ihr Ausdruck so überrascht aussah wie ihre Stimme geklungen hatte. „Aye. Und ich habe geschworen, die Schwachen und Sanften zu beschützen.“

Ihr Blick fiel auf seinen blutigen Arm. Dunkelheit hatte sich ausgebreitet, die letzten Reste der Dämmerung klammerten sich an den Westhimmel.

„Ihr seid ein Ritter?“, wiederholte sie.

Er missbilligte ihr Erstaunen. Gewiss war es nicht berechtigt. Sein ärmelloses Kettenhemd zeugte von feiner orientalischer Handwerkskunst. Sein Schwert war aus spanischem Stahl geschmiedet, sein Ross für einen König gezüchtet. Warum sollte sie, ohne die Umstände seiner Geburt zu kennen, von seinem Titel schockiert sein? „Aye“, sagte er, verärgert vom Gedanken. „Kommt. Ihr reitet vorne.“

„Ich … Ich fürchte, ich muss ablehnen.“ Sie machte einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf, aber seine Geduld war ihm gerade ausgegangen, und so schnappte er sie und zog sie zu sich.

„Kommt“, sagte er durch zusammengebissene Zähne und stieß sie und das Kind auf den Schimmel. „Ich schulde Euch Güte.“

Sie hockte sich mit beiden Beinen zu einer Seite hin, während er hinter ihr aufstieg. Ihr Körper fühlte sich an seinem taub an. Der Sattel war zu klein für sie beide, aber er wagte es nicht, noch länger auf den Beinen zu bleiben, denn die Erinnerung an verwesende Leichen lag ihm schwer im Magen. Die Tatsache, dass zwei davon Frauen gewesen waren, machte seine Wut nur umso größer. Zugegebenermaßen hatte es auch sein Urteilsvermögen weniger vernünftig werden lassen.

Nach dem ersten Schock hatte er gehofft, dass der Säugling irgendwie überlebt hatte. Selbst wenn das Kind entführt worden war, wäre es ein Segen gewesen. Aber das war nicht der Fall gewesen. Der Erbe des Herzogs musste umgekommen und seiner Mutter von einem wilden Tier entrissen worden sein.

Plötzlich weinte der Säugling und holte Boden mit einem Ruck aus seinen Gedanken. „Sorgt dafür, dass er still ist“, warnte er. Er hatte nur einen Banditen gesehen, aber keinen Grund zu glauben, dass nicht noch andere in der Nähe waren. Sein Wahlspruch war – halte deinen Kopf unten und umwerbe keine Schwierigkeiten. Es war der Wahlspruch eines Feiglings, das wusste er, aber bisher war das, soweit er sagen konnte, das einzige, was seinen Hals so lange zwischen seinem Kopf und seinen Schultern gehalten hatte.

„Psst, mein Kleines“, summte die Frau und wiegte das Kind behutsam in seiner seltsamen Schlinge. Ihr blonder Kopf war übersät mit Zweigen und Blättern, als sie sich über das Kind beugte.

Wer auch immer diese Frau war, sie hatte in den vergangenen Tagen eine Menge aushalten müssen, genug, um einen bewaffneten Ritter mit nichts als einem kleinen Dolch und den Mutterinstinkten einer Tigerin anzugreifen. „Still jetzt, mein Lieber.“

Aber das Schreien hörte nicht auf und nagte an Bodens feingeschliffenem Überlebenssinn. „Was stimmt nicht?“, fragte er grob.

„Er ist hungrig.“

Boden fand keine Worte, als der Gedanke ihn erreichte, was das bedeutete. Er war nicht die Art Mann, der sich in der Mitte von stillenden Frauen und ihren Säuglingen wohlfühlte. Aber er wusste, dass ein Kleinkind in diesem Alter nur von Muttermilch ernährt wurde. Die Vorstellung, diese Frau zwischen seinen Schenkeln zu wiegen, während sie ihre Brüste entblößte, ließ all sein Blut von seinem Herzen in intimere Regionen pumpen. Regionen, die besser vergessen waren, bis er diese Frau irgendwo abgesetzt hatte, wo es sicher war. Und doch konnte er dem Säugling schwerlich erlauben, weiterzuschreien.

Er zwang sich dazu, sich nicht im Sattel zu winden. „Dann füttert ihn.“

„Kann ich nicht.“

Also wer immer sie war, sie war bescheiden genug, von diesen Umständen beschämt zu sein.

Der Säugling schrie lauter. Boden sah über Bernadettes Schulter und konnte eine kleine Faust sehen, die zusammen mit den Schreien wild geschwungen wurde.

„Dies ist nicht der Ort für weibliche Befindlichkeiten“, sagte er. „Solch gottloser Lärm wird jeden Schuft von hier bis zum Ende der Christenheit anlocken. Füttert das Kind.“

„Kann ich nicht“, wiederholte sie, dann richtete sie sich noch mehr auf, aber die Bewegung ließ sie ihr Gleichgewicht verlieren. Sie keuchte, während sie zusammen mit dem Kind Richtung Boden glitt.

Boden ließ die Zügel fallen, packte sie am Arm und zog sie wieder hinauf.

Schmerz durchfuhr seinen angeschlagenen Körper.

„Setzt Euch ordentlich hin“, knurrte er, fasste um sie herum, packte einen Schenkel und zog ihn über den Sattelknopf. Sie machte sich gerade, mit ihrem Rücken genau an seinem härter werdenden Glied. Der Schmerz in seinem Arm war augenblicklich vergessen, während er mit den Zähnen knirschte und darum kämpfte, seine Sinne beisammenzuhalten.

Einen Moment lang hatte sie seinen Ärmel gepackt und sich vor Sorge zu ihm umgedreht. Ihre Wangen waren geflutet von einem Wildkirschenrot. Ihre Augen waren weit und lieblich, und rührten stechende, wehrhafte Gefühle in Boden an, von denen er gedacht hatte, dass sie lange tot wären. Ihr Hinterteil aber presste sich fest gegen seine Genitalien und rief Gefühle wach, die nichts mit Wehrhaftigkeit, aber alles mit der Sorte wütendem Verlangen zu tun hatten, das einen sorglosen Mann das Leben kosten konnte.

Der Lärm des Säuglings war kein bisschen weniger geworden.

„Füttert ihn“, wiederholte er, seine Stimme einigermaßen heiser.

„Ich sagte Euch bereits, das kann ich nicht.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein sanft gesurrtes Flüstern, das ihn sich näher lehnen ließ.

Er blickte finster auf sie herab. „Ich glaube, es wäre gütiger, die Bedürfnisse des Kindes zu bedenken anstatt Euer eigenes unangebrachtes Unbehagen. Ich schwöre, ich werde nicht hinsehen.“

Abgesehen vom Klopfen von Mettles mit Eisen beschlagenen Hufen lastete die Stille schwer auf ihnen.

„Ich habe keine Milch.“ Sie sagte die Worte in Eile und zu ihm gewandt.

Er blickte finster drein. „Es war also edler, jemand anderen zu bezahlen, als die Aufgabe selbst zu erledigen?“, fragte er.

Es war wieder still, dann: „Ich hatte keine Milch, die ich ihm geben konnte.“

Er sah ihren Hinterkopf böse an und dachte nach. „Also hat diese Shona, die Euer Pferd gestohlen hat, das Kind an Eurer Stelle gefüttert?“

„Sie hat Reul nicht gestohlen“, berichtigte Sara, wider bessere Einsicht verärgert. „Sie war Schottin, also treu bis in den Tod. Sie ist lediglich geritten, um Hilfe zu holen. Und aye, sie war Johns Amme.“ Sie hob das Kind zusammen mit der Schlinge an ihre Schulter und tätschelte es sanft. Die Schreie wurden zu Wimmern.

Boden schnitt eine Grimasse, während er seine Aufmerksamkeit dem Scheitel des Kinderkopfs zuwandte, der so nah an seinem eigenen war. Er war kahl, abgesehen von ein paar blonden Strähnen, die in seltsamen Winkeln zottelig abstanden. Sein Gesicht war runzeliges, wütendes Rot und knapp oberhalb seines Ohrs war ein hässlicher Fleck von der Größe und Farbe einer Pflaume. Guter Gott, er war ein hässliches Ding. Er schätzte, dass es weise sei, diese Einschätzung nicht mit der Mutter zu teilen. Sein Arm und sein Hals waren bereits durchbohrt, es war besser, sie nicht anzuregen, es mit seinem Herzen zu versuchen.

„Wie lange ist es her, dass Ihr etwas gegessen habt?“, fragte er stattdessen.

„Er hatte seit vorgestern nichts als Wasser“, sagte sie.

Aber das war es nicht, was er gefragt hatte. „Und Ihr?“, fragte er.

„Ich habe heute Morgen etwas Brunnenkresse gefunden.“

Nichts als Brunnenkresse seit zwei Tagen. Konnte sie lügen? Aber nein. Sie hatte sich leicht wie Lilienblüten angefühlt, als er sie auf Mettles Rücken gehoben hatte.

Boden griff hinter sich, öffnete seine Satteltasche und zog ein in Leinen gewickeltes Stück Brot heraus. Er schob es ihr hin. „Esst das. Das ist alles, was ich fürs Erste anbieten kann.“

Sie blickte zu ihm herauf. Ein verirrter Sonnenstrahl fand seinen Weg durch die Blätter neben dem Weg und er sah, dass ihre Augen überirdisch blau waren.

„Was habt Ihr mit uns vor?“, fragte sie.

Was plante oder was wünschte er mit ihr zu tun? Das waren sehr unterschiedliche Dinge. Aber er schätzte, sie würde seine Annäherungsversuche nicht schätzen, denn da lag immer noch Furcht in ihrem Blick.

„Wieso fürchtet Ihr Euch vor mir?“ Er sprach die Frage aus, obwohl er das nicht vorgehabt hatte.

Sie war einen Moment lang still, dann: „Wart Ihr es nicht, der mich der Entführung und Schlimmerem bezichtigt hat?“

„Nun …“ Er blickte finster drein und fühlte sich schuldig.

„Wart Ihr es nicht, der mich mit dem Tod bedroht hat, der mir hinterher gehetzt ist, als sei ich eine tollwütige Hündin?“

„Aye, aber …“ Er blinzelte, während er mit den Schultern zuckte. „Jetzt gewähre ich Euch einen Platz auf Mettle.“ Die Aussage klang selbst in seinen eigenen Ohren lahm.

Sie wandte sich um und blickte nach vorn. „Was habt Ihr mit uns vor?“

„Ich habe nicht vor zu morden oder zu vergewaltigen, falls das Eure Sorge sein sollte“, sagte er. „Esst das.“

„Es scheint, als stünde ich bereits in Eurer Schuld.“

„Gut, dass Ihr es bemerkt“, sagte er irritiert.

„Ich dachte lediglich, Ihr seid einer der Straßenräuber“, erklärte sie.

„Ihr könnt Euch sicher sein, dass ich in Zukunft meine Absichten kundtue, ehe ich eine Jungfrau in Nöten rette.“

Ihr Blick fiel auf seinen Arm. Sie schnitt eine Grimasse. „Es tut mir leid um Eure Wunden.“

„Nicht ansatzweise so sehr wie mir, wette ich.“

Ihr Ausdruck wurde nur noch reuevoller. „Ich kann Euer Brot nicht annehmen“, sagte sie. Ihr Profil war beinahe schmerzhaft perfekt, ihre Nase lediglich mit einigen blassen Sommersprossen bestäubt.

„Das Letzte, was ich brauche, ist, dass Ihr ohnmächtig werdet“, sagte er. „Es ist schlimm genug, Euch zu stützen, während Ihr wach seid.“

Sie richtete sich augenblicklich auf, entfernte ihr leichtes Gewicht aus seinen Armen und er lächelte ihren Hinterkopf an. Wer immer diese Frau war, sie war viel zu pflichtbewusst.

„Esst das Brot“, sagte er. „Ich werde bald jagen.“

„Nay.“ Ihre Stimme klang panisch. „Das Kind hält nicht viel länger aus. Wir dürfen nicht anhalten, ehe wir Milch finden.“

Boden blickte erneut finster auf den Scheitel des Kindes. Er hatte von Frauen gehört, die sich unendlich danach sehnten, ein solch hilflosen Säugling zu stillen. Wenn er sich diesen hier anschaute, schien das schwer zu glauben. Dennoch, es war seine Pflicht, zu beschützen. Er hatte einen Eid geleistet.

„Nehmt das“, verlangte er und hob ihr das Brot erneut entgegen. „Ihr werdet dem Kind wenig nützen, wenn Ihr tot seid.“

Schließlich nahm sie es, langsam, obwohl ihre Hand zitterte und so die Tiefe ihrer Not unterstrich. Sie aß einen Bissen, während er sie beobachtete. Mettle wandte sich um und legte seine Ohren an. Das Ross hatte eine Schwäche für Brot. Boden ignorierte sein theatralisches Getue.

„Trinkt der Säugling auch Wasser?“

„Aye.“

Boden wurde unvermittelt klar, dass sie den unteren Teil ihres grünen Leinenumhangs entzweigerissen hatte, um die Schlinge des Säuglings zu machen. Sie schob die Überreste des Kleidungsstücks nun beiseite und offenbarte ihm einen seltsamen, hohlen Flaschenkürbis, der an einem Stoffstreifen hing. An der Unterseite war eine kleine Wucherung etwa von der Größe seines kleinen Fingers.

„Er hat jeden Tag etwas Wasser von der Spitze des Flaschenkürbisses getrunken, aber er braucht dringend Milch“, sagte sie.

„Ammen sind mitten im Nirgendwo schwer zu finden“, warnte Boden.

„Aber ich muss.“ Sie hob ihren Blick erneut. Panik lag darin, und Flehen. „Ich darf nicht halten, ehe ich es schaffe.“

Er sollte jagen, Mettle ausruhen lassen, sich um seine Wunden kümmern, die – nebenbei bemerkt – höllisch schmerzten. Aber ihre Augen waren sehr blau und der Gedanke, sich ihr zu verweigern, kam ihm nicht in den Sinn.

„Die Straßen werden sicher beobachtet“, sagte er.

„Beobachtet?“

„Was wollten sie? Die Banditen, die Euch angegriffen haben?“

„Das weiß ich nicht. Das Übliche, schätze ich. Münzen, Juwelen.“

„Und die Schurken, die Carolines Gruppe angriffen, was ist mit ihnen? Was wollten sie?“

„Das kann ich nicht sagen.“

Boden blickte auf sie herab. Ihre Antwort war sehr schnell gekommen, beinahe, als ob sie etwas zu verbergen hatte. Seine Träumereien waren seine eigenen, denn er ritt nur selten mit einem Gefährten abgesehen von Mettle. Obwohl das Streitross war wie eine Wildkatze, die in der Klemme saß, war es kein besonders gewandter Gesprächspartner. Und in einem Gewitter mehr als ein verdammtes Ärgernis.

„Zu welcher Tageszeit sagtet Ihr, wurdet Ihr angegriffen?“, fragte Boden.

„Abends. Es war der Tag vor gestern.“

„Wie viele Straßenräuber waren es, was schätzt Ihr?“

„Zehn? Aber vielleicht hat Furcht ihre Zahl vervielfacht.“

„Haben sie aus den Wäldern heraus angegriffen, als Ihr vorüberkamt oder hattet Ihr aus irgendeinem Grund angehalten?“

„Wir hatten angehalten, wie ich Euch bereits sagte. Shonas Pferd lahmte.“

„Wie?“

„Das weiß ich nicht.“

„Wie viele Wachen hattet Ihr bei Euch?“

Sie hielt inne.

„Vier.“

„Wieso so wenige?“

„Sie arbeiten nicht umsonst.“

„Aber Ihr sagtet, Euer Vater sei wohlhabend. Sicher würde er Euch mit der Bezahlung helfen.“

„Aber ich–“

„Wie ist der Name Eures Vaters?“

„Gregor … MacDuff.“

„Ein Schotte?“

„Aye.“

„Aber Bernadette ist ein französischer Name.“

„Meine Mutter ist Französin.“

„Ich dachte, sie sei tot.“

Sie unterbrach sich. War da Panik in ihrem Blick? „Ich habe nicht gesagt, dass sie tot sei.“

Er beobachtete sie immer noch und versuchte, ihre Gedanken zu lesen. „Dann muss ich es falsch verstanden haben.“

„Ihr denkt, ich lüge“, folgerte sie.

„Nay“, sagte er. Sie waren auf eine Straße gekommen, ein graues Band von einem Pfad, das sich zwischen Bäumen hindurch in die aufkommende Nacht schlängelte. Er trieb Mettle zu einem hoch ausschreitenden Galopp an. „Warum sollte eine Lady lügen?“

 

***

 

Sara lachte. Sie war bei Liam und ihren Cousinen – der schlauen Rachel, der feurigen Shona. Sie waren unterwegs zu einem Volksfest, hüpften über das Heu in einem Wagen, flochten Wildblumenkränze und lachten über Liams Tricks.

Das Wetter war idyllisch, der Himmel indigoblau, gepunktet mit bauschigen Wolken, die nichts Ärgeres androhten, als die Fantasie zu kitzeln. Neben ihnen rollte die Landschaft in grünen Zwischentönen dahin. Ein Fluss wand sich entlang der Straße und dort, genau zu ihrer Rechten, war ein einzelner Felsbrocken, in der Form einer großen, weißen Muschel. Wenn sie am Felsen vorbei und den Hügel hinauf gehen würden, fänden sie dort die Hütte eines Kleinbauern, das wusste sie. Aber das würden sie nicht. Sie würden weiterfahren in Richtung Volksfest und zu den Feiernden dort. Vielleicht würde ihr Vater ihr Schmuck kaufen. Einen silbernen Spiegel vielleicht oder–

Ein Blitz zerschmetterte ihre Welt. Eine Stimme erschütterte die Erde. Unheimliche, dunkle Augen starrten sie aus einem verschrumpelten Gesicht an.

Sie erwachte mit einem Angstschrei.

„Ruhig.“

Die Stimme erschreckte sie und sie zuckte zusammen, drückte sich weg, um den Mann hinter sich anzustarren.

„Wer seid Ihr?“

„Es ist gleich, wie lange Ihr schlaft, ich werde immer noch derselbe Mann sein“, sagte Blackblade.

„Oh.“ Die Wirklichkeit machte sich breit, und obwohl sie wusste, dass ihre Umstände düster waren, so waren sie nicht so schlimm wie in ihrem Traum. Hatte sie wirklich die Nacht durchgeschlafen?, fragte sie sich, als sie die ersten Strahlen der Sonne über die Bäume vor ihr streichen sah. Sie zog Thomas zu sich, plötzlich ängstlich, dass er fort sein könnte. Aber er war da, schlief tief und fest in seinem behelfsmäßigen Kokon. Ihr Atem beruhigte sich. „Ich muss eingeschlafen sein.“

„Das ist eine Möglichkeit“, sagte er und beugte seinen Arm, als wolle er steife Glieder dehnen.

„Es tut mir leid. Ich wollte keine Last sein.“

Er betrachtete ihr Gesicht für einen Moment, was sie erröten ließ. Zeit und Stille dehnten sich zwischen ihnen aus. „Vielleicht hättet Ihr dann nicht auf mich einstechen sollen.“ Er hielt inne. „Zweimal.“

„Es tut mir wirklich leid.“ Sie tastete nach Dragonheart. Es fühlte sich warm an dort, wo es auf ihrer Haut lag. „Ich dachte, Ihr wärt ein Bandit.“

„Das sagtet Ihr. Und jetzt wisst Ihr es besser?“

Sie betrachtete ihn, während sie nach Worten suchte. Seine Augen waren dunkel, seine Brauen schwarz, seine Haut sonnengebräunt. Sein Kiefer war kräftig und stoppelig von einigen Tagen Bartwuchs. Das Gesicht eines Fremden, und doch war es seltsam vertraut. Das Gesicht aus ihren Träumen. „Ich weiß nicht, was ich denken soll, wenn …

Seht!“ Sie riss ihren Blick nach links, wo ein weißer, muschelförmiger Fels neben einem sanft geschwungenen Fluss lag. „Der Fels! Der Fels bei der Hütte des Kleinbauern.“

Er stoppte sein Ross mit einer kleinen Bewegung. „Ihr wart schon einmal hier?“

Botschaften trübten ihren Geist. Zeit verstrich. Die Wirklichkeit schwankte, dann festigte sie sich.

„Nein“, murmelte sie. „Nein, war ich nicht.“ Sie konnte seinen tiefen Blick auf ihrem Gesicht spüren. „Aber es schien … irgendwie so vertraut. Mein Traum. Wir waren in einem Wagen. Liam hatte Rachel Schleifen aus dem Haar gestohlen und sie zu Glockenblumen gemacht während Shona und ich Rätsel erzählten.“ Sie hielt unvermittelt inne, weil ihr auffiel, dass sein Blick sich kein bisschen von ihrem Gesicht entfernt hatte. „Ihr denkt, ich sei verrückt.“

„Diese Möglichkeit ist mir in den Sinn gekommen“, sagte er, und seine tiefe Stimme war in der Stille kaum hörbar, sein Körper war gegen ihren gepresst, sodass sie seine Wärme spüren konnte, die Stärke seiner Arme, die sie umschlossen.

„Habt Ihr die Angewohnheit, verrückte Frauen, die Ihr im Wald findet, bei Laune zu halten?“, fragte sie atemlos.

„Das hängt davon ab.“

„Wovon?“

„Ob sie irgendwo noch mehr Messer verborgen haben.“

Sie zitterte etwas, aber sie konnte nicht sagen, ob es aus Angst war, weil sie fröstelte oder wegen des kieseligen Klangs seiner Stimme in ihren Ohren. „Messer sind mir gerade ausgegangen“, flüsterte sie.

Einer seiner Mundwinkel hob sich etwas. „Was hattet Ihr im Sinn?“

„Über den kleinen Hügel und hinunter, könnte das nicht ein wahrscheinlicher Ort für einen Bauernhof sein?“

„Es ist weit weg von allem, ohne viel Verteidigung.“

Die Logik eines Kriegers, dachte sie. „Mein kleines Kind kann nicht viel weiter gehen. Es braucht Milch.“

Der Blick des Ritters war durchdringend. Einen Augenblick lang dachte sie, er würde darauf bestehen, weiterzureiten, aber schließlich hob er seine Hand und führte den Hengst von der Straße.