Leseprobe Ein Rockstar für immer?

Kapitel 1 – Fünf Jahre zuvor

„Ich hab nachher noch eine Überraschung für dich!“ Jan grinste Kira vielsagend an, während sie die Einzelteile des Schlagzeugs auf die kleine Bühne im Keller des Jugendhauses trugen. Kira zwang sich, zurückzulächeln, stöhnte aber innerlich. Was mochte das wieder sein? Jan liebte Überraschungen, sie nicht. Das letzte Mal, als er sie überrascht hatte, waren sie kurz darauf in einer verqualmten Kellerbar gelandet, in der ein Kumpel von Jan sein erstes Konzert gegeben hatte. Gott sei Dank auch sein letztes: Es war grauenhaft gewesen.

Sie stellte die schwere Basstrommel auf dem Bühnenboden ab und strich sich die hellbraunen Haarsträhnen aus dem verschwitzten Gesicht. Es war schon jetzt unerträglich heiß hier drinnen. Die schwere, abgestandene Luft raubte ihr den Atem und ließ ihre Kontaktlinsen austrocknen. Mit Wehmut dachte sie an ihr gemütliches Zimmer zu Hause. Dort wartete ein Stapel Chemiebücher auf dem Schreibtisch darauf, dass sie endlich Zeit zum Lernen fand. Diesmal mussten es mindestens vierzehn Punkte in der Klausur werden, sonst konnte sie ihren Einserschnitt im Abi vergessen. Stattdessen war sie hier und vertrödelte ihre Zeit.

Sie richtete sich auf und sah sich um. Um sie herum krochen drei junge Männer über die staubige Fläche und verkabelten Instrumente. Bis auf einen Mitarbeiter des Jugendhauses, der ihre Aufbauarbeiten überwachen sollte, war noch niemand da. Durch die kleinen Fenster ganz oben in der Wand fielen ein paar Sonnenstrahlen und machten die staubige, verbrauchte Luft sichtbar.

Die anfallenden Arbeiten vor einem Konzert kannte sie im Schlaf, sie hatte das schon hunderte Male erledigt, dennoch fühlte sie sich oft fehl am Platz und nicht richtig zugehörig. Jan und die Jungs aus der Band waren ein Team, sie selbst kam sich eher wie ein Störfaktor in der Männerfreundschaft vor. Niemand hätte sie je so bezeichnet, aber sie sah die Blicke der anderen, wenn Jan sie mal wieder mit in den Proberaum schleppte.

Sie wünschte, ihre beste Freundin Theresa hätte heute hier sein können. Doch die lag im Krankenhaus, schon zum dritten Mal dieses Jahr. Sie war der Grund, warum Kiras Wunsch, nach dem Abi Medizin zu studieren, noch weiter in den Vordergrund gerückt war. Sie lernte in jeder freien Minute und verbesserte sich von Klausur zu Klausur. Wenn sie jetzt nicht nachließ, würde sie den erforderlichen Numerus clausus problemlos schaffen.

Jan war das genaue Gegenteil von ihr, er verfolgte keine solchen Pläne. Wenn man ihn fragte, was er nach der Schule machen wollte, antwortete er meist lapidar mit: „Musik“. Er hatte weder vor, zu studieren, noch wollte er eine Lehre anfangen. Diese Sorglosigkeit führte immer häufiger zu Streit zwischen ihnen, in dieser Hinsicht waren Kira und ihre Eltern ganz einer Meinung. Die waren von Anfang an gegen die Beziehung zu Jan gewesen, der angeblich einen schlechten Einfluss auf ihre Tochter hatte, und machten das auch bei jeder Gelegenheit deutlich. Am Anfang hatte sie sich rebellisch gefühlt, doch in letzter Zeit konnte sie die Ansichten ihrer Eltern zunehmend nachvollziehen. Sie hatte sich weiterentwickelt, war durch ihre Sorge um Theresa erwachsen geworden. Jan aber weigerte sich, ernsthaft darüber nachzudenken, was er nach der Schule machen wollte und lebte in den Tag hinein. Es lag nur noch ein halbes Jahr zwischen heute und dem Tag, an dem sie sich für ihren weiteren Lebensweg entscheiden mussten. Nicht mehr viel Zeit, um eine gemeinsame Lösung zu finden, befürchtete Kira.

Jan ließ den Ständer, den er getragen hatte, achtlos fallen und sprang von der Bühne, um sich mit dem Typ vom Jugendhaus, der ihn zu sich winkte, zu unterhalten. Kira betrachtete ihren Freund nachdenklich. Er zündete sich eine Kippe an und wippte beim Reden auf den Fußballen vor und zurück. Sein raues Lachen erfüllte den ganzen Raum. Dies hier war seine Welt. Er war Musiker mit Leib und Seele und konnte sich nicht vorstellen, je etwas anderes zu machen. Sein Plan war es, mit seiner Musik groß rauszukommen. Er war eben ein Träumer, ein Optimist. Sie hingegen hatte früh erfahren, wie unfair das Leben sein konnte.

Zwei Mädchen kamen herein. Sie sahen Jan und kicherten, als er ihnen zuwinkte. Soweit Kira wusste, waren die beiden aus der Elften, also zwei Jahrgänge unter ihr. Vermutlich arbeiteten sie heute Abend hier. Sie sah Jan mit den Augen der Mädchen: Mit seinen verstrubbelten, blonden Haaren, der schlaksigen Statur und seinen blauen Augen wirkte er gleichermaßen anziehend und frech. Sein selbstsicheres Auftreten verlieh ihm zusätzliche Attraktivität. Das war ihr schon bei ihrer allerersten Begegnung vor vier Jahren aufgefallen. Endgültig verliebt hatte sie sich nach einem Konzert seiner Band. Er wirkte wie ein echter Rockstar, wenn er auf der Bühne stand. Seine Musik war trotz harter Gitarrenriffs und durchdringendem Bass melodisch. Allein zu beobachten, wie er voller Hingabe sang, hatte sie erzittern lassen. Sein Talent war unbestreitbar. Doch im Gegensatz zu Jan war Kira sich nicht sicher, ob das reichen würde, um nach der Schule halbwegs davon leben zu können.

Während sie gedankenverloren auf der Bühne stand und ihren Freund beobachtete, sah er auf und lächelte sie an. Noch vor ein paar Wochen hätte ihr dieses Lächeln einen Gänsehautschauer über den Rücken gejagt, doch heute erreichte es sie nicht. Sie lächelte dünn zurück und drehte sich weg. Es musste noch eine Menge aufgebaut werden.

 

Erst nachdem der Einlass seine Pforten geöffnet hatte, war Kira mit den Aufbauten endgültig fertig. Die Band war hinter der Bühne verschwunden, um sich auf das Konzert einzustimmen. Kira ging an die Theke und bestellte sich eine Cola. Langsam füllte sich das Jugendhaus. Jans Band war in der ganzen Schule und mittlerweile auch darüber hinaus bekannt. Trotzdem war Kira erstaunt, wie viele unbekannte Gesichter sie in der Menge entdecken konnte.

Auf einmal wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Tür gelenkt. Ihr Herz machte einen erfreuten kleinen Hüpfer, als sie Mika dort stehen sah. Mika Ehrenbach war ein Jahr älter als Kira und studierte schon. Jura, weil er Anwalt werden wollte wie sein Vater und eines Tages dessen Kanzlei übernehmen würde. Zumindest hatte Kira das so gehört.

Sie seufzte unwillkürlich, als Mikas umherschweifender Blick sie streifte. Was machte er heute hier? Eigentlich war er öfter in der Unibibliothek anzutreffen als hier im Jugendhaus. Mika war eben schon verdammt erwachsen.

Bei seinem Anblick ging für Kira die Sonne auf. Sie bewunderte ihn. Er wusste genau, was er vom Leben wollte und zögerte nicht, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Außerdem sah er verdammt gut aus. Er war groß und schlank, hatte markante Gesichtszüge und etwas längere, dunkelbraune Haare. Bei ihm sah das allerdings nach einer durchdachten Frisur aus, nicht so verstrubbelt wie bei Jan. Man sah ihn ausschließlich in gut sitzenden Markenklamotten, meist in dunklen Tönen. Das unterstrich seine sexy seriöse Ausstrahlung. Er wirkte, als wäre alles, was er in die Hand nahm, von Erfolg gekrönt. Ausnahmslos jedes Mädchen verehrte Mika, da war sich Kira sicher. Unbewusst verglich sie ihn mit Jan, dessen Kleidungsstil nicht einmal ansatzweise erkennbar war. Jan war noch ein Junge, Mika hingegen schon fast ein richtiger Mann, auch wenn er nur ein Jahr älter war als ihr Freund.

In den gefühlten drei Minuten, die Mika jetzt schon da war, hatten sich sechs Mädchen um ihn geschart, die erfolglos nach seiner Aufmerksamkeit haschten. Er lachte über irgendwas und drängelte sich zur Theke durch. Kurz dachte Kira, er wolle vielleicht zu ihr, doch dann bemerkte sie seinen besten Freund Max neben sich. Max ging in Kiras Stufe und war das komplette Gegenteil von Mika. Er war etwas kleiner und kräftiger, hatte eher dünnes, dunkelblondes Haar und kleine Augen. Warum die beiden beste Freunde waren, wusste niemand. Tatsache aber war, dass sich Max durch die Freundschaft mit Mika Ehrenbach einen deutlich höheren Status in der Schulhierarchie verschafft hatte.

Mikas Ärmel streifte sie im Vorbeigehen, bevor er sich zu Max an die Theke stellte. Kira hielt den Atem an. Verlegen nippte sie an ihrer Cola und versuchte, ihn nicht ganz so offensichtlich anzustarren. Wie in Zeitlupe registrierte sie jede seiner Bewegungen. Er klopfte Max kumpelhaft auf die Schulter und bestellte sich einen Wodka Tonic. Mit dem Glas in der Hand drehte er sich so um, dass er die Bühne voll im Blickfeld hatte und bot Kira eine wunderschöne Aussicht auf sein perfektes Profil.

„Und? Wer spielt heute?“, fragte er niemanden bestimmten.

Alternativlos, die Band von Jan Adler aus der Dreizehnten“, hörte Kira sich sagen, noch ehe sie sich bremsen konnte. Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte Mika sich zu ihr um und sah sie abschätzig an. Dann verzog er seine vollen Lippen zu einem Lächeln, das seine perfekten Zähne entblößte und ein Grübchen auf sein Kinn zauberte. Kiras Knie wurden weich.

„Hallo, schöne Frau. Kennen wir uns schon?“

„Nein“, krächzte Kira und räusperte sich. Warum war ihr Mund mit einem Mal so trocken?

„Verrätst du mir deinen Namen?“

„Kira … Baumeister.“ Warum konnte sie nicht mehr in ganzen Sätzen sprechen? Und warum klang ihre Stimme so unnatürlich hoch?

„Schön, dass du auch hier bist, Kira. Ich bin Mika.“ Er prostete ihr zu und lächelte sie offen an. Von ihrem Blickwinkel aus konnte sie erkennen, dass Max die Augen verdrehte. Kira wurde nun noch verlegener, als sie es sowieso schon war. Flirtete allen Ernstes der begehrteste Junge der Stadt mit ihr? Sie überlegte fieberhaft, was sie antworten konnte, als sie plötzlich ihren Namen hörte.

„Kira? Kannst du mal zu mir kommen?“

Schlagartig wurde sie rot. Es war Jans Stimme, die aus allen Boxen quer durch den Raum schallte. Ihr kam es vor, als würden sich alle Augen im Raum auf sie richten und sehen, wie sie mit Mika flirtete. Die meisten hier wussten, dass sie Jans Freundin war, bis auf Mika. Doch auch der bekam es in eben diesem Moment mit, denn Max flüsterte ihm etwas ins Ohr und sah bedeutungsvoll zwischen Kira und Jan hin und her. Ehe es noch peinlicher werden konnte, schnappte sich Kira ihr Glas und schlenderte betont gelangweilt in Richtung Bühne.

Sie musste kein schlechtes Gewissen haben, beruhigte sie sich selbst. Sie hatte nur mit Mika geredet. Eigentlich noch nicht einmal das, ihr war ja nichts Geistreiches eingefallen. Es war also gar nichts passiert. Dennoch legte sie sich in Gedanken schon mal eine Erklärung zurecht, während sie zum Seiteneingang ging, der hinter die Bühne führte.

 

Jan hatte nichts davon mitbekommen, was eben vorgefallen war … oder nicht vorgefallen war. Er wirkte glücklich und aufgekratzt wie immer vor einem Konzert, seine Augen blitzten und er vibrierte förmlich vor Aufregung.

„Das Konzert fängt gleich an“, empfing er sie und zog sie kurzerhand hinter die Tür in den schmalen Gang hinein. „Vorher zeige ich dir aber noch meine Überraschung. Du sollst sie als Erste sehen, schließlich ist sie für dich.“

Und mit diesen Worten krempelte er den Ärmel seines Langarmshirts ein Stück nach oben und präsentierte ihr stolz ein neues Tattoo auf seinem Unterarm. Kira konnte nicht gleich erkennen, was es darstellen sollte. Sie starrte nur verständnislos darauf.

„Es ist ein Herz, ein anatomisches, nicht so ein kitschiges“, half er ihr auf die Sprünge. „Weil du doch Medizin studieren wirst.“

Außer dem Herz waren auch die Aorta und die Lungenarterie zu sehen. Aus der Aorta flossen die Worte My Love und aus der Arterie My Life.

Er zeigte auf die Arterie: „Mein Leben ist wie dieses Blut.“ Dann tippte er auf die Aorta: „Deine Liebe ist für mich der Sauerstoff, durch den ich erst lebensfähig bin.“

Kira wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Das Herz war in ockerfarbenen Linien mit allen Blutgefäßen und Muskeln skizziert – und unheimlich hässlich. Es wirkte mehr wie ein Bild aus einem Lehrbuch als wie das Tattoo eines Rockstars. Sie brachte mit Mühe ein „Toll“ hervor, bevor sie ihn ansah. Er wirkte so glücklich, so stolz. Da konnte sie ihn doch jetzt nicht mit ihrer wahren Meinung verletzen. Dass er verrückt sein musste, sich so ein hässliches Bild an so eine deutlich sichtbare Stelle seines Körpers stechen zu lassen. Dass sie so etwas nie gewollt hatte. Dass sie Tattoos nicht mal leiden konnte. Doch ihr war klar, dass er es für sie gemacht hatte, um ihr seine Liebe zu zeigen. Außerdem war direkt vor dem Konzert ein ungünstiger Zeitpunkt, einen Streit vom Zaun zu brechen. Also spielte sie weiter die Begeisterte.

Er verlangte von ihr sogar, das Bild anzufassen, obwohl ihm die Berührung wehtun musste. Die Haut um das Herz herum war stark gerötet, alt konnte das Tattoo noch nicht sein. Es fühlte sich an wie ein verbranntes Stück Erde, ganz heiß und trocken. Sie schluckte. Sie wollte nicht, dass er so etwas für sie tat. So etwas Unumkehrbares. Nicht, wenn sie in der Zwischenzeit mit einem anderen Jungen flirtete. Das hatte er nicht verdient.

Als sie ihm wieder in die Augen sah, seine Freude und seine Aufregung erblickte, wurde ihr bewusst, dass sie längst eine Entscheidung getroffen hatte. Sie konnte nicht länger so tun, als wäre alles in Ordnung zwischen ihnen. Sie musste das beenden. Und zwar nicht, weil ihre Eltern es so wollten, sondern weil sie selbst einsah, dass Jan ihrem Leben nicht guttat. Es tat ihr unheimlich leid, dass sie auf diesen Gedanken nicht vor diesem unsäglichen Tattoo gekommen war.

Dennoch brachte sie es jetzt noch nicht übers Herz. Sie konnte ihm nicht sein Konzert verderben. Sie würde einen günstigeren Zeitpunkt abwarten, das war sie ihm schuldig. Ihm und den anderen Jungs der Band.

Also gab sie ihm einen Kuss auf die Wange, wünschte ihm viel Glück und ging zurück in den Konzertraum zu den anderen Zuschauern. Als sie sich noch einmal umdrehte, stand Jan noch immer so da und sah ihr verwirrt nach. Ahnte er etwas? Doch dann grinste er. Wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht.

 

Ein paar Minuten später stand er schon auf der Bühne. Sie starteten mit Feueralarm, einem ihrer stärksten Songs, die Zuschauer gingen sofort darauf ein und bewegten sich im Takt des Schlagzeugs. Auch Kira ging äußerlich mit der Musik mit. Doch innerlich überlegte sie, wie sie Jan schonend beibringen konnte, dass sie von jetzt an getrennte Wege gehen würden.

Immer wieder sah sie zu Mika. Sie hatte sich absichtlich in seine unmittelbare Nähe gestellt, doch diesmal ignorierte er sie vollkommen. Das tat seiner Attraktivität jedoch keinen Abbruch. Und da er sie nicht beachtete, konnte sie ihn ungestört anschauen. Sie ertappte sich kurz bei dem Gedanken, dass ihre Eltern bestimmt glücklich wären, wenn sie einen Freund wie Mika hätte. Vermutlich würde ihr Vater ihr anerkennend auf die Schulter klopfen und ihre Mutter sein „adrettes Auftreten“ loben.

Sie war so vertieft, dass sie nicht gleich mitbekam, dass die Musik nicht mehr spielte. Erst Jans Stimme aus den Lautsprechern brachte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück.

„Hallo, Leute, schön, dass ihr da seid. Wir sind Alternativlos“, begrüßte er die Zuschauer. Ein paar Mädchen kreischten los, was er mit einem spöttischen Heben der Augenbrauen quittierte.

„Ich wollte euch mal was fragen“, fuhr er fort. „Geht’s euch auch so gut wie mir?“ Lautes Gegröle und Klatschen schallten ihm entgegen.

Er grinste diabolisch hinter dem Mikrofon und schüttelte demonstrativ den Kopf.

„Ich glaube euch nicht. Und wisst ihr warum? Ich habe heute was zu feiern. Seit drei Jahren ist jemand an meiner Seite, den ich liebe, der mich durch Höhen und Tiefen begleitet und ohne den ich heute nicht hier vor euch stehen würde.“ Er suchte die Menge ab, bis sein Blick auf Kira fiel. Er lächelte, doch sie konnte das Lächeln nicht erwidern. Ein stechender Schmerz begann sich in ihrem Kopf auszubreiten.

Jan sah wieder in die Menge. „Ihr fragt euch sicher: Warum zum Teufel erzählt der uns das alles?“

„Ja! Warum?“, grölte jemand weiter hinten, was allgemeines Gelächter hervorrief.

Kira presste die Fingerspitzen an ihre Schläfen und schloss die Augen. Sie wünschte sich ganz weit weg.

Jan sprach weiter: „Ich möchte euch die Person vorstellen. Kira? Komm doch bitte auf die Bühne!“

Kira spürte, wie sie von einigen Händen nach vorn, mitten auf die Tanzfläche, geschubst wurde, während sämtliche Nerven und Muskeln in ihr laut „Nein, nein, nein!“ schrien. Irgendein Witzbold von der Technik richtete einen Strahler auf sie aus, so dass sie geblendet wurde. Ein zweiter Strahler leuchtete auf und tauchte Jan in einen ebenso hellen Lichtkegel. Wenigstens konnte sie ihn jetzt erkennen. Und was sie sah, beunruhigte sie. Er hatte etwas vor, das erkannte sie deutlich an seinem schiefen Grinsen und den blitzenden Augen.

„Kira, du bist die Liebe meines Lebens.“ Seine Stimme war ganz tief geworden. Er sah ihr fest in die Augen. „Deshalb möchte ich dir heute eine wichtige Frage stellen.“

Kiras Atmung setzte einen Moment lang aus und sie spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Sie schluckte.

Bei Jans Versuch, sein Mikro zu nehmen, fiel der Ständer um. Das Gepolter vermischte sich mit dem unangenehmen Quietschen, das daraufhin aus den Lautsprecherboxen schallte. Verlegen bückte er sich, stellte den Ständer wieder auf und rieb sich die Hände an seiner Hose. Schließlich räusperte er sich, nahm das Mikro und streckte den Rücken durch. Seine Stimme klang fest. „Hier, vor all diesen Zeugen, meine liebe Kira, frage ich dich: Willst du mich heiraten?“

Es war, als hielten alle im Raum den Atem an. Eine gespenstische Stille senkte sich herab und ausnahmslos jeder starrte sie an. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf nur so durcheinander, sie bekam keinen einzigen davon zu fassen. Sie zwang sich, ruhig ein und auszuatmen. Ein Heiratsantrag. Er machte ihr einen Heiratsantrag. Ein Heiratsantrag sollte der romantischste Moment im Leben eines Mädchens sein. Warum nur fühlte sie sich dann, als hätte sie einen Einberufungsbefehl in den Krieg erhalten?

Sie sah Jans freudige Erwartung in seinen Augen. Sein Lächeln war warm und galt nur ihr. Ein Versprechen lag darin, sie für immer zu lieben und für sie da zu sein. Sie konnte die Erwartungen der Zuschauer spüren. Alle wollten an diesem romantischen Moment teilhaben und sich mit ihnen freuen. Das Pochen in Kiras Kopf wurde stärker, dann, nach einer kleinen Ewigkeit, schüttelte sie ganz leicht den Kopf.

Sie senkte den Blick und wünschte sich, sie könnte auf der Stelle im Erdboden versinken. Noch immer war kein Laut zu hören. Vorsichtig wagte sie aufzuschauen. Jan stand noch immer genauso da wie eben, doch sein Lächeln war zu einer Grimasse erstarrt und seine Haut wirkte im hellen Scheinwerferlicht seltsam fahl. Im nächsten Moment drehte er sich auf dem Absatz um, schmiss seine Gitarre auf den Boden, dass es nur so schepperte, sprang von der Bühne und verschwand durch den Nebeneingang. Gleichzeitig setzten auch die Geräusche im Raum wieder ein. Ungläubiges Raunen und Getuschel drangen von allen Seiten zu ihr. Kira rannte hinter Jan her, noch ehe sie genau darüber nachdenken konnte, was sie da tat.

Sie fand ihn in der kleinen Küche, in der die Getränke für die Band bereitgehalten wurden. Er stand mit dem Rücken zu ihr vor den Bierkästen. Als die Tür hinter ihr zufiel, drehte er sich langsam zu ihr um.

„Es tut mir leid“, sagten sie beinahe gleichzeitig. Kira sah einen leichten Hoffnungsschimmer in seinem Gesicht und er setzte an: „Ich hätte dich nicht so überfallen sollen …“

„Jan“, unterbrach sie ihn abrupt. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. „Ich kann nicht mehr. Ich will das nicht mehr. Ich –“ sie stockte. „Es tut mir leid.“

„Was meinst du?“, fragte er verständnislos. Sein Blick irrte suchend über ihr Gesicht, doch plötzlich hielt er inne und riss die Augen auf. „Willst du … Schluss machen?“

Instinktiv wollte sie den Kopf schütteln. Sie fühlte sich in die Enge getrieben. So hatte sie das nicht gewollt. Doch nun gab es keinen anderen Ausweg mehr. Sie nickte betreten.

„Nein!“ Mit zwei schnellen Schritten war er bei ihr und packte ihre Handgelenke. Seine Stimme klang heiser. „Das meinst du doch nicht ernst!“

Obwohl sie am liebsten weggelaufen wäre, zwang Kira sich, ihm in die Augen zu schauen.

„Ich … ich liebe dich nicht mehr!“, presste sie hervor.

Er zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden. „Aber … warum? Ich verstehe das nicht.“ Verzweifelt sah er sie an. „Wegen dem Antrag? Das tut mir echt leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Wir müssen nicht heiraten. Jedenfalls nicht so bald. Wir vergessen das einfach und …“

„Nein“, unterbrach sie ihn traurig. „Ich hatte schon vorher den Entschluss gefasst. Aber ich wollte auf den geeigneten Moment warten.“

„Den geeigneten Moment?“ Seine Augen verengten sich und seine Stimme wurde schneidend. „Und das war er, der geeignete Moment?“

Sie dachte an die mitleidigen Blicke seiner Fans, nachdem sie seinen Antrag abgelehnt hatte. „Nein … ja … ach, verdammt!“ Sie sah ihn schlucken. Eine Weile lang sagte keiner von ihnen ein Wort.

Warum konnte er eigentlich kein Arsch sein, bei dem es ihr leichtfallen würde, ihm wehzutun?

„Du kannst nichts dafür.“ Ihre geflüsterten Worte waren kaum hörbar.

„Ach, ist das so?“, schrie er sie an. Sein Griff wurde eisenhart. „Dann sag mir den Grund! Hast du einen anderen?“

Sie schüttelte stumm den Kopf und sah anklagend auf ihre Handgelenke. Er ließ sie so plötzlich los, als hätte er sich verbrannt. Abrupt drehte er ihr den Rücken zu. Für einen Moment befürchtete Kira, er würde irgendetwas nach ihr werfen.

Sie rieb sich die schmerzende Haut und redete schnell weiter. „Ich habe mich verändert. Was wir hatten, war wunderschön, aber –“, sie suchte unbeholfen nach den richtigen Worten, „das reicht mir nicht mehr. Ich habe ein Ziel, ich will etwas bewegen. Du hingegen bist glücklich mit dem, was du hast.“ Sie konnte sehen, dass jedes ihrer Worte ihn wie eine Gewehrkugel traf und verletzte. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Entschlossen fügte sie hinzu: „Wir sind zu verschieden.“

Er drehte sich wieder um und sah sie einfach nur an. Aus seinem Blick erlosch sämtliche Emotion. Sie spürte, wie er sich innerlich von ihr entfernte.

„Du solltest jetzt besser gehen!“

Er hatte leise gesprochen, aber Kira hörte die unterdrückte Wut in seiner Stimme. Es war besser, seiner Aufforderung zu folgen. Also drehte sie sich wortlos um und verließ den Raum. Draußen standen noch immer die aufgebrachten Fans und starrten neugierig in ihre Richtung. Ohne jemanden anzusehen, schnappte sie sich ihre Jacke und rannte nach draußen. Erst als sie auf der Straße stand, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Was hatte sie getan?

 

Tränenblind versuchte sie sich zu orientieren. Was jetzt? Wohin sollte sie gehen? Sie konnte schlecht hier stehen bleiben und darauf warten, dass ihre Probleme sich in Luft auflösten. Sie musste hier weg.

Ich habe das Richtige getan, wiederholte sie ständig wie ein Mantra. Warum nur wollte ihr Herz ihr nicht so recht glauben? Egal! Irgendwann würde das dumme Ding sicher auch begreifen, dass es so für alle Beteiligten besser war.

„Kann ich dich nach Hause fahren?“, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Erschrocken fuhr sie herum und blickte in Mikas graue Augen. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass er allein war. Sie versuchte sich durch ihren Tränenschleier hindurch an einem unsicheren Lächeln und nickte zaghaft.

Er sagte kein Wort, während sie zu seinem Auto gingen. Ganz gentlemanlike hielt er ihr die Tür auf. Dankbar lächelte sie ihn an. Sie musste furchtbar aussehen, und dennoch war er so nett zu ihr. Dieser Gedanke verursachte einen neuen Heulkrampf. Etwas linkisch legte er seine Hand auf ihre Schulter.

„Bitte, weine nicht! Dazu hast du doch gar keinen Grund. Warte, ich weiß was.“ Abrupt löste er sich, schlug ihre Tür zu und stieg ebenfalls ein.

Sie bemerkte kaum, wohin sie fuhren. Erst als sie die riesige Anzeige der lokalen Tankstelle vor sich sah, wurde ihr bewusst, wo sie gelandet waren. Mika hielt an und stürzte schon fast fluchtartig aus dem Wagen, was sie ihm angesichts ihres desolaten Zustands nicht verdenken konnte, kehrte aber nur Minuten später zurück und drückte ihr einen dampfenden Kaffeebecher in die Hand. Sie verzog den Mund bei dem Gedanken an das kochend heiße, bittere, schwarze Getränk, doch dann nahm sie pflichtschuldigst einen kleinen Schluck. Die Wärme half tatsächlich. Ihre Tränen trockneten und hinterließen ein juckendes Gefühl auf ihren Wangen.

„So, und jetzt erzähl mal, was passiert ist. Ich meine, abgesehen vom Offensichtlichen“, ermunterte er sie und fuhr seinen Sitz zurück, um sich besser zu ihr drehen zu können.

Obwohl es ihn überhaupt nichts anging und sie nicht mal sicher war, ob es ihn wirklich interessierte, erzählte sie. Von ihren Zweifeln und Ängsten, von ihrer Zukunftsplanung und ihren Bedenken, dass Jan nicht der Richtige war. Es tat gut, sich das alles von der Seele zu reden. Mika war ein geduldiger Zuhörer. Er unterbrach sie kein einziges Mal, nickte nur hin und wieder. Schließlich nahm er ihr den mittlerweile kalt gewordenen Kaffee aus der Hand, öffnete seine Tür und schüttete ihn weg. Den Becher warf er in die Dunkelheit. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und grinste sie schief an. Dann beugte er sich zu ihr und schloss sie in eine feste Umarmung, die sie unheimlich tröstend fand.

Als er sie wenig später durch die dunklen Straßen nach Hause fuhr, konnte Kira sich des Gedankens nicht erwehren, dass das heute nicht nur ein Ende war, sondern auch ein Anfang. Der Anfang ihres neuen Lebens.

Kapitel 2 – Heute

Kiras Hände waren eiskalt, sie war noch nicht dazu gekommen, sich Handschuhe zu kaufen. Sie beeilte sich, die schwere Plastiktüte, deren Griffe unsanft tief in ihre Haut einschnitten, durch die Mannheimer Innenstadt zu tragen. Die vorweihnachtliche Beleuchtung in den Fenstern um sie herum versuchte eine heimelige Stimmung zu verbreiten. Aber sie kam nicht gegen die feuchte Kälte an, die Kira durch jede Faser ihrer Kleider bis auf die Haut kroch.

Sie dachte an Tommy und ging schneller. Sicher wartete er schon auf sie. Er würde enttäuscht sein, weil sie nur die nötigsten und vor allem billigsten Lebensmittel eingekauft hatte. Auch diese Woche würde es nichts außer Ravioli aus der Dose, Nudeln mit Ketchup und Tütensuppe geben, für mehr hatte ihr Geld nicht gereicht. Kira fand das nicht so schlimm, denn daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Viel mehr tat es ihr leid, dass Tommy nicht das bekam, was er mochte. Aber seine Lieblingsmarken gab es bei dem Discounter nicht, und außerdem waren sie unnötig teuer. Das konnte sie sich im Moment beim besten Willen nicht leisten.

So hatte sie sich das Leben als angehende Studentin nicht vorgestellt. Vor fast einem halben Jahr war sie aus Australien zurück nach Deutschland gekehrt, und ihre Lage sah schlimmer aus als je zuvor. Es war kurz vor Weihnachten, sie war praktisch pleite und das Semester würde nicht vor kommendem Oktober beginnen. Am liebsten hätte sie sofort nach ihrer Rückkehr mit dem Studium begonnen, doch dann war sie von der Nachricht überrascht worden, dass sie für eine Studienbewerbung den bestandenen Medizinertest vorweisen musste. Ein Test, der nur einmal im Jahr im Mai durchgeführt wurde. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich nicht rechtzeitig darüber informiert hatte. Jetzt wusste sie Bescheid, auch dass die Anmeldefrist für diesen Test bereits am fünfzehnten Januar endete und nur bei Überweisung der Anmeldegebühr überhaupt akzeptiert wurde. Zeit hatte sie genug, nur das Geld fehlte ihr. Sie musste sich nun fast ein Jahr lang mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten und nebenher genug Geld verdienen, um nicht nur die Anmeldegebühr, sondern auch die notwendigen Anschaffungen für das Studium zu finanzieren.

Sie dachte an die Anfangszeit in Down Under, in der sie Touristengruppen in Sydney herumgeführt hatte. Damals hatte sie noch oft daran gedacht, nach Hause zurückzukehren und zu studieren. Doch dann hatte ihre Kollegin Sheila diese Idee gehabt, Kinderpartys zu organisieren. Sheila liebte Kinder, es machte ihr Spaß, mit ihnen zu spielen und sie zu unterhalten. Kira kümmerte sich lieber um den organisatorischen Teil, das lag ihr mehr. Sie hatte sich dort wohlgefühlt, fernab von ihren eigenen Ansprüchen, eine angesehene Ärztin zu werden und entscheidende Fortschritte in der Krebstherapie zu erzielen.

Während dieser Zeit hatte sie Tommy kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war einer der Gründe, warum sie so lange in Australien geblieben war. Sie hatte Tommy nicht verlassen wollen, konnte sich damals aber auch nicht vorstellen, ihn nach Deutschland mitzunehmen. Er war so glücklich in Australien. Er liebte das Wetter und seine Freiheit. Außerdem war er Australier und die versetzte man nicht einfach ans andere Ende der Welt. Tommy war ihr Begleiter und Tröster gewesen, wenn sie am Sinn ihres Lebens gezweifelt hatte. In der Nacht kuschelte er sich an sie und tagsüber, wenn sie arbeiten musste, streifte er durch die Gegend, auf der Suche nach Abenteuern.

Doch dann heiratete Sheila und wurde schwanger. Es war eine schwierige Schwangerschaft, schon bald hatte ihr der Arzt verboten, weiterzuarbeiten. Für einen allein war ihr kleines Unternehmen aber zu viel Arbeit gewesen. So hatte Kira vor der Entscheidung gestanden, sich entweder einen neuen Geschäftspartner zu suchen oder endlich den Schritt zu tun, den sie schon Jahre vorher hätte tun sollen: zurück nach Deutschland zu gehen und ihr Medizinstudium anzufangen. Sie hatte lange mit Tommy gesprochen, sich letztlich für die Heimkehr entschieden. Sie war von Amt zu Amt gelaufen, um die Formalitäten zu klären, hatte ihre wenigen Ersparnisse zusammengekratzt und ein Ticket für sich und Tommy gekauft.

 

Keuchend schleppte sie sich die vier Stockwerke hoch zu ihrer winzigen Wohnung, einen Aufzug gab es nicht. Sie schloss die Tür auf und ließ erleichtert die schwere Tüte auf den Boden fallen. Tommy stand schon in der Wohnzimmertür, um sie zu begrüßen.

„Na, mein Süßer, hast du mich vermisst?“

„Mau“, antwortete der schwarze Kater in herzzerreißendem Tonfall und schaute sie aus seinen gelbgrünen Augen vorwurfsvoll an.

 

Eine Stunde später saß Kira an ihrem Esstisch und pustete in die dampfenden Ravioli. Dabei beobachtete sie Tommy, der um seinen gefüllten Futternapf herumschlich, sich jedoch nicht entschließen konnte, etwas davon zu fressen. Er schaute zu Kira hoch und maunzte klagend. Ihr gemurmeltes „Tut mir leid“ interpretierte er offenbar als Einladung, denn er sprang kurzerhand auf den Tisch und schnupperte an Kiras Teller. Sie hielt ihm probeweise ein Stück Ravioli auf der Gabel hin. Er schnupperte, zog sich aber sofort beleidigt zurück. Kira grinste: „Siehst du, meins ist auch nicht besser.“

Etwas später saßen sie gemeinsam auf der kleinen Couch. Kira starrte gedankenverloren aus dem Fenster und träumte von ihrer Zukunft als angesehene Onkologin. Ihre Hände streichelten unaufhörlich über das weiche Fell des Katers, der sich vor Wohlbehagen hin und her wälzte. Ihr Blick fiel auf den Kater und sie musste über seine nach hinten gelegten Ohren und den etwas dümmlichen Gesichtsausdruck lachen. Davon musste sie einfach ein Foto machen.

Sie riss erschrocken die Augen auf, als sie die Uhrzeit auf ihrem Handydisplay las. Augenblicklich beschleunigte sich ihr Herzschlag und sie sprang auf. Tommy purzelte halb von ihr herunter und trollte sich beleidigt in die Küche.

In zehn Minuten begann ihre Schicht im Restaurant. Sie sah prüfend an sich herunter. Nein, so ging das nicht. Es gab nur eines, das ihr grauenhafter Chef noch mehr verachtete als Unpünktlichkeit und das war ungepflegtes Auftreten. Eilig schnappte sie sich eine frische Jeans und ein schwarzes T-Shirt aus dem Schrank und rannte ins Bad. Das Umziehen ging recht schnell, ebenso das Schminken, darum machte sie sowieso nicht viel Aufhebens. Doch als sie ihre Brille auf die Nase setzte, sah sie mit Schrecken den hellen Fettfleck auf Höhe ihres Bauchnabels.

Die Zeit reichte nicht mehr, um sich noch einmal umzuziehen, zumal sie sowieso kein anderes sauberes dunkles Shirt mehr besaß. Zwischen den vielen Schichten war sie einfach zu erschöpft, um auch noch in den Waschsalon zu gehen. Also hängte sie sich kurzerhand einen langen Schal um den Hals und hoffte, den Fleck auf diese Weise verbergen zu können.

Sie griff nach ihrer Jacke und öffnete die Tür. Beinahe wäre sie beim Rausgehen über Tommy gestolpert, der sich an ihren Beinen rieb. Zum Glück! So bemerkte sie im letzten Moment, dass ihre Füße noch in Hausschuhen steckten.

Fünf Minuten zu spät stand sie abgehetzt vor ihrem Chef und ließ seinen abschätzigen Blick über sich ergehen.

„Nimm den Schal ab, hier drinnen ist es warm genug“, war sein einziger Kommentar. Sie nickte gehorsam. Dann begann sie umständlich, sich den Stoff vom Hals zu wickeln. Damit erreichte sie, was sie beabsichtigt hatte, ihr Chef drehte sich um und wandte sich anderen Dingen zu. Also ließ sie alles, wie es war, und band sich schnell ihre Schürze um. Sofort umgab sie der übliche intensive Geruch nach billigem Waschmittel, welcher die darunterliegenden Ausdünstungen von altem Frittierfett nie ganz zu überdecken vermochte.

Die Begrüßung durch ihre Kollegen fiel nicht wirklich freundlicher aus. Seit sie vor etwas über drei Monaten hier angefangen hatte, waren sie über ein „Hallo“ nie hinausgekommen. Sie war die Außenseiterin, die Neue. Außerdem war sie keine gelernte Kellnerin wie die anderen und verdiente somit weniger. Man sollte meinen, dieser Umstand versöhnte die anderen, doch weit gefehlt. Im Gegenteil, sie vertraten die Auffassung, dass sie als billigste Kraft im Vorteil war, falls Personal abgebaut werden sollte.

„Du kannst hinten übernehmen“, brummte ihr Corinna, die älteste von ihnen, entgegen. Kira nickte nur. Das kannte sie schon. Selbst wenn sie pünktlich war, bekam sie selten die begehrten Tische vorne im Restaurant, wo die Stammgäste saßen und reichlich Trinkgeld floss. Hinten, zwischen den Toiletten und der Küche, war so etwas wie ihr persönlicher Bereich. Dorthin setzte sich meistens erst dann jemand, wenn vorn alles besetzt war. Außer es kamen größere Gruppen, diese wurden fast immer nach hinten gesetzt.

Jetzt vor Weihnachten hatte Kira häufig viel zu tun, da das Restaurant für Weihnachtsfeiern sehr beliebt war. Für heute waren gleich zwei Firmen angekündigt. Kira hatte gerade noch genug Zeit, die Tische zusammenzuschieben und einzudecken, schon kamen die ersten Gäste, allesamt Vertreter einer großen Pharmafirma. Bald darauf war Kira vollauf damit beschäftigt, die Bestellungen aufzunehmen, Getränke und Essen zu servieren und den Tisch sauber zu halten. Weil fast gleichzeitig auch die andere Weihnachtsfeier begann, verflog die Zeit rasch. Bis Kira das erste Mal an der Bar etwas zu trinken für sich selbst holen konnte, war schon mehr als die Hälfte ihrer Schicht vorbei.

 

Jan 

„Lief doch ganz gut heute, oder?“ Jan rubbelte sich die Haare trocken. Die anderen waren schon beim Einpacken der Instrumente.

Hannes, der Gitarrist, lachte hohl. „Meinst du die halb leere Halle da draußen? Vermutlich war es ein Erfolg, dass sie nicht gleich wieder gegangen sind“, ätzte er. „Obwohl … du hast recht: Immerhin haben so nur die Hälfte der Leute mitbekommen, dass dein Mikro völlig übersteuert war.“ Hannes baute sich vor Jan auf, so dass sie sich nun direkt in die Augen starrten.

„Net schon wieder“, murmelte Max und schraubte die Snare Drum von seinem Schlagzeug. Er sah zu seinen Kollegen, die ebenfalls die Augen verdrehten.

„Und was sollte eigentlich dieses beschissene Solo nach der zweiten Bridge von Anna Bell?“ fragte Hannes.

Jan grinste ihn überheblich an. „Das, mein Lieber, war Kunst. Künstlerische Freiheit. Wir spielen live, das soll man auch merken!“

Hannes spuckte vor Jan auf den Boden. „Das war nicht Kunst, das war Scheiße!“

Aus dem Augenwinkel sah Jan, dass Max sich erhoben hatte und näherkam.

„Hannes, lass Jan in Ruh! Du hast auch net perfekt gespielt. Bei Only you and me warste die ganze Zeit einen Schlag hinter dem Takt.“

Jetzt drehte Hannes sich zu Max um und kniff wütend die Augen zusammen. „Ich war zu langsam? Ihr seid doch durch den Song gerannt, als würdet ihr einen verdammten Marathon gewinnen wollen. Du bist zweimal komplett raus gewesen. Wenn ich nicht deinen Job gemacht und den Takt gehalten hätte, wäre der Song total in die Hose gegangen.“

Max senkte betreten den Blick.

Hannes war nicht mehr aufzuhalten. Er wandte sich auch noch den beiden anderen zu.

„Und, Berni? Die Basslinie von Time has gone geht so.“ Er brummte ein paar Töne. „Ich habe ja keine Ahnung, was du da gespielt hast, aber Time has gone war es ganz sicher nicht.“

Bevor Berni auch nur Luft holen konnte, um sich zu verteidigen, drehte Hannes sich schon zu ihrem Keyboarder Klaas um.

„Wie oft haben wir diese Setlist eigentlich schon gespielt? Und warum kannst du dir dann verdammt noch mal nicht merken, dass wir nach der Pause mit Anna Bell anfangen und nicht mit My Love? Soll ich es dir auf den Arm tätowieren? Vielleicht auch als so hübsches Herz, wie Jan eines hat?“

„Jetzt mach aber mal halblang“, versuchte Berni einzuschreiten.

„Genau“, mischte Jan sich ein, „wer hat denn Drunken Bitch mit der alten Fender gespielt, so dass sich der Song angehört hat wie ein verdammter Discohit aus den Achtzigern?“

Hannes wirbelte herum. „Die Fender hat uns den Arsch gerettet. Ohne sie hätte ich gar keine Gitarre mehr gehabt, nachdem bei der Roten die E-Saite gerissen ist. Irgendjemand hat ja schließlich vergessen, die Ersatzsaiten für die Gitarren mitzunehmen.“ Er starrte mit hochrotem Kopf und verkniffenem Mund in die Runde. „Warum lasse ich mir das überhaupt bieten? Ihr seid blutige Anfänger. Eine Schülerband!“ Er spuckte das Wort aus, als sei es etwas besonders Ekliges. „Ich bin professioneller Gitarrist. Ich habe das studiert.“ Er sprach das Wort extra langsam und betont aus, als würden sie dessen Bedeutung nicht kapieren. „Und jetzt spiele ich hier in einer ehemaligen Schülerband die Rhythmusgitarre. Nee! Ihr könnt froh sein, dass ihr mich habt. Oder eher hattet. Denn ich bin raus!“ Er nahm seine Gitarre und legte sie unsanft in ihren Koffer.

Jan konnte ihn nur ungläubig anstarren. Er kannte die Auseinandersetzungen mit Hannes nun schon zur Genüge, der Ausstieg aus der Band war allerdings noch nie ein Thema gewesen.

Mit dem Gitarrenkoffer in der Hand stapfte Hannes wütend zum Ausgang, drehte sich aber kurz vorher noch mal um.

„Ja, da guckt ihr, was? Macht euren Scheiß von jetzt an alleine! Ihr werdet sowieso über kurz oder lang untergehen.“ Er sah einen nach dem anderen an. „Ihr könntet euch ja jetzt ins Catering setzen und bei einem Bier den Ernst der Lage diskutieren. Ach halt, nein! Das könnt ihr nicht. Ihr habt es ja nicht mal geschafft, auch nur eine Flasche Wasser für uns zu organisieren. Aber das ist jetzt nicht mehr mein Problem.“ Sie hörten ihn noch lachen, nachdem er aus dem Raum verschwunden war.

Jan konnte es nicht fassen. Er starrte Hannes hinterher und schüttelte immer wieder den Kopf, als müsse er einen störenden Gedanken loswerden. Was war da eben passiert? Es verging fast keine Woche ohne Streit mit ihrem Gitarristen. Seit Wochen gab es immer wieder größere und kleinere Unstimmigkeiten zwischen ihnen, aber normalerweise hielten sie den Rest der Band aus der Sache raus. Doch heute hatte Hannes auch die anderen direkt angegriffen. Jan ballte die Fäuste.

„Ich bin froh, dass er weg ist. Hoffentlich kommt er nicht zurück“, sagte Klaas. Ausgerechnet Klaas, der Spaßvogel der Band, der ewige Optimist. Jan sah von einem zum anderen. Wie es aussah, stimmten sie Klaasʼ Aussage zu. Das bedeutete Jan sehr viel und es ließ seine aufkommende Wut wieder abebben. Stattdessen begann sich ein Gedanke in ihm zu formen, der sich anfühlte, als würde ihm jemand langsam ein Messer in den Bauch schieben und dort genüsslich umdrehen. Es wäre eine Katastrophe, wenn Hannes wirklich nicht mehr zurückkäme. Ohne zweiten Gitarristen funktionierten ihre Songs nicht. Dann konnten sie einpacken. Das Projekt Drunken Soldiers endgültig begraben. Nach und nach räumten alle ihre Instrumente weg. Sie hingen ihren eigenen Gedanken nach, keiner sagte ein Wort.

„In einem Punkt muss ich Hannes aber rechtgeben.“, sagte Berni und Jan zuckte zusammen. Die anderen starrten ihn empört an, doch bevor auch nur einer von ihnen etwas erwidern konnte, redete er schon weiter: „Wir haben absolut nichts zu essen und zu trinken hier und ich sterbe vor Durst.“ Er lachte und nach und nach fielen auch die anderen mit ein.

„Genau. Ich habe vorhin schon auf dem Klo Wasser getrunken, weil nichts zu finden war“, pflichtete Klaas seinem besten Freund bei.

Jan stand entschlossen auf. „Richtig, Jungs, so geht das nicht weiter. Kommt! Bei einer Krisensitzung ist es besser, was im Magen zu haben.“

 

Zwanzig Minuten später saßen sie in einem mexikanischen Restaurant mitten in Mannheim, in dem sie noch nie zuvor gewesen waren, vor ihnen stand ein gutes Bier und das Essen war bereits bestellt. Schon sah die Zukunft nicht mehr ganz so düster aus.

„Ich glaube ja, dass Hannes spätestens übermorgen reumütig vor der Tür steht.“ Klaas sah sie an. Aus seinen Worten hörte Jan die Hoffnung, dass alles wieder gut werden könnte.

Doch ehe er etwas erwidern konnte, antwortete Berni: „Da bin ich anderer Meinung. Hannes ist wirklich zu weit gegangen. Und das weiß er auch.“

Max nickte heftig. „Genau, und falls der wirklich so bekloppt is und wieder angekrochen kommt, find ich, sollten ma ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. So’n Typ wie der vergiftet die ganze Band.“

Das Essen kam und beendete die aufkeimende Diskussion. Jetzt gab es Wichtigeres, als sich über eine Zukunft mit oder ohne zweiten Gitarristen Gedanken zu machen. Also langten alle kräftig zu und sprachen während des Essens nur wenig.

Jan bemerkte durchaus, dass die Kellnerinnen immer wieder in ihre Richtung sahen und kicherten, aber so lange sie sie in Ruhe essen ließen, war es ihm egal. Daran hatte er sich gewöhnt. Seitdem sie vor zwei Jahren mit My Love, My Life einen riesigen Erfolg gefeiert hatten, wurden sie zumindest hier in der Gegend häufig erkannt.

Nach dem Essen und der zweiten Runde Bier lenkte Jan das Thema noch einmal auf die Frage, wie sie nun mit Hannesʼ Weggang umgehen sollten.

„Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder er kommt zurück oder eben nicht. Wir brauchen für beide Fälle einen Plan. Die Songs funktionieren nicht mit nur einer Gitarre.“ Wenn sie überhaupt funktionieren würden, setzte er in Gedanken hinzu.

„Der soll bleiben, wo der Pfeffer wächst“, regte Klaas sich gleich wieder auf.

Diesmal bekam er Schützenhilfe von Max. „Ja, seh ich auch so! Dann suchen ma halt jemand Neues. Mit Hannes will ich auf jeden Fall nix mehr zu tun haben.“

Sogar Berni nickte.

 

Kira 

Auf der anderen Seite der Bar standen Corinna und Elke und unterhielten sich aufgeregt. Obwohl sie nicht absichtlich lauschte, bekam Kira einiges vom Gespräch ihrer Kolleginnen mit.

„Ich bin mir ganz sicher, dass sie es sind“, flüsterte Elke gerade Corinna zu. Beide kicherten und versuchten unauffällig zu einem Tisch zu schauen, der sich außerhalb von Kiras momentanem Blickfeld befand.

„Wahnsinn, du hast recht!“

„Ist er nicht süß heute?“ Elke seufzte übertrieben auf.

„Ich finde ihn eigentlich immer süß“, pflichtete Corinna ihr bei.

Langsam wurde Kira neugierig, von wem die beiden sprachen. Sie tat so, als müsse sie sich eine Serviette holen, und schielte vorsichtig in die Richtung, in der sie die geheimnisvollen Gäste vermutete.

Viel konnte sie nicht erkennen. Ganz am Fenster im vorderen Teil des Restaurants saßen vier Männer. Die zwei, die sie von vorn sehen konnte, sahen nicht spektakulär aus. Einer war weißblond, einer schwarzhaarig, beide schon älter als Kira und mit durchschnittlichen Gesichtern. Ob einer von denen sowohl Corinna als auch Elke in Verzückung geraten lassen konnte? Wohl eher nicht. Von den beiden anderen sah sie nicht viel. Obwohl der, dessen Profil sie zumindest erahnen konnte, sie an einen ehemaligen Schulkameraden erinnerte. Er war sehr kräftig gebaut mit deutlich definierten Muskeln, die durch seine fast durchgehenden Tattoos noch zusätzlich betont wurden. Einzig seinen Kopf hatte der Tätowierer ausgelassen und das, obwohl auf der Glatze noch viel Platz gewesen wäre. Von dem vierten konnte sie nur die blonden, etwas längeren Haare erkennen.

„Hey, hast du sie auch schon gesehen?“, fragte jemand neben ihr. Kira zuckte vor Schreck zusammen. Sie fühlte sich ertappt.

„Nein, wen?“, beeilte sie sich zu sagen, weil Elke sie immer noch fragend ansah.

Ungläubig kniff diese die Augen zusammen und nickte in Richtung des Tisches mit den vier Männern. „Na, die Jungs von Drunken Soldiers, die sitzen doch da.“

„Wer?“, fragte Kira nach. Sie hatte absolut keine Ahnung, wen oder was Elke meinte.

„Lebst du hinterm Mond oder was?“

„Was? Nein!“, empörte Kira sich. „Ich war nur sehr lange in Australien.“

„Sag ich doch.“ Elke grinste. „Hinterm Mond. Da kennt sie Drunken Soldiers natürlich nicht.“ Sie nickte Corinna zu, dann kicherten beide und ließen Kira einfach stehen.

Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Die Weihnachtsfeiern waren vorbei, die Tische im vorderen Bereich waren jedoch voll besetzt. In einem solchen Fall verlangte ihr Chef, dass sie vorne mithalf. Das Trinkgeld steckten sich natürlich die beiden anderen ein, denn kassieren durfte sie nicht. Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, vor allem weil sie meistens die heißen, schweren Teller und die Tabletts voller Getränke tragen musste.

Sie balancierte gerade ein solches Tablett durch die engen Gänge, als jemand laut ihren Namen rief. Erschrocken drehte sie sich um, verlor dabei das Gleichgewicht und ließ das Tablett vor den Augen aller Gäste fallen.

Es krachte und klirrte fürchterlich. Sie wagte gar nicht, nach unten zu sehen. Ihre Hose war durchnässt und am Boden schwamm eine riesige Pfütze aus Scherben, Bier, Wein und Cola. Vereinzelt waren Lacher und sogar ein Klatschen zu hören. Ihr wurde heiß und sie senkte betreten den Blick. Von ihren Kolleginnen war natürlich nichts zu sehen.

Als sie mit Handfeger, Schaufel und Lappen bewaffnet zurückkam, sah sie den tätowierten Glatzkopf aus der Vierergruppe am Boden knien und die Scherben aufsammeln. Das wurde ja immer peinlicher. Er schaute hoch.

„Kira, Mensch, sorry, echt! Ich wollt dich doch net erschrecken.“

„Max?“, fragte sie entgeistert. Konnte das wirklich sein? Sie hatte Max das letzte Mal kurz nach dem Abitur gesehen. Er hatte sich seit damals stark verändert, dennoch war er es – unverkennbar. Damals in der Schule hatte er zwar noch keine Tattoos, dafür aber Haare auf dem Kopf gehabt. Max, damals bester Kumpel von Mika. Früher hatte man Max nie ohne Mika angetroffen, doch sie wusste, dass die beiden nicht mehr befreundet waren. Stattdessen blickte Kira schräg hinter Max in ein Paar hellblaue Augen, die ihr mehr als nur bekannt vorkamen.

 

„Hallo, Kira, schön dich mal wiederzusehen.“ Jans Blick wanderte von ihren aufgelösten Haaren über ihre durchnässten Klamotten bis zu ihren Händen, mit denen sie den Lappen krampfhaft umklammert hielt. Ihr Herz setzte ein paar Takte aus und kam dann mit ein paar unregelmäßigen Stolperern wieder in Gang. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Was machte er hier?

Sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Er war erwachsen geworden. Ihr letztes Treffen war schon über vier Jahre her. Seine blonden Haare waren etwas kürzer als bei ihrer letzten Begegnung und sein Gesicht war an Wangen und Kinn kantiger geworden. Außerdem wirkte er kräftiger. Nicht dick, nein, eher sehnig. Er hatte deutlich definierte Arm- und Rückenmuskeln bekommen, über denen sich sein weißes T‑Shirt spannte. Er war von einem schlaksigen, großen Jungen zu einem attraktiven Mann gereift. All das nahm Kira mit einem einzigen Blick wahr.

„Hi.“ War das wirklich ihre Stimme? So hoch und dünn? Sie räusperte sich und wandte sich wieder der Sauerei am Boden zu.

Max hatte mittlerweile die meisten Scherben beseitigt. Ihr blieb nur noch, unter den Augen von Jan und den anderen Gästen, die neugierig zu ihr rüber sahen, die Flüssigkeit aufzuwischen. Ihren Blick hielt sie beinahe krampfhaft gesenkt. Warum musste ausgerechnet Jan sie so sehen? Wie sie als Kellnerin scheiterte.

Nachdem endlich alles aufgewischt war, floh sie beinahe nach hinten in Richtung Toilette, um das Putzzeug wegzuräumen. Sie sah noch immer nur nach unten, deshalb bermerkte sie ihren Chef erst, als sie bereits mit voller Wucht in ihn hineingelaufen war.

„Frau Baumeister!“ Wie konnte ein Name so anklagend klingen?

Unsicher sah sie ihn an. Er war ganz rot im Gesicht und schien nach den geeigneten Worten zu suchen. Ein ungutes Gefühl überkam sie.

„Wissen Sie, was Sie da gemacht haben?“ Seine Stimme klang unnatürlich gepresst.

„Es tut mir leid. Ich habe mich erschrocken und das Gleichgewicht verloren“, entschuldigte sie sich lahm.

„Oh nein, Sie haben nicht einfach das Gleichgewicht verloren!“ Bei seinen letzten Worten wackelte er übertrieben mit dem Kopf und malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. „Sie haben das Ansehen unseres Hauses beschämt! Und das nicht zum ersten Mal.“

Kira starrte ihn erschrocken und verständnislos an. Sie fand seine Reaktion reichlich überzogen, doch er war nicht zu bremsen.

„Und nicht nur das, Sie haben außerdem zugelassen, dass unsere prominenten Gäste Ihren Job erledigen!“

„Was?“ Kira wollte entgegnen, dass Max schließlich an dem ganzen Malheur schuld gewesen war und er ihr deswegen nur helfen wollte, da wurde ihr bewusst, was er eben gesagt hatte.

„Welche prominenten Gäste? Meinen Sie Max Meinert?“

„Ja“, entgegnete er heftig nickend. „Max Meinert, Klaas Köhler, Berni Stokkolm und vor allem: Jan Adler.“ Seine Stimme war immer lauter geworden, die Gespräche um sie herum verstummten. „Der Besuch von Drunken Soldiers war eine einmalige Gelegenheit für uns, mehr jüngere Gäste anzulocken. Aber nach Ihrer peinlichen Aktion kann ich das vergessen. Sie vergraulen mir ja die Gäste, Sie … Sie …“ Er schnappte nach Luft, sodass Kira schon Angst bekam, er würde hier und jetzt einen Herzanfall erleiden. Seine Worte drangen nur langsam in ihr Bewusstsein. Doch bevor sie auch nur über eine angemessene Erwiderung auf seine absurden Anschuldigungen nachdenken konnte, fand ihr Chef seine Sprache wieder: „Sie sind gefeuert!“

„Wie bitte?“, schnappte Kira empört zurück. Das konnte ja wohl kaum sein Ernst sein. Seine unmissverständliche Geste in Richtung Tür, kombiniert mit der Wut in seinen Augen und den zusammengekniffenen Lippen belehrten sie jedoch eines Besseren.

Ihre Hände fingen an zu zittern. Es fiel ihr schwer, den Knoten ihrer Schürze zu öffnen. Doch dann löste er sich und sie warf ihrem Chef die Schürze wütend vor die Füße. Im Hinausgehen schnappte sie sich ihre Jacke und ihre Handtasche, die Corinna ihr schadenfroh grinsend hinhielt, und eilte an den ihr nachstarrenden Gästen vorbei nach draußen. Erst als die Dunkelheit und die kalte Nachtluft sie umfingen, konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen. Was nun?

Ratlos ging sie ein paar Schritte bis zu einer kleinen Mauer und ließ sich dort auf den Boden sinken. Erst einmal in Ruhe nachdenken. Was konnte sie tun? Sollte sie sich entschuldigen und hoffen, dass ihr Chef seine Entscheidung rückgängig machte?

Nein! So tief war sie noch nicht gesunken. Andererseits hatte sie kaum finanzielle Reserven. Ohne diesen Job würde ihr in spätestens zwei Wochen das Geld ausgehen. Wie sollte sie dann die Miete und das Essen für sich und Tommy bezahlen? Ohne Geld konnte sie auch ihr Studium vergessen. Sie musste schließlich spätestens in drei Wochen die Anmeldegebühr für den Medizinertest bezahlen.

Mutlos vergrub sie ihr Gesicht in ihren Handflächen und schloss die Augen.

 

„Kira?“

Ihr Name drang durch ihre Gedanken wie durch Watte. Sie sah suchend auf. Als sie Jan auf sich zukommen sah, drehte sie schnell den Kopf weg. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Musste er heute ihre schlimmsten Seiten zu Gesicht bekommen?

„Kira, es tut mir echt leid.“ Max war ebenfalls mit herausgekommen. Dicht dahinter traten die beiden anderen aus der Tür. Heute blieb ihr wirklich nichts erspart. Sie zuckte nur mit den Schultern und blickte weiter krampfhaft in die andere Richtung. Vielleicht würden sie wieder gehen, wenn sie so tat, als hätte sie sie nicht bemerkt?

„Hat dich der Typ echt grad gefeuert?“

Offensichtlich half es nicht.

„Nur weil du ʼn Tablett fallen gelassen hast?“ Maxʼ Stimme klang ungläubig.

Nun konnte sie nicht länger so tun, als würde sie die vier nicht bemerken. Sie drehte sich mit feuchten Augen zu ihnen um. Bloß nicht heulen, Kira! „Macht euch keine Gedanken!“ Sie hoffte, dass ihre Stimme fest klang. „Der hatte mich sowieso schon länger auf dem Kieker. Der hat nur nach einer Gelegenheit gesucht, mich rauszuwerfen. Und heute war’s dann soweit. Ich finde schon was Neues.“ Sie sah zu Boden und kickte ein Steinchen weg. Sie wollte nur noch weg hier und stand deshalb auf. Doch an ein Entkommen war nicht zu denken, denn Jan stellte sich ihr in den Weg.

„Können wir etwas für dich tun?“ Seine sanften Worte verstärkten das Gefühl in Kira, gleich losheulen zu müssen. Sie schüttelte den Kopf, aus Angst, dass Worte den Damm brechen lassen würden.

„Komm schon.“ Er ließ nicht locker. „Schließlich sind wir ja nicht ganz unbeteiligt an deiner Situation. Hey, wir sind Rockstars, wir könnten reingehen und ihm drohen, seinen Laden kurz und klein zu schlagen, wenn er dich nicht wieder einstellt“, schlug er augenzwinkernd vor.

Kira lachte verzweifelt. Dabei verließ eine Träne ihr Auge, die sie unwirsch mit dem Handrücken wegwischte. Erfolglos suchte sie nach einem Taschentuch, schließlich nahm sie von Max ein Tempo an und schnäuzte sich geräuschvoll.

„Es war schön, euch mal wiederzusehen. Aber jetzt muss ich nach Hause.“

Sie wollte sich an Jan vorbeidrücken, doch der hielt sie am Arm fest. Seine Berührung durchzuckte sie wie ein Stromschlag. Da er um einiges größer und stärker war als sie, versuchte sie gar nicht erst, sich loszureißen, sondern sah ihn nur vorwurfsvoll an.

„Pass auf, ich habe eine Idee.“ Seine ruhige Stimme stand ganz im Gegensatz zu ihrem aufgewühlten Innenleben. „Ich gebe dir meine Telefonnummer, dann kannst du mich jederzeit anrufen, falls du Hilfe brauchst, okay?“

Sie zuckte mit den Schultern und nickte unbeholfen. Wenn er sie dann in Ruhe ließe, war sie fast mit allem einverstanden. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und tippte die Nummer zum Entsperren ein. Erst nach einigem Suchen fand sie ihr Adressbuch. Jan schaute sich ihre Bemühungen eine Weile belustigt an, dann nahm er ihr das Gerät sanft aus den Händen.

„Lass mich mal.“

Kira wollte protestieren, aber nicht mal mehr dafür reichte ihre Kraft. Sie konnte ihm nur noch dabei zusehen, wie er ein paar Mal auf dem Display rumdrückte – anscheinend vergeblich – und laut fluchte. Sie wollte ihm das Handy abnehmen, doch er hatte es schon an den schwarzhaarigen Mann weitergegeben, den Kira nicht kannte. Dieser schaute sich das verfluchte Ding nur ganz kurz an, drückte zwei Tasten und hielt es Jan schon wieder hin, der triumphierend etwas eintippte. Kurze Zeit später bekam sie das Handy zurück.

„Unser Klaas hier bekommt noch jedes elektrische Gerät klein“, erklärte er mit einem Nicken in Richtung ihres Technikgenies.

„Wie man damit anruft, weißt du aber?“, fragte Jan augenzwinkernd.

Sie zog eine Grimasse und steckte ihr Telefon weg. Dann endlich ließ er sie vorbei. Sie hob nur kurz zum Gruß die Hand und machte dann, dass sie wegkam. Bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle war es nicht weit, doch mit den bohrenden Blicken der vier im Rücken hatte sie das Gefühl, als würde sie stundenlang laufen.

 

Jan

Jan sah ihr nach, bis sie um die nächste Ecke verschwunden war. Er schüttelte den Kopf, als er daran dachte, wie sie vor ihm in einem Haufen Scherben und verschüttetem Bier mit hochrotem Kopf gekniet und ihn angesehen hatte. Er hatte diesen Blick beinahe fühlen können.

Er schaute auf sein Handy. Auf dem Display stand die Meldung über einen verpassten Anruf. Zufrieden speicherte er die übertragene Nummer unter Kiras Namen. Er war sich selbst noch nicht ganz klar darüber, warum er das gemacht hatte.

Er lächelte vor sich hin. Das war also sein Wiedersehen mit Kira gewesen. Ganz anders als er es sich immer vorgestellt hatte, aber dennoch irgendwie befriedigend. Genauso, inmitten der Scherben ihrer Beziehung, hatte er sich vor fünf Jahren gefühlt, als sie völlig unerwartet mit ihm Schluss gemacht hatte, nur um danach mit Mika Ehrenbach zu gehen.

„Kommste mit, oder was?“, riss Maxʼ Stimme ihn unsanft aus seinen Gedanken. Er starrte in drei erwartungsvolle Gesichter. Leider hatte er keine Ahnung, wohin er mitkommen sollte. Doch egal, wo die anderen hinwollten, ihm stand nur noch der Sinn nach seinem Bett. Er schüttelte den Kopf. „Nee, Jungs, lasst mal. Ich bin völlig alle. Ich geh lieber nach Hause.“

Er verabschiedete sich von allen mit kurzem Handschlag und verschwand dann in Richtung Straßenbahn. Mit etwas Glück würde er dort sogar noch Kira über den Weg laufen.