Leseprobe Ehemann gesucht

1. Schneppenreuter

„Frau Grabowski, bitte kommen Sie um zehn in mein Büro, ich muss etwas mit Ihnen besprechen“, schnarrte die tiefe Stimme von Frau Schneppenreuter durch den Telefonhörer in mein Ohr.

Mit einem langgezogenen „Äh“, begann ich meine Antwort recht unprofessionell und fragte dann ängstlich: „Worum geht es denn?“

„Das erfahren Sie um zehn in meinem Büro, sagte ich ja gerade“, servierte mich unsere Personalreferentin kühl ab und legte auf.

„Ach du Scheiße“, entfuhr es mir und ich ließ langsam den Hörer sinken. Es gab drei Standardszenarien, die für die Mitarbeiter unserer Firma ein persönliches Gespräch mit Schneppenreuter erforderten. Auf sie traf man gewöhnlicherweise, wenn man seinen Arbeitsvertrag unterschrieb, in den Ruhestand verabschiedet oder, mir wurde schlecht, wenn man gefeuert wurde, was allerdings sehr selten vorkam. Unterschrieben hatte ich meinen Vertrag bereits vor mehr als fünf Jahren und für die Rente war ich mit noch neunundzwanzig definitiv zu jung. Meine Knie waren plötzlich butterweich, ein fieser Knoten schnürte mir den Hals zu und ich sank tief in meinen Bürosessel. Wollte die Schneppenreuter mich wirklich rausschmeißen?

Meine Kollegin Anne sah von ihrem Schreibtisch, der meinem genau gegenüberstand, mit großen, neugierigen Augen zu mir herüber. „Was ist los? Wer war denn dran?“, wollte sie wissen und musste sich dabei recken, um über die Monitore zwischen uns blicken zu können.

Ich hielt mich an der Tischplatte fest und brachte nur unter größter Anstrengung meine knappe Antwort heraus. „Schneppenreuter.“

Annes Augen wurden größer. Sie drückte sich auf die Tischplatte und ließ ihren Hals noch ein kleines Stück länger werden. Voller Mitleid rief sie aus: „Ach du Kacke, Tony, was hast du bloß ausgefressen!“

Na großartig, sie hatte offenbar den gleichen Gedanken. Dann lag ich wohl richtig! Mir stand tatsächlich die Kündigung bevor und dabei war ich mir keiner Schuld bewusst. Kraftlos, kaum merklich, hob ich meine Schultern, denn Anne wartete immer noch mit ihren weitaufgerissenen Augen auf Antwort. Was sollte ich sagen? Ich hatte ja wirklich keine Ahnung.

Entschlossen stand Anne nun auf. Sie ging mit wenigen, energischen Schritten an mir vorbei zum Eingang unseres Büros. Rasch schloss sie die Tür, kontrollierte noch einmal, ob sie auch wirklich zu war, und lief zurück zu ihrem Schreibtischstuhl. Mit beiden Händen griff sie die Rückenlehne und fuhr den Stuhl rasant zu mir herüber. Unmittelbar vor mir stoppte Anne, setzte sich auf den Stuhl und war mir plötzlich so nahe, dass sich unsere Knie berührten. Mit ungewöhnlichem Druck legten sich ihre Hände um meine Schultern, als sie eindringlich auf mich einsprach. Es hätte mich keineswegs verwundert, wenn meine besorgte Kollegin mich im nächsten Augenblick auch noch geschüttelt hätte.

„Antonia Grabowski, denk nach! Ist in den letzten Tagen irgendetwas Ungewöhnliches passiert? Sind die Berichte korrekt durchgelaufen? Bist du mit jemandem hier aneinandergeraten? Sind dir Fehler bei der Stundenbuchung unterlaufen? Hast du schon einmal eine Abmahnung gekriegt?“

All ihre Fragen prasselten auf mich ein und ich war nicht im Stande, auch nur eine einzige davon zu beantworten. Stattdessen löste ich mich aus Annes Griff, drehte mich zu meinem Schreibtisch und stierte mit zusammengekniffenen Augen auf einen Kugelschreiber der MFG. Ich brachte keine Silbe heraus, war wie vor den Kopf geschlagen und schüttelte ihn unablässig. Es war schon irgendwie rührend, wie in Anne sofort ihre Mutterinstinkte ansprangen und sie sich um mich kümmerte. Doch mit ihren vielen Fragen verwirrte sie mich viel mehr, als dass sie mich unterstützte. So nett Anne immer war, mir war klar, dass sie überhaupt nichts für mich tun konnte, wenn ich wirklich an die Luft gesetzt wurde.

„Nein, also ich kann mich zumindest nicht erinnern“, erwiderte ich nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch fassungslos und holte tief Luft.

„Wie, du kannst dich nicht erinnern, ob du schon mal eine Abmahnung kassiert hast?“

Ich verzog das Gesicht zu einer genervten Grimasse, denn Anne wusste genau, wie ich es gemeint hatte. „Ich habe bestimmt nichts angestellt, aber vielleicht muss die Firma Kosten sparen“, sagte ich mit kraftloser Stimme und Anne musterte mich mit einem Blick aus Mitleid und Erleichterung. Offensichtlich war sie froh, dass sie nicht in meiner Haut steckte.

Ging es denn der Millenberger Frischgebäck schlecht? Die Umsätze waren immer konstant, in den letzten beiden Monaten waren sie sogar etwas angestiegen. Anne und ich kannten die Zahlen, wir waren ja für die Abrechnung im Vertrieb zuständig.

„Kosten sparen kann man bestimmt auch, ohne dich gleich zu entlassen“, wandte Anne ein und hatte damit nicht Unrecht. Aber wenn es sich tatsächlich um eine Sparmaßnahme bei MFG handelte, war ja klar, dass die Wahl im direkten Vergleich mit ihr auf mich fallen musste. So schrecklich es sich auch anfühlte, träfe es mich wirtschaftlich gesehen weniger hart als Anne. Ich mit fast dreißig, unverheiratet und kinderlos hatte kaum Chancen gegen eine verheiratete Frau mit zwei Kindern, die nebenbei schon fast zwanzig Jahre im Unternehmen tätig war. Dass ich mich in Erwartung einer sehr baldigen Eheschließung befand, brachte mir hier sicherlich keine Pluspunkte ein. Ich seufzte und dachte sehnsüchtig an Jaro, meinen Fastverlobten.

„Mach dich nicht verrückt“, versuchte Anne mich zu trösten. „Sollen wir uns für ein paar Minuten in die Sonne setzen und einen Kaffee trinken?“, fragte sie, doch ich winkte ab.

„Lass gut sein. Ich bin schon nervös genug“, seufzte ich. „Am besten arbeiten wir einfach weiter, okay?“ Es war erst zwanzig nach acht und ich musste noch mehr als eineinhalb Stunden mit sinnvollen Tätigkeiten füllen. Ich kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen, konzentrierte mich auf eine ruhige Atmung und begann damit, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Das hätte ich sowieso schon längst einmal machen sollen. So hat jedes Elend auch seine gute Seite, dachte ich. Anne rollte mit dem Stuhl zurück an ihren Platz und begann erneut geräuschvoll Zahlen in den Computer zu tippen.

***

Viertel vor zehn machte ich mich auf den Weg zu Sabine Schneppenreuter. Die Personalreferentin der MFG Bielefeld hatte ihr Büro in der dritten Etage unter dem Dach des sehr alten Firmengebäudes. Dort oben gab es zwar noch einige kleine Abstellräume sowie einen Konferenzraum, der niemals genutzt wurde, weitere Büros gab es aber nicht. Sabine Schneppenreuter brütete jeden Tag allein dort oben über ihrer Arbeit. Und der Ausdruck „brüten“ passte derzeit wohl im wahrsten Sinne des Wortes. Der Juni begann in diesem Jahr mit sehr warmen und trockenen Tagen. In den unteren Etagen ließ es sich noch gut aushalten, doch unter dem Dach staute sich die Hitze.

Mit hängendem Kopf und heftig pochendem Herzen quälte ich mich jede einzelne der Treppenstufen hinauf. Immer wieder blieb ich stehen, hielt mich am Handlauf fest und atmete die mit jedem Schritt schwerer werdende warme Luft ein. Oben angekommen brauchte ich einen Augenblick, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Flur des Dachbodens hatte keine Fenster, aber die Tür zum Personalbüro stand offen und ließ etwas Tageslicht hinein. Zaghaft, fast lautlos schritt ich über den Teppichboden, atmete tief durch, bevor ich anklopfte, dann trat ich ein. Sofort erfasste ein kräftiger, warmer Luftzug den leichten Stoff meines Kleides, ließ ihn nach oben flattern, sodass ich reflexartig in eine Monroe-Pose fiel, und ihn mit den Händen gegen die Oberschenkel presste.

Sabine Schneppenreuter saß wie verbarrikadiert hinter ihrem klobigen Schreibtisch zwischen einem mächtigen Urwald aus Grünpflanzen. Das schräge Dachfenster über ihrem Kopf war weit geöffnet und von draußen drang munteres Vogelgezwitscher herein. In den Ecken summten zwei Ventilatoren vor sich hin. Wenn man nicht gerade zur Schlachtbank geführt wurde oder seine Kündigung erwartete, was für mich aktuell keinen großen Unterschied bedeutete, ließ es sich hier oben, entgegen meiner ursprünglichen Erwartung, wohl doch recht gut aushalten.

„Setzen Sie sich“, drang die schnarrende Stimme unter einem großen Palmwedel hervor.

Ich steuerte wortlos den freien Stuhl neben ihrem Schreibtisch an und nahm Platz. Meine Handinnenflächen wurden unangenehm feucht und es kostete mich enorme Anstrengung, eine aufrechte und gerade Körperhaltung einzunehmen. Ich faltete die Hände, legte sie auf meine zitternden Knie, die sich kaum beruhigen lassen wollten, und starrte die Vollstreckerin an.

Frau Schneppenreuter war schon mindestens fünfzig. Die grauen Haare trug sie in einer Hochsteckfrisur. Über den goldenen Rand ihrer Brille sah sie mich mit einem unergründlichen Blick an. „Hallo Frau Grabowski“, begann sie nun und ich spürte, wie das Blut leise in meinen Ohren rauschte. „Ich habe eine Entscheidung zu treffen und wollte …“, begann sie, doch ich war nicht mehr in der Lage ihren Worten zu folgen. Das Rauschen in meinen Ohren wurde immer lauter, die Anspannung immer unerträglicher. Ich konnte dieses Theater nicht länger aushalten. Mein Körper machte sich selbstständig. Sturzflutartig schossen mir die Tränen aus den Augen, ich hielt meine Hände flehend in Richtung unserer Personalreferentin und schluchzte laut: „Bitte, schmeißen Sie mich nicht raus. Bitte, bitte nicht. Ich arbeite wirklich sehr, sehr gerne hier und außerdem habe ich bald Geburtstag. Dann will ich mich verloben und ganz schnell heiraten. Wie soll ich das denn alles schaffen, wenn ich mich um einen neuen Job kümmern muss?“ Ich schlug die Hände vors Gesicht und wimmerte herzerweichend. Als ich es endlich wagte, Frau Schneppenreuter wieder anzusehen, schob sie mir wortlos und mit diesem Blick, den ich immer noch nicht deuten konnte, eine Kleenex-Box rüber. Hastig griff ich danach, zog dabei den Inhalt fast vollständig heraus, entschuldigte mich immer wieder und schluchzte weiterhin wie auf der Beerdigung meines Großvaters. Schneppenreuter sagte nichts. Geduldig wartete sie, bis ich mich ausgiebig geschnäuzt und die Tränen notdürftig getrocknet hatte, dann hielt sie mir ihren kleinen Papierkorb hin, damit ich meinen stattlichen Rotzfahnenmüllberg entsorgen konnte.

„Vielen Dank für Ihre offenen Worte“, sagte sie schließlich in sehr mildem Tonfall, worauf ich meine Unterlippe weit nach vorn schob und mit einem lautstarken Schniefen antwortete. Mit Gewalt unterdrückte ich einen erneuten Tränenausbruch. „Frau Grabowski“, setzte unsere Personalreferentin erneut an, „ich kann Sie beruhigen, Sie werden nicht rausgeschmissen. Ich habe nicht vor, irgendjemanden zu entlassen. Wirklich nicht.“

Durch meinen tränenverschleierten Blick glaubte ich sogar für einen Augenblick den Anflug eines Lächelns um ihre Lippen erkennen zu können. „Nicht?“, fragte ich verdattert und wagte kaum zu atmen.

„Seien Sie versichert. Wirklich nicht“, wiederholte sie und bewegte den Kopf langsam von links nach rechts und zurück, um ihre Worte zu unterstreichen. Ach du liebes bisschen! Dieses Gespräch verlief vollkommen anders, als ich es erwartet hatte. Aber, wenn ich nicht gefeuert wurde, warum saß ich dann hier? Ich strengte mich furchtbar an, aber es war mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Zu allem Überfluss heulte ich schon wieder, wenn auch nicht so inbrünstig und hemmungslos wie in den vorangegangenen Minuten.

Tränen der Erleichterung waren es nun, die meine Wangen hinunterkullerten. Ich bediente mich am verbliebenen Rest von Schneppenreuters Papiertüchern und stammelte mit fast erstickter Stimme: „Aber, also, ich meine, wieso haben Sie mich denn in Ihr Büro bestellt, wenn ich nicht gefeuert werde?“

Sie runzelte die Stirn, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schnarrte: „Ich bin bemüht, Ihnen mein Anliegen mitzuteilen.“

Sie hatte sich von meinem Gefühlsausbruch nicht aus der Ruhe bringen lassen und ich spürte, wie mir beim Gedanken daran die Schamesröte ins Gesicht stieg. Das Ganze war mir mit einem Mal so peinlich. Bewusst presste ich meine Lippen aufeinander, um nicht ein einziges weiteres Wort entwischen zu lassen und endlich zuzuhören, was Sabine Schneppenreuter mit mir besprechen wollte. Mit kerzengerader Haltung und aufmerksamem Blick wartete ich gespannt wie ein Flitzebogen.

„Es geht um Ihren Urlaubsantrag“, erklärte sie dann kurz und bündig.

„Meinen was?“ Ich verlor augenblicklich meine Körperspannung, mir klappte die Kinnlade herunter.

„Sehen Sie, Frau Grabowski“, sie zeigte mir das Urlaubsantragsformular, das ich schon vor längerer Zeit eingereicht hatte. „Sie haben Ihren kompletten Jahresurlaub am Stück beantragt. Siebenundzwanzig Tage, das macht mehr als fünf Wochen Abwesenheit in der Sommerferienzeit.“ Sabine Schneppenreuter machte eine Pause und sah mich mit vorwurfsvollem Blick an. Worauf will sie hinaus? Ich darf doch meinen Urlaub nehmen wann ich will. Ich schwieg vorsichtshalber und presste weiterhin kräftig meine Lippen zusammen.

„Zunächst wollte ich mich erkundigen, ob es sich hier vielleicht um ein Versehen handelt.“

Ich schüttelte vehement den Kopf.

„In Ordnung“, sagte sie und fuhr in sachlichem Ton fort. „Da es sich im beantragten Zeitraum, wie bereits erwähnt, um die Ferienzeit handelt, muss ich Anträge Ihrer Kollegen mit schul- und betreuungspflichtigen Kindern, die für denselben Zeitraum gestellt werden, mit Vorrang behandeln. Da Sie einen sehr langen Zeitraum beantragt haben, Frau Grabowski, kollidiert Ihre geplante Abwesenheitszeit gleich mit der von mehreren Mitarbeitern. Lange Rede, kurzer Sinn: Sehen Sie die Möglichkeit, Ihren Urlaub in die Zeit außerhalb der Ferien zu verlegen?“, fragte sie mich und verpasste mir damit einen kurzfristigen Atemstillstand. Ich fühlte mich wie damals als Kind, als mein großer Bruder Thomas mir seinen Fußball mit voller Wucht gegen den Bauch geschossen hatte. Ich war einen Augenblick wie gelähmt.

„Auf keinen Fall“, platzte es aus mir heraus, als ich endlich nach Luft schnappte, und die Schleusentore öffneten sich erneut. Zwischen heftigem Schluchzen und Schnäuzen versuchte ich ihr umständlich klarzumachen, dass dies definitiv keine Option war. Ungefragt erzählte ich von meinem bevorstehenden Geburtstag, der angekündigten Überraschung und dass Jaro mich gebeten hatte Urlaub zu nehmen, weil wir uns dann um etwas sehr Wichtiges kümmern müssten. „Frau Schneppenreuter, bitte glauben Sie mir, es kann sich nur um meine Verlobung und die Hochzeitsvorbereitungen handeln. Es ist schließlich mein dreißigster und der ist Stichtag, das habe ich immer gesagt. Wenn ich meinen Urlaub nicht nehmen kann, werde ich womöglich unverheiratet sterben.“ Schneppenreuters zweifelnder Blick ließ mich erneut zu einer Erklärung ansetzen. Mit fester Stimme und so ruhig wie möglich erklärte ich: „Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass sich mein Jaro mit mir an meinem Geburtstag verloben wird. Er macht zwar ein Geheimnis draus, aber ich weiß es trotzdem. Schon als ich ihn kennenlernte, haben wir darüber gesprochen. Er liebt mich und weiß, wie wichtig dieses Ereignis für mich ist. Die Dreißig ist einer der großen Meilensteine in meinem Leben.“ Ich hatte mich während meiner hingebungsvollen Erklärung in eine begeisterte Vorfreude gesteigert. Nun schwieg ich und blickte erwartungsvoll in ein nachdenkliches Gesicht. Glaubte sie mir etwa nicht?

„Frau Grabowski, nichts liegt mir ferner, als Ihnen Steine auf den Weg Ihres persönlichen Glücks zu legen. Ich habe vollstes Verständnis für Ihre Situation und, das dürfen Sie mir ruhig glauben, ich freue mich für Sie und drücke die Daumen, dass all Ihre Wünsche erfüllt werden. Dennoch habe ich in meiner Funktion als Personalreferentin eine gewisse Verantwortung und darf den Betriebsablauf nicht durch leichtfertige Entscheidungen gefährden. Die MFG ist sowohl im Juli als auch im August bereits mit sehr knapp kalkulierter Belegschaft aufgestellt. Ich weiß nicht, ob ich solch einen langen Zeitraum auf Sie verzichten kann.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und ich fürchtete, mir könnte sich jeden Augenblick der Magen umdrehen. „Folgender Vorschlag“, fuhr sie schließlich fort „ich brauche eine Telefonnummer, unter der ich Sie jederzeit erreichen kann, und Ihre verbindliche Zusage, dass Sie den Urlaub umgehend abbrechen, falls der Betriebsablauf der MFG dies erfordert.“ Schneppenreuters Stimme schnarrte immer noch, doch sie klang jetzt viel verständnisvoller und freundlicher.

Ich sah sie ungläubig an. „Wie jetzt? Bedeutet das, dass Sie meinen Urlaub genehmigen?“, fragte ich und wagte nicht, den in mir aufsteigenden Jubel gewähren zu lassen.

Sie drehte das Formular auf dem Tisch in meine Richtung und tippte mit dem Finger auf das Zusatzfeld für Kommentare, das ich bisher immer unbeachtet gelassen hatte. „Sobald hier Ihre Telefonnummer steht und Sie die Bedingung akzeptieren“, sie tippte auf einen handschriftlichen Zusatz, „werde ich den Antrag genehmigen und die Daten ins System einpflegen.“

Ich quietschte vor Freude, trug meine Handynummer ein und unterschrieb. „Herzlichen Dank, Frau Schneppenreuter“, flüsterte ich ermattet und blieb unschlüssig vor dem großen Schreibtisch sitzen. Ich fühlte mich wahnsinnig erschöpft, doch überglücklich. Großartig. Ich war nicht gefeuert und mein Urlaubsantrag zudem genehmigt worden. Ich fühlte mich, als hätte ich einen schweren sportlichen Wettkampf gewonnen.

„Machen Sie was draus“, schloss Schneppenreuter das Gespräch und wandte sich einem ihrer Aktenstapel zu. Das Gespräch war offensichtlich beendet und ich wandelte vollkommen beseelt, mit einem breiten Grinsen im Gesicht, durch die Flure der MFG zurück in mein Büro.

***

„Du liebe Güte! Tony, da bist du ja endlich“, empfing mich Anne ungeduldig, als ich eintrat. „Scheiße, hast du geheult?“, wollte sie wissen. Ich nickte und fand mich augenblicklich in Annes Armen wieder. Sie drückte meinen Kopf fest gegen ihre Schulter und wiegte mich wie ein Kind, das gefallen war und sich das Knie aufgeschlagen hatte. Dabei flüsterte sie immer wieder. „Keine Sorge, Tony. Du schaffst das schon. Alles wird gut. Du bist jung und klug. Wenn eine es schafft, dann doch wohl du! Immer daran denken, wir wachsen mit unseren Herausforderungen.“

Sanft, aber bestimmt löste ich mich aus ihrem tröstenden Schwitzkasten und erklärte: „Ich bin nicht gefeuert worden, es ging nur um meinen Urlaub. Aber das konnten wir klären. Jetzt ist alles in Ordnung und genehmigt.“

Anne sah mich ungläubig an. „Dein Urlaubsantrag? Und was gab es dann bitteschön zu heulen?“, wollte sie wissen und zog dabei die linke Augenbraue weit nach oben.

„Im Grunde nichts. Ich glaube, ich habe mich gerade bis auf die Knochen blamiert“ gab ich zu. „Komm, jetzt trinken wir beide endlich einen Kaffee zusammen“, entschied ich und hoffte für einen Augenblick meine fürsorgliche Kollegin auf diese Weise von weiteren Fragen abhalten zu können. Ich schämte mich sowieso schon in Grund und Boden. Der Gedanke, die ganze Geschichte jetzt noch einmal brühwarm wiederzugeben, behagte mir gar nicht.

Doch mein Ausweichmanöver misslang. Anne wollte selbstverständlich alles wissen. Also setzten wir uns mit unseren Tassen draußen auf eine Bank und ich erzählte ausführlich von meinem Gespräch. Anne fand die Geschichte äußerst amüsant. Glucksend vor Freude forderte sie mich auf jede Einzelheit zu beschreiben.

***

Bis zu meinem Geburtstag waren es noch vier Wochen. In dieser Zeit arbeitete ich wie eine Besessene bei MFG. Ich bereitete Formulare, Listen und Berichte bis in den August vor, sodass während meines Urlaubs nur noch die letzten notwendigen Details eingetragen werden mussten. Ich kopierte und heftete sämtliche Vordrucke, schrieb Pläne und Anleitungen. Ein richtiges kleines Handbuch für die Tätigkeiten in unserem Büro hatte ich erstellt, das Anne mit wohlwollendem und anerkennendem Kopfnicken durchblätterte. Auf keinen Fall wollte ich riskieren, dass meine Abwesenheit durch Unachtsamkeit gefährdet war.

„Alle Achtung, Tony“, sagte Anne, „das hätte ich dir gar nicht zugetraut, dass du so ein Organisationstalent bist.“

Ich fühlte mich geschmeichelt, winkte aber lässig ab. „Ach, weißt du, demnächst habe ich eine Hochzeit zu planen. Das da“, ich zeigte auf den Aktenordner in ihren Händen, „ist nur das Warm-up!“ Ich machte einen mächtig wichtigen Gesichtsausdruck und wandte mich wieder meiner Arbeit zu. Ich wollte keine Zeit verlieren, denn ich hatte mir fest vorgenommen, ab sofort auf die Minute genau Feierabend zu machen und die mir verbleibende Zeit effektiv zu nutzen. Keine Trödeleien mehr. Jaro hatte mir zwar zum Dreißigsten eine Überraschungsparty versprochen und darauf bestanden, dass ich mich aus sämtlicher Organisation heraushielt, das bedeutete aber nicht, dass ich mich nicht um mich selbst kümmern musste. Zu meiner Verlobung wollte ich mich anständig in Schale schmeißen. Ich brauchte ein umwerfendes Kleid, Schuhe selbstredend und vor allem etwas für darunter. Außerdem musste ich noch einen Termin beim Friseur machen und zur Kosmetikerin wollte ich auch noch. Ich schnaufte. Es gab wirklich keinen Grund für mich, über Langeweile zu klagen.

***

Vier Tage vor meinem großen Tag saß ich in gewohnter Weise im Büro über meinen Unterlagen, als mein Handy summte. Unwirsch legte ich den Stift beiseite und wühlte in meiner Handtasche, bis ich es gefunden hatte. Es war meine Mutter. „Hallo Mama“, begrüßte ich sie. „Was gibt’s?“, wollte ich ohne Umschweife wissen.

„Hallo Tony“, antwortete sie zurückhaltend und räusperte sich.

Ich stutzte. „Ist alles in Ordnung bei euch?“, fragte ich besorgt. Sollte etwa mein Geburtstagsbesuch in Gefahr sein?

„Naja“, antwortete sie und setzte dann drucksend hinzu. „Also wie man’s nimmt.“

Nervös trommelte ich mit meinen hübschen Fingernägeln auf dem Schreibtisch herum. „Mama, mach es nicht so spannend, raus damit. Was gibt’s? Braucht ihr noch irgendwas fürs Wochenende? Ich weiß, Jaro wollte sich allein um alles kümmern, aber ich leite deine Nachricht gern an ihn weiter.“ Vielleicht konnte ich auf diese Weise sogar noch ein paar Überraschungsdetails herausbekommen.

Aber nein, Fehlanzeige. Meine Mutter seufzte schwer und sagte dann „Bei uns grassiert gerade eine sehr schlimme Erkältungswelle. Wir alle sind stark angeschlagen und ich befürchte, dass wir es nicht einrichten können, dich zu deinem Geburtstag zu besuchen. Die Fahrt von Berlin bis zu euch, das ist doch eine ganz schöne Tortur. Auch möchten wir vermeiden, dass wir, selbst wenn es uns schon wieder bessergeht, einen von euch anstecken. Mein Kind du musst deinen Geburtstag wohl oder übel ohne uns feiern.“

„Wie bitte?!“, fragte ich erschrocken und stoppte die Bewegung meiner Finger. „Mama tu mir das nicht an. Das kann doch nicht wahr sein. Ihr alle seid gleichzeitig krank?“ Ich war schockiert. Was für ein Albtraum!

Meine Mutter schwieg und in mir stieg plötzlich so eine Ahnung auf, dass ihr Getue auch nur Show sein könnte. Was, wenn es nur ein billiger Trick war? Eine Finte, die mich glauben lassen sollte, dass meine Familie nicht zu meinem Geburtstag beziehungsweise meiner Verlobung erscheinen würde? Das wäre natürlich ein ganz übler Scherz. Eines musste ich meinem Zukünftigen ja lassen, er zog alle Register, um die Überraschung perfekt zu machen. Na gut, dann soll es so sein, dachte ich und entschied kurzerhand in dem Theater mitzuspielen. „Oh je“, tat ich bekümmert und wollte ganz besorgt wissen: „Was habt ihr denn genau?“

„Na eben das Übliche“, erwiderte meine Mutter schwammig und bestärkte mich in meiner Vermutung. „Alle haben Fieber, Kopfweh, Halsschmerzen und Schnupfen. Papa hat keine Stimme mehr und kann nicht einmal mit dir telefonieren.“

Aha, noch so ein kluger Schachzug. Papa auf diese Art und Weise aus dem Rennen zu nehmen, meine Hochachtung. Dann kann er sich wenigstens nicht verquatschen. Chapeau, Mama. „Ach, das ist aber wirklich jammerschade“, sagte ich und legte einen bedauernden Ton in meine Stimme. „Ich hatte mich schon so darauf gefreut, mit euch meinen Geburtstag zu feiern. Ich werde ja schließlich nur einmal dreißig. Aber wenn ihr krank seid, kann man nichts machen. Das Wichtigste ist dann erst einmal, dass ihr alle wieder auf die Beine kommt. Kuriert euch gut aus und dann kommt ihr später zu uns. Wir holen die Party ganz einfach nach. Grüß alle ganz lieb von mir, ja? Gute Besserung!“, flötete ich.

„Vielen Dank, Tony. Ich werde es allen ausrichten. Ich finde es im Übrigen ganz großartig, wie vernünftig du damit umgehst. Richtig erwachsen mittlerweile“, antwortete meine Mutter und legte auf.

Ha, der hatte ich es aber gegeben!

Alle gleichzeitig krank, dass ich nicht lache. Gut gespielt, Familie, ihr solltet nur nicht vergessen, dass ich die gleichen Gene habe!

Aber was meinte sie denn nur mit „Richtig erwachsen mittlerweile?“ Das war ich doch schon längst.

2. Babenhausen

„Guten Morgen, Geburtstagskind“, raunte Jaro, als er leise in unser Schlafzimmer trat. Er stellte das Tablett mit Croissant, Kaffee und einem Glas Sekt auf meinem Nachtschränkchen ab, beugte sich zu mir herunter und küsste mich auf die Wange. Verschlafen drehte ich mich zum ihm, schlang meine Arme um seinen Hals und sog den Duft seines Aftershaves ein. Dass er aufgestanden war, hatte ich gar nicht bemerkt, viel zu müde war ich, denn ich hatte verdammt lange gebraucht, bis ich am Abend zuvor endlich in den Schlaf gefunden hatte. Die Aufregung über die bevorstehenden Ereignisse war in jeder Faser meines Körpers zu spüren gewesen. Und auch jetzt, nur wenige Augenblicke nach dem Wachwerden, war sie wieder da, mit aller Kraft präsent, und mein Körper schüttete Glücks- und Stresshormone aus, als wären sie im Sonderangebot. Hastig setzte ich mich auf und meine Hand zitterte, als ich nach der Kaffeetasse griff.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Jaro mit leicht besorgter Miene und setzte sich auf die Bettkante.

„Ja, natürlich“, erwiderte ich. „Ich freue mich nur wahnsinnig und bin ganz aufgeregt. Es ist mein Dreißigster, ein ganz besonderer Geburtstag, das weißt du doch und ich bin so froh, dass wir beide zusammen sind. Mit niemand anderem möchte ich diesen Tag verbringen als mit dir.“ Ich nippte an meinem Getränk und sah Jaro aus großen, verliebten Augen an.

„Das ist schön zu wissen“, sagte er zärtlich „aber du musst noch ein wenig auf meine Gesellschaft verzichten. Denn, wie du weißt, muss ich noch etwas für deinen besonderen Tag vorbereiten. Du wirst sehen, das Warten lohnt sich und wir treffen uns um zwei bei meinen Eltern.“ Er stand auf und ging aus dem Zimmer.

„Jaro“, rief ich ihm nach und er steckte seinen Kopf noch einmal durch die Tür. „Ich liebe dich“, sagte ich leise und lächelte ihn an.

„Ich dich auch, Tony, und deshalb muss ich jetzt auch unbedingt los. Bis später“, antwortete er und ließ mich allein.

Hach, mit ihm hatte ich das ganz große Los gezogen. Ich trank meinen Kaffee, betrachtete dabei meine manikürten Nägel und widmete dann dem Ringfinger meiner linken Hand besonders viel Aufmerksamkeit. Ja, jetzt bist du noch nackt, aber warte ab und sei gespannt auf den Glanz, der dich ab heute Nachmittag schmücken wird. Mit nervöser Vorfreude strich ich über die Stelle, an der schon bald der Verlobungsring seinen Platz finden würde. Wofür sich Jaro wohl entschieden hatte? Rotgold selbstverständlich, aber der Stein? Weißer Saphir, Swarovski oder Diamant? Vielleicht sogar mehrere Edelsteine? Mir klopfte das Herz bis zum Hals, doch diesen einen Vormittag galt es noch mit Zurückhaltung über die Bühne zu bringen. Auch wenn es nicht leicht werden würde, stand außer Frage, dass ich dieser Herausforderung gewachsen war. Ich wollte Jaro in nichts nachstehen.

In aller Ruhe stand ich auf, um mich anzuziehen und dem Anlass entsprechend zu stylen. Denn schon ab heute Nachmittag, sobald Jaro mir seinen Antrag gemacht hatte und ich den Ring tragen würde, war es mit der Entspannung vorbei. Dann folgten Aufregung und Glückwünsche, Schlag auf Schlag ein Ereignis aufs andere. Das Leben nach der Verlobung würde zum Ausnahmezustand mutieren, denn die Hochzeitsvorbereitungen mussten innerhalb kürzester Zeit erledigt sein, wenn wir die Hochzeit noch während des Urlaubs veranstalten wollten. Den Termin beim Standesamt hatte Jaro mit Sicherheit schon vormerken lassen und dann war da ja auch noch die Hochzeitsreise. Unsere fünf Wochen würden wie im Flug vergehen.

Wie eine Elfe schwebte ich durch unsere Wohnung. Ich freute mich so sehr auf die kommenden Ereignisse, Angst hatte ich tatsächlich keine. Warum auch? Es war ja genau das, was ich mir immer gewünscht hatte und mein Jaro erfüllte mir diesen Lebenstraum heute. Ich würde mich verloben und mit dreißig heiraten. Von Morgen an würden wir zwei natürlich alles gemeinsam organisieren. Glücklicherweise konnten wir auf meinen Hochzeitsordner, der schon lange fix und fertig im Regal stand, zurückgreifen. Langwierige Diskussionen über viele Detailfragen rund um Karten, Texte und Menüs konnten wir uns sparen, denn sie waren bereits geklärt. In weiser Voraussicht hatte ich alles zusammengetragen und gespart hatten wir beide zielstrebig. Jaro wusste es zwar nicht, aber organisatorisch waren wir in einer sehr komfortablen Situation. Ein wahres Glück!

Es machte mir wirklich zu schaffen, dass ich dieses Geheimnis noch für mich behalten musste und nicht mit meinem Liebsten teilen konnte. Wie gern hätte ich mich schon vorab mit ihm ausgetauscht und Details mit ihm besprochen. Vorfreude war zwar in diesem Fall nicht die schönste, aber doch eine sehr wichtige und sehr schöne Freude. Mehr als einmal war es brenzlig gewesen, dass ich mich ihm gegenüber beinahe verplappert hätte. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen und hätte gerufen: „Ja, mein Schatz, ich weiß, was du vorhast. Komm, lass uns nicht so lange warten. Ich weiß, dass du um meine Hand anhalten willst. Und ja, selbstverständlich will ich dich heiraten. Ich will, ich will, ich will! Unbedingt.“

Vor ein paar Tagen hatte es Jaro mir besonders schwergemacht. Ich überraschte ihn dabei, wie er an seinem Schreibtisch unsere Impfpässe durchblätterte. Ganz erschrocken hatte er sie unter einem Stapel Reiseprospekte verschwinden lassen und sein Ich-habe-keine-Ahnung-Gesicht aufgesetzt. Ich spielte mit und ging ohne etwas zu sagen wieder hinaus, obwohl mir in diesem Augenblick klar war, dass er schon unsere Hochzeitsreise plante. So gern hätte ich mich mit ihm zusammengesetzt. Argentinien hatten wir uns bereits vor langer Zeit ausgesucht. Ob er sich daran erinnerte? Ganz bestimmt. So viele Fragen brannten mir auf der Zunge, doch ich hatte mich tapfer zurückgehalten, ihn machen lassen und mir an jenem Abend mit versteckter Vorfreude eine Dokumentation über den Aconcagua, den höchsten Berg Südamerikas, angeschaut.

Bis jetzt war alles gut gegangen, die letzten Stunden schaffte ich auch noch.

Mein Handy klingelte, das Display verriet, dass es meine Mutter war. „Zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag viel Glück“, sang sie mit kratziger Stimme in den Hörer und unterbrach dann, um einen kräftigen Hustenanfall vorzutäuschen.

Mamma mia, dachte ich. Wer hätte das für möglich gehalten? An dir ist echt eine Granatenschauspielerin verlorengegangen. „Sei mir nicht böse, dass ich nicht weitersinge, Liebes. Es geht mir nur wenig besser, die Erkältung ist wirklich sehr hartnäckig. Wenigstens ist das Fieber runter.“

Du willst es also auf Teufel komm raus bis zum Ende durchziehen, Mama? Na gut, was du kannst, kann ich schon lange, dachte ich und ließ mich erneut auf ihre Komödie ein. „Danke, dass du trotzdem angerufen hast. Das bedeutet mir sehr viel.“ Ich setzte sogar noch einen drauf. „Ich werde euch wirklich vermissen, ein Geburtstag ohne euch ist irgendwie kein richtiger Geburtstag, aber die Gesundheit geht nun mal vor. Schlaft euch aus und trinkt viel Tee, damit ihr schnell wieder gesund werdet“, spielte ich mein Mitgefühl vor.

„Das machen wir, meine Süße“ erwiderte meine Mutter mit traurigem Ton, während sie wahrscheinlich schon bei Eliza und Norbert, meinen Schwiegereltern in spe, auf der Couch saß und in lustiger Runde mit meinem Vater Eierlikörchen süffelte. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie leid es uns allen tut, dass wir dich ausgerechnet an deinem Dreißigsten nicht sehen können. Wir alle wissen doch, wie wichtig dir dieser Tag ist. Geht es dir denn auch wirklich gut?“

Unfassbar, Mama Hepburn. Ich grinste die Decke an. Mit ihrer augenblicklichen schauspielerischen Leistung bewegte sich meine Mutter zweifelsfrei auf dem Leistungsniveau der berühmten Audrey Hepburn. Hollywood ließ grüßen. Ich seufzte theatralisch, das schien mir eine angebrachte Reaktion auf ihre Vorlage, und erklärte. „Ja, das ist wirklich kein Problem. Der Tag wird bestimmt trotzdem ganz toll. Jaro hat eine Überraschung vorbereitet und ich habe überhaupt keine Ahnung, was es sein könnte. Nicht einmal im Ansatz, ein riesiges Geheimnis macht er darum, aber ich bin mir sicher, dass es etwas richtig Großes ist.“

„Oh, das klingt sehr spannend“, sagte meine Mutter und als sie mich darum bat, ihr eine Nachricht zu schicken, wenn ich die Überraschung ausgepackt hatte, hätte ich beinahe laut ins Telefon gelacht.

„Das mache ich, Mama. Ganz fest versprochen“, erklärte ich beherrscht und verabschiedete mich. Von dem Einsatz, den meine ganze Familie an den Tag legte, um dieses Ereignis für mich perfekt zu machen, war ich ganz gerührt. Den Vormittag brachte ich gut über die Runden. Nachdem ich geduscht, geföhnt, geschminkt und gestylt war, genehmigte ich mir ein weiteres Gläschen Sekt und blätterte in Modezeitschriften. Vergnügt nahm ich Glückwünsche aller Art, Anrufe und Textnachrichten, zu meinem Geburtstag entgegen. Auch meine Brüder hatten sich offensichtlich mit Jaro verbündet. Thomas ließ sich und die Kinder durch seine Frau Anke verleugnen. Sebastian schrieb nur eine Textnachricht mit Blumen-Gif. Auch er blieb seiner Linie treu. Basti und ich hatten uns gern, aber wir pflegten keinen sehr engen Kontakt. Uns reichte, wenn wir uns an den Feiertagen sahen. Brav schickte ich eine Dankesnachricht, um auch bei ihm den Schein der Ahnungslosigkeit zu wahren.

Die Grabowskis. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass in unserer Familie jemals ein Geheimnis so konsequent gehütet worden war und alle an einem Strang gezogen hatten. Wenn ich nicht gewusst hätte, woraus meine Überraschung bestand, wäre ich wahrscheinlich schon zutiefst verzweifelt gewesen und läge womöglich noch heulend in meinem Bett. Glücklicherweise war die Situation eine andere und ich stand pünktlich um eins geschniegelt und gebügelt im Flur unserer kleinen Wohnung. Auf meinen Wangen zeigte sich eine gesunde Röte, die wahrscheinlich eher vom Sekt als vom Rouge kam, und ich fühlte mich bereit für meinen großen Tag. Es konnte losgehen. In einer Stunde sollte ich eintreffen. Das gab mir mehr als genug Zeit, um mit den Öffentlichen zum Haus von Jaros Eltern nach Babenhausen, einem nordwestlich gelegenen Stadtteil von Bielefeld, zu gelangen. Ein paar Schritte würde ich zu Fuß gehen und diese angesichts meiner sehr hübschen, neuen, hochhackigen Schuhe auch recht langsam. Keinesfalls aber wollte ich zu spät kommen und beschloss bei Bedarf noch etwas in den Nachbarstraßen auszuharren, damit ich wirklich Punkt zwei, wie vereinbart, bei Neubauers auftauchen konnte.

Jaros Eltern wohnten in einer ruhigen Seitenstraße in einem Haus aus den Siebzigern. Vor dem Haus hatte Eliza, die einen sehr grünen Daumen hatte, ausgewählte Blumen und Sträucher gepflanzt.

***

Ich warf von der Kreuzung aus einen prüfenden Blick auf die Reihe der parkenden Autos, als ich drei Minuten vor zwei in die Straße einbog, konnte aber weder den roten Toyota meiner Eltern noch den Familienvan meines Bruders Thomas erblicken. Mein lieber Schwan, was für einen Aufwand die Bagage betrieb. Durchgeplant bis ins kleinste Detail, niemand war zu sehen oder zu hören. Nicht einmal die Kinder.

Ich klingelte und wenig später öffnete mir Norbert, Jaros Vater, die Tür. „Hallo Tony, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, polterte er mit lauter Stimme und drückte mich kräftig an seine Brust. „Komm rein, wir sind im Garten“, sagte er und schob mich durch die Diele ins Wohnzimmer. Durch die große Glasfront konnte ich direkt in den Garten sehen. Der Partypavillon war aufgebaut und die bunten Lichter ringsherum waren bereits eingeschaltet. Eliza durchquerte das Wohnzimmer und wollte gerade einen großen Kuchen hinaustragen. Als sie mich erblickte, hielt sie mit einem quietschenden Aufschrei in der Bewegung inne.

„Ah“, rief sie laut „da ist ja unser Geburtstagskind!“ Umgehend stellte sie das Blech auf den Couchtisch, zog sich hektisch die Küchenschürze aus und drückte mich genauso inbrünstig an sich, wie ihr Mann es nur wenige Augenblicke zuvor getan hatte. „Alles, alles Gute, meine Liebe, zum dreißigsten Geburtstag. Lass dich nicht unterkriegen und genieße deinen Tag!“ Dann ließ sie mich los, nahm den Kuchen und bedeutete mir, dass ich ihr hinaus in den Garten folgen sollte.

Im Pavillon sah ich mich verwundert um. Es befanden sich nicht ansatzweise so viele Tische und Stühle, wie ich erwartet hatte, darin. Jaro stand etwas abseits und machte sich gerade an der Musikanlage zu schaffen. Er trug noch immer die Jeans und das Hemd von heute Morgen. Er sah gut aus, schlicht und elegant. Dennoch hoffte ich, dass er sich für seinen Antrag noch ein anderes Outfit zurechtgelegt hatte. Einen Smoking vielleicht?

Ich trat von hinten an ihn heran, umarmte ihn und flüsterte. „Bin da, jetzt kann die Party losgehen.“

Jaro drehte sich zu mir um, küsste mich und raunte: „Gut siehst du aus, da habe ich glatt Lust die Party mit dir zu verlassen, noch bevor sie angefangen hat. Nur wir zwei, das könnte mir gefallen.“

Ich sah ihn irritiert an. „Dann wäre doch der ganze Aufwand für die Katz. Nein, nein, mein Lieber, so leicht kommst du mir nicht davon“, wehrte ich ab. „Wann trudelt denn der Rest der Gesellschaft ein?“ Ich sah mich neugierig um, von meiner Familie war weit und breit nichts zu sehen. Dass allesamt im Schlafzimmer meiner Schwiegereltern ausharrten, um auf Kommando mit Jubelgeschrei den Garten zu stürmen, konnte ich mir kaum vorstellen.

Jaro sah mich betreten an und antwortete: „So viele sind wir ja leider nicht. Deine Familie hat vollständig abgesagt und meine ist leider sehr überschaubar. Von unseren Freunden und Bekannten sind viele im Urlaub und so kommen nachher nur noch Lukas und Benjamin. Soweit ich weiß, bringt Lukas wenigstens seine neue Flamme mit. Linda kommt selbstverständlich auch, natürlich schon etwas früher, damit du nicht so lange auf dein Geschenk warten musst. Ich weiß, dass du dir das alles etwas anders vorgestellt hast, aber lass uns das Beste daraus machen. Es ist dein Geburtstag, dein Tag und ich möchte, dass er schön für dich wird.“ Er küsste mich erneut, sanft und leidenschaftlich.

Mein Jaro, er zog alle Register. Ich musste mich augenscheinlich noch gedulden. Nun denn, ich trug es mit Fassung.

„Komm, wir essen ein Stück Kuchen“, forderte er mich auf. „Meine Mutter hat den ganzen Vormittag für dich gebacken.“

„Na gut“, zeigte ich mich einverstanden. Ich spürte, wie meine freudige Erwartung schon zu nervöser Unruhe mutieren wollte. Nur mit großer Willenskraft konnte ich sie wieder besänftigen. Dennoch, lange konnte ich diese Anspannung nicht mehr aushalten. Das spürte ich ganz deutlich. Mir war die Lust an diesem Theaterspielchen vergangen. Ich hatte es satt noch weiter die Ahnungslose zu mimen, das war mindestens genauso anstrengend, wie die Organisation der Party für Jaro gewesen sein musste und er hatte schließlich im Gegensatz zu mir mit allen Beteiligten darüber reden können. Zum wiederholten Male ermahnte ich mich. Durchhalten, Tony, du schaffst das. Es dauert ja nicht mehr lange. Heute Abend schon bist du offiziell verlobt und freust dich auf deine Traumhochzeit. Später kannst du allen erzählen, wie romantisch Jaros Antrag war, weil er dich bis zuletzt im Ungewissen gelassen hat und die Überraschung somit noch viel größer war.

Wir setzten uns zu viert an den Kaffeetisch. Was für eine beschämend kleine Zahl an Gästen. Ich gab mir wirklich überaus große Mühe, aber ich hatte enorme Schwierigkeiten weiterhin eine positive Haltung zu bewahren. Begleitet von dem dünnen Applaus, den drei Paar Hände verursachten, pustete ich die dreißig Kerzen auf dem Geburtstagskuchen aus. Ich betrieb unter allergrößter Anstrengung leichte Konversation mit Norbert und Eliza, während ich mit Mühe ein Stück Geburtstagskuchen hinunterwürgte. Jaro strapazierte meine Nerven, ach was, sie lagen bereits blank und ich stürzte zwei Gläser Sekt hinunter, in der Hoffnung, das Warten noch aushalten zu können, bis er mich erlöste.

„Hast du Tony eigentlich schon erzählt, wo wir in diesem Jahr Urlaub machen wollen?“, fragte Eliza und streichelte Norbert dabei aufgeregt über den Arm.

„Nein, noch nicht“, antwortete er und schob sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund.

„Stell dir vor Tony, in diesem Jahr fliegen Norbert und ich nach Argentinien, ist das nicht ein Traum?“, berichtete Eliza freudestrahlend. Mir wurde mulmig, doch bevor ich darauf antworten konnte, schellte es an der Haustür. Gott sei Dank, da sind sie!, schoss es mir durch den Kopf. Nun hat das Schauspiel endlich ein Ende.

„Bleibt ruhig sitzen, ich geh schon, das wird die Überraschung sein“, sagte Jaro und sah mich mit einem vielbedeutenden Blick an. Mir wurde schlagartig warm und kalt. Ich vergaß Eliza und Argentinien, jetzt wurde es ernst. Ich schob das Geschirr zur Seite und stand auf, um besser die Überraschte spielen und die vielen Umarmungen entgegennehmen zu können. Es dauerte eine Ewigkeit bis Jaro endlich wieder aus dem Haus hinaus in den Garten trat, dicht gefolgt von Linda, die vorsichtig einen großen Karton trug. Ich wartete einige Sekunden auf ihr Gefolge, doch da kam niemand. Hinter Linda war Schluss. Der sich nun planmäßig anzuschließende Grabowski-Clan blieb aus. Ich verstand es nicht.

„Alles Gute zum Geburtstag, Tony“, sagte Linda und blieb etwas abseits mit dem Karton stehen. Jaro trat dafür dichter an mich heran, nahm meine Hand, aber verzichtete zu meiner Verwunderung darauf, sich hinzuknien. Einen Smoking trug er auch nicht. Ich sah mich nervös um, mein Herz schlug bis zum Hals und meine Wangen glühten wie Feuer. War es jetzt etwa soweit?

„Liebe Tony“, begann Jaro nun. „Heute ist dein dreißigster Geburtstag. Ich habe mir lange überlegt, was ich dir schenken kann und bin zu dem Entschluss gekommen, dir einen besonderen Wunsch zu erfüllen. Eine gemeinsame Zukunft mit dir ist mir so wichtig, wie nichts anderes auf der Welt.“ Mein Körper begann zu zittern, ich griff fester um Jaros Hand, schluckte immer wieder, damit mir nicht im entscheidenden Augenblick die Stimme versagte und ich mit JA auf seinen Antrag antworten konnte. Dieser Augenblick schien sich bis in die Unendlichkeit zu ziehen. Ich konnte es kaum ertragen und es fiel mir sehr schwer, seinen Worten zu folgen. Wie versteinert stand ich da und starrte auf unsere Hände. „Ich möchte, dass wir beide den nächsten Schritt wagen und uns gemeinsam einer neuen Herausforderung stellen.“ Im Augenwinkel nahm ich wahr, dass Linda einen Schritt an uns herantrat. Mein Herz raste und ich hoffte inständig, dass Jaro nun endlich zur Sache kam und die entscheidende Frage stellte.

Doch er tat es nicht. Er ließ meine Hand los, trat zu Linda und öffnete den Karton. Behutsam griff Jaro hinein und holte ein kleines, dunkles Fellknäuel hervor. „Tadaa!“, verkündete er leise, wahrscheinlich um das Wesen nicht zu erschrecken, hielt das haarige Ding schützend gegen seine Brust und kam langsam damit zu mir herüber. „Darf ich vorstellen, das ist Mila, unser neues Familienmitglied. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Wir haben jetzt einen Hund.“

Wie vom Donner gerührt, stand ich da. Ich konnte nichts sagen, nicht denken, ich war einfach nur fassungslos. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Holt die versteckte Kamera raus, jetzt ist der Spaß wirklich vorbei. Ausgereizt und nicht mehr lustig. Ihr habt euch genug auf meine Kosten amüsiert.

„Willst du sie mal halten?“, fragte Jaro und machte Anstalten mir das Tier zu übergeben.

„Auf keinen Fall!“, brach es aus mir heraus. „Nein, ich will sie NICHT halten!“, brüllte ich, trat einen Schritt zurück und streckte abwehrend die Arme von mir. „Ich will sie überhaupt nicht haben und ich habe langsam die Nase voll von dem Theater. Hört endlich alle mit dem blöden Versteckspiel auf, es reicht, es ist der schlimmste Geburtstag meines Lebens!“ Ich keuchte wütend und blickte in die Gesichter meiner fünf Geburtstagsgäste, die nun ihrerseits mit offenen Mündern und um Fassung ringend im Garten standen.

„Tony, was ist denn los?“, wollte Jaro wissen und setzte den Hund vorsichtig zurück in den Karton.

„Jetzt tu doch nicht so, du weißt ganz genau was los ist. Du hast mir eine Überraschung versprochen und dass ich zu meinem Geburtstag etwas bekomme, was ich mir schon immer gewünscht habe, etwas für uns beide. Etwas, das eine gemeinsame Zukunft bedeutet, und ich sollte extra meinen ganzen Urlaub dafür nehmen und jetzt ist nicht einmal meine Familie da und du schenkst mir stattdessen nur so einen blöden Hund“, zeterte ich vollkommen außer mir.

„Wie bitte?“, Jaro tat noch immer, als begriff er nicht. Schlimmer noch, er versuchte zu schlichten. „Tony, beruhige dich, du bist ungerecht. Dafür, dass deine Familie nicht hier ist, kann ich nun wirklich nichts“, redete er auf mich ein, doch ich wollte mich nicht im Geringsten beruhigen.

„Du hast gesagt, du liebst mich und wolltest mir das Geschenk meines Lebens machen, etwas, was mir wichtig ist. Schön verarscht hast du mich. Ich dumme Gans dachte echt, du fragst mich, ob ich deine Frau werden will“, heulte ich und sah ihn vorwurfsvoll an. „Weißt du was? Die Party ist für mich gelaufen, ich geh jetzt nach Hause“, erklärte ich trotzig und stapfte mit den schmalen Absätzen meiner neuen Schuhe durch Norberts Rasen.

„Tony, warte!“, rief Jaro und hielt mich am Arm fest. „Das wollte ich nicht, was kann ich tun, damit du dich besser fühlst?“

Ich sah ihn an und schniefte. „Du kannst mich fragen, ob ich dich heiraten will, denn das ist das Einzige, was ich mir gewünscht habe, und das hättest du gewusst, wenn deine Liebe echt wäre.“

Jaro sah mich irritiert an. „Ist das dein Ernst, du stellst meine Liebe in Frage und willst, dass ich dir jetzt einen Antrag mache?“

„Ja“, erklärte ich ungeduldig.

Für einen Moment schwieg er, dann ließ Jaro meinen Arm los und schüttelte den Kopf. „Nein, Tony. So nicht. Ich lasse mich von dir doch nicht so behandeln und schon gar nicht unter Druck setzen.“

„Grr“, knurrte ich wütend und griff fassungslos in meine teure Frisur. „Das musst du gerade sagen! Weißt du was? Ich lass mich auch nicht so von dir behandeln! Wenn du dir zu fein für mich bist, dann suche ich mir eben einen anderen, der mich heiraten will“, zischte ich zornig. Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich ab und lief davon. Vor der Haustür stieß ich mit Lucas und Benjamin zusammen.

„Hey, langsam Geburtstagskind“, rief Lucas, „was ist denn los? Ist alles in Ordnung?“

Ich stolperte an ihnen vorbei, zog meine Schuhe aus und schimpfte dabei heulend: „Sehe ich etwa so aus? Gar nichts ist in Ordnung, beschissen ist es. So beschissen, dass es beschissener gar nicht mehr geht. Für mich war es das, ich bin weg und suche mir einen, der mich wirklich will!“ Dann stolperte ich blindlings davon.