Leseprobe Verliebt in den Trauzeugen

1

Der klirrend kalte Nordwind blies Catherine Lorentz ins Gesicht, als sie die Haustür hinter sich zuzog und vorsichtig den vereisten Weg entlang zur Frankfurter Straße ging. Bis zur Straßenbahnhaltestelle waren es nur wenige Hundert Meter. Von da aus konnte man den Weinberg sehen. Die felsige Anhöhe ragte inmitten der Kasseler Innenstadt in den wolkenverhangenen, diesigen Morgenhimmel, der wenig Hoffnung auf einen sonnigen Wintertag machte. Nur der Frost, der die hässlichen, kahlen Stellen der Dächer und Straßen, die nicht mit Schnee bedeckt waren, mit einer trügerisch pelzigen Oberfläche überzogen hatte, verlieh der Szenerie etwas Märchenhaftes. Allmählich erwachte die Stadt.

Ohne Babs’ Anruf hätte Catherine keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Babs hieß eigentlich Barbara und war inzwischen eine gestandene Rechtsanwältin, doch für Cathi – so wurde sie von den meisten gerufen – war sie ihre allerliebste Freundin Babs, mit der sie befreundet war, seit sie denken konnte.

Es musste wichtig sein, wenn sich Babs mit ihr zum Frühstück treffen wollte. An einem Samstag. Wo ihr das Ausschlafen am Wochenende doch so heilig war. Cathi schob die Hände tiefer in ihre Taschen und ärgerte sich, dass sie in der Eile vergessen hatte, Handschuhe einzustecken. Es war so eisig, dass der gefrorene Schnee bei jedem Schritt unter ihren Stiefeln knirschte. Die Kälte ließ auch den Februar noch nicht aus ihren Krallen.

Cathi konnte sich nicht erinnern, wann es zuletzt eine so langanhaltende Kälteperiode gegeben hatte. Im September stand nun schon ihr dreißigster Geburtstag an, doch bisher hatte sie größere Schneemengen nur mit dem alljährlichen Skiurlaub in Österreich verbunden, den die Familie meist zusammen antrat.

An der mit durchsichtigem Kunststoff überdachten Haltestelle angekommen, blickte sie auf den immer dichter werdenden Straßenverkehr und atmete tief durch. Dreißig. Die Zahl lag ihr schwer im Magen. Nicht wegen des Älterwerdens, nein, das war nicht das Problem. Sie hasste es einfach nur, im Mittelpunkt zu stehen. Doch genau das würde passieren, wenn sie eine größere Party geben würde. Und eine größere Party war das, was alle von ihr erwarteten. Wieso konnte niemand verstehen, dass ihr an dem Brimborium nichts lag?

So ist das eben mit runden Geburtstagen, die feiert man, hatte ihre Mutter, Cornelia Lorentz, zu dem Thema nur lachend gemeint. Ich bin aber nun mal nicht so, hatte sich Cathi vergeblich zu rechtfertigen versucht. Ihre Mutter liebte es, zu feiern und Gäste einzuladen. Vor allem genoss sie es, solche Events zu planen, um sie dann regelrecht zu zelebrieren. Da war es nur logisch, dass sie eine Geburtstagsparty für gottgegeben hielt. Wenn sie einlud, verdiente jedes schlichte Kaffeetrinken schon den Namen Fest. Cathi kam in der Hinsicht so gar nicht nach ihrer Mutter. Und nun schlug sich auch noch Babs auf deren Seite und blies mit ihr in ein Horn. Nervig! Absolut nervig. Und alles nur, weil sie dreißig wurde?

Glücklicherweise blieb Cathi bis September noch ein bisschen Zeit, um sich eine Strategie gegen den Feier-Wahnsinn auszudenken. Sieben Monate sollten dafür ja wohl reichen. Ihr stand der Sinn eigentlich viel mehr nach Verreisen. Spontan fiel ihr Südfrankreich ein. Bilder und Erinnerungen von einem wunderschönen Urlaub während der Oberschulzeit tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Schöne und weniger schöne. Vor allem bittersüße.

Gedankenverloren ging sie vor der menschenleeren Haltestelle auf und ab, wo der Wind leise durch die offenen Spalten der Seitenwände pfiff. Allein der Gedanke, sich auf die kalten Plastiksitze setzen zu müssen, ließ sie frösteln. Lieber zählte sie Asphaltflecken, die frei getreten zwischen Rollsplitt und vereister Schneedecke hervorlugten. Dabei kam ihr die Geburtstagsdebatte mit Babs wieder in den Sinn.

„Mensch, jetzt sei kein Frosch. So eine Party macht doch Spaß. Ich helfe dir beim Organisieren“, hatte Babs beschwörend auf sie eingeredet.

„Aber du kennst mich, ich bin nicht gerade die Ausgeburt einer Stimmungskanone“, hatte Cathi gekontert.

„Du musst doch nicht selbst den Clown geben. Dafür gibt es andere.“

„Meinst du, das passt zu mir? Auf gar keinen Fall möchte ich eine Party, auf der die einzigen Highlights die Menükarte und das anschließende Essen sind.“

„Blödsinn“, hatte Babs sich entrüstet und Cathi erst gar nicht mehr zu Wort kommenlassen. „Wenn ich dir bei der Planung helfe, wird es so ein Seniorentreffen nicht geben, da kannst du dich drauf verlassen.“

„Okay, ich denke darüber nach“, hatte Cathi sich schließlich breitschlagen lassen.

„Cathi, bitte! Findest du nicht auch, dass es langsam an der Zeit ist, einen Schlussstrich unter die Akte Kevin zu ziehen? Er ist es nicht wert, dass du dich so verkriechst. Ich finde, der runde Geburtstag wäre da eine gute Gelegenheit.“

Aus Babs’ Worten hatte aufrichtige Besorgnis geklungen.

Cathi seufzte.

Dass ihre Freundin mit ihren Bedenken mehr als richtiglag, wusste sie selbst, schließlich hörte sie von ihren Eltern auch nichts anderes. Bestimmt würde sie sich andersherum ebenso verhalten. Ehrensache unter besten Freundinnen. Doch sie fand einfach keinen Weg aus dem Dilemma. Noch immer verspürte sie nicht den geringsten Drang, abends wieder um die Häuser zu ziehen, obwohl das Drama mit Kevin nach mehr als zwei Jahren eigentlich längst verjährt sein sollte. Sicher, der Schmerz war überwunden, der Katzenjammer überstanden – nur die Angst vor erneuter Verletzung und Enttäuschung, die war geblieben. Als Naturwissenschaftlerin liebte Cathi es, die Dinge zielstrebig und strategisch anzugehen. Doch für eine derartige Krise gab es keinen Überwindungsplan, den man taktisch nach Punkten abarbeiten konnte. Allein diese Einsicht war für sie schwer genug.

Das Donnern der heranfahrenden Straßenbahn brachte sie zurück in die Gegenwart. Über sich selbst verwundert, fragte sie sich, weshalb sie sich ausgerechnet heute Morgen mit diesem leidigen Thema beschäftigte.

Es musste etwas mit Babs’ Nachricht zu tun haben, die sie ihr auf der Mailbox hinterlassen hatte. Ja natürlich. Es war die Art gewesen, wie ihre Stimme geklungen hatte. Ihre Stimme. So aufgeregt und eindringlich. Genauso hatte sie auch wegen der Geburtstagsparty auf sie eingeredet.

 

Du musst unbedingt kommen! Es ist superdringend. Ich habe Neuigkeiten. Bitte sag alles andere ab, ja!? Am Samstag um elf im Café Paula. Ich freu mich. Bis dann.

Die Straßenbahn hielt und Cathi stieg in der Mitte ein. Obwohl die Waggons gut besetzt waren, fand sie noch einen freien Platz hinter einem blonden, schlaksigen jungen Mann, der mit geschlossenen Augen und Ohrstöpseln im Sitz hing und laut Hip-Hop-Musik hörte, zu der er unablässig den Kopf bewegte. Der Typ, groß, dünn, mit wirren blonden Haaren, erinnerte sie an ihren Laborkollegen Stefan. Wohlgemerkt Doktor Stefan Lugner. Anfang dreißig, einerseits verschlossen und wortkarg, andererseits pedantisch und verbissen. Es war wirklich kaum zu glauben, dass sich hinter dieser Fassade ein promovierter Doktor der Chemie verbarg. Ein Genie – ein wandelndes Lexikon. In seinem Fach machte ihm keiner etwas vor. Cathi hatte es aufgegeben zu ergründen, wie solche extrem verschiedenen Wesenszüge in einer Person nebeneinander existieren konnten.

Während die Straßenbahn sich ruckelnd in Bewegung setzte, vergrub Cathi die Hände in den Jackentaschen und starrte gedankenverloren nach draußen. Weißgepuderte Bäume und Sträucher zogen vorüber, während sie schwerfällig den Hügel der Innenstadt erklommen. Kurz vor der Haltestelle, an der sie aussteigen musste, warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und freute sich, weil ihr noch ein wenig Zeit blieb, um ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. Süchtig nach Büchern, konnte sie nicht einmal in die Stadt gehen, ohne eine Buchhandlung zu besuchen.

Wenig später erreichte sie das lichtdurchflutete Einkaufszentrum in der Königsstraße. Warme Luft blies ihr unangenehm ins Gesicht, als sie eilig durch das gläserne Portal lief. Mehrere Etagen voller schicker Geschäfte luden zum Shopping ein. Doch das war nicht, was Cathi interessierte. Als ihre Schritte auf dem Teppich der Büchergalerie verstummten, fühlte sie sich sofort wie zu Hause. Nur mal kurz stöbern und schauen, was es Neues gab. Zielstrebig lief sie zu den Biografien. Sie war fasziniert von den Lebensgeschichten berühmter Wissenschaftler, und Albert Einstein war gerade ihr erklärter Favorit. Wobei sie sich weniger für seine Entdeckungen interessierte, die sie allesamt kannte, sondern vielmehr von seiner philosophischen Ader begeistert war. Sie fand, was sie suchte, und steckte im nächsten Augenblick auch schon mit der Nase zwischen den Seiten des Wälzers. Die Welt um sie herum versank. Erst, als der Geräuschpegel im Laden zunahm, riss Cathi erschrocken den Kopf hoch und sah auf die Uhr. Zwanzig vor elf. Erleichtert atmete sie auf. Puh, noch mal Glück gehabt.

Eilig stellte sie den dicken Einband wieder zu den anderen und rief sich den Anblick ihres Schreibtischs daheim in Erinnerung. Mindestens fünf ungelesene Bücher lagen dort aufgestapelt, inmitten von Zeitschriften und Ausdrucken aus dem Internet. Nicht zu vergessen die Bände, die sie in die Stadtbibliothek zurückbringen musste. Sie seufzte. Erst vor einem Monat hatte sie ein neues Regal aufgestellt. Babs zog sie regelmäßig damit auf, sie würde eine Bücherei mit Küche und Bad bewohnen. Notgedrungen hatte sie sich deshalb selbst ein Versprechen abgerungen. Keine weiteren Bücher mehr, auch wenn es noch so schwerfiel.

Voller Vorfreude darauf, Babs zu treffen, erreichte sie im Laufschritt das gut besuchte Café Paula.

Gleich im Eingangsbereich, wo sich eine zimmergroße Nische befand, die eher einer Bäckerei als einem Café glich, wurde sie ausgebremst. Vor dem Tresen hatte sich eine Schlange gebildet, an der ein Vorbeikommen nur schwer möglich war. Neben frischen Backwaren gab es dort auch Kaffee und Kuchen zum Mitnehmen zu kaufen, was offensichtlich viele in Anspruch nahmen. Dummerweise musste man durch diesen Bereich, um in das angeschlossene Café zu gelangen.

Sich den Schal vom Hals lösend, zwängte sie sich mühselig an den wartenden Leuten vorbei und kam nur zentimeterweise voran. Ein Blick durch die gläserne Tür zum Café zeigte, dass der Andrang dort auch nicht geringer war. Aromatischer Duft von frischem Kaffee und warmer Hefe drang ihr in die Nase und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen, worauf sich auch ihr Magen prompt geräuschvoll meldete.

Plötzlich berührte sie jemand von hinten an der Schulter und rief ihren Namen. Überrascht drehte sie sich um und blickte einem gut aussehenden Mann in die blauen Augen, der ein Päckchen Kaffee und eine Tüte Brötchen in den Händen hielt. Sie kannte ihn nicht. Groß, blond und vor Kraft strotzend, stand er vor ihr und sah sie abwartend an. Nein, solche Männer kannte sie wirklich nicht.

„Du weißt nicht, wer ich bin, stimmt’s?“, schmunzelte er.

Irgendwie klang seine Stimme vertraut. Cathi zermarterte sich das Hirn, kam aber beim besten Willen einfach nicht drauf, woher. Bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Nein, tut mir leid. Keinen Schimmer.“

Der athletische Unbekannte nahm den Einkauf in eine Hand, fasste sie mit der anderen am Arm und zog sie zur Seite, weil sie den Durchgang blockierten. Eine Mutter, die mit zwei kleinen Kindern nun an ihnen vorbeikam, bedankte sich. An einer ruhigeren Stelle blieb er stehen und grinste sie an. „Ich bin’s, Malte – Malte Vogt, erinnerst du dich nicht?“

Cathi zog die Stirn kraus. Malte? Bilder aus ihrer Kindheit tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Natürlich, der Schulfreund ihres älteren Bruders Cedric. Sie starrte ihn ungläubig an – von Kopf bis Fuß und zurück, was er schmunzelnd über sich ergehen ließ. Lieber Himmel, es war einfach nicht zu glauben, dass aus dem kleinen, dünnen Malte ein solcher Kerl geworden war. Was war denn heute nur los? Erst wollte Babs mit ihr an einem Samstagmorgen frühstücken gehen und dann traf sie auch noch auf Malte. Im Geiste sah sie ihn als Schulkind vor sich. Den ständigen Begleiter ihres Bruders. Er war gern und oft bei ihnen gewesen. So oft, dass man den Eindruck bekommen konnte, dass er lieber dort als zu Hause war.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Hin und wieder telefoniere ich noch mit Cedric.“ Er blinzelte schuldbewusst. „Aber in letzter Zeit war ich ziemlich beschäftigt.“

„Wahnsinn!“, brachte Cathi endlich hervor und schlug sich gleich darauf die Hand vor den Mund. „Entschuldige … ich hätte dich echt nicht wiedererkannt. Du hast dich ja total verändert.“

Malte lachte und nickte. Diese Reaktion schien er gewohnt zu sein. „Du dagegen gar nicht. Na ja, natürlich sieht man, dass du ein bisschen älter geworden bist. Aber ansonsten …“

„Ja, ein bisschen älter ist gut. Das sind mindestens zehn Jahre, in denen wir uns nicht gesehen haben.“

„Elf, um genau zu sein. Ich bin sofort nach meiner Zivi-Zeit nach Köln gegangen. Und du? Wie ging’s bei dir nach der Schule weiter?“

„Gleich nach dem Abi nach Marburg. Und jetzt arbeite ich in Melsungen.“

„Bei dem Chemiekrösus?“

„Könnte man so sagen, aber ganz trifft’s das nicht. Die haben mehr mit Medizin als mit Chemie zu tun, aber ja, wenn du es so nennen willst, dann bei dem Chemiekrösus. Und du? Was treibt dich heute Morgen hierher?“

„Ich bin bei Wiebke. Du kennst meine Schwester doch noch, oder?“

„Na klar. Wir waren doch zusammen in der Musikschule. Und, was ist aus ihr geworden?“

„Sie studiert Musik. Geige und Klavier, hier am Konservatorium. Ist fast fertig.“ Er hielt inne und verlagerte den Kaffee und die Tüte von einem Arm auf den anderen. Ihr fielen seine Hände auf. Kräftige Männerhände, denen man zutraute, dass sie zupacken konnten. Wie war das möglich, wo er doch früher so schmächtig und zart gewesen war?

„Ich komme wieder zurück nach Kassel. Stecke mitten in Verhandlungen, deshalb bin ich bei Wiebke.“

Sie sah ihm in die Augen. „Oh, schön. Was machst du eigentlich jetzt? Tut mir leid, aber ich hab vergessen, welche Studiengänge du gewählt hast. Wolltest du nicht auch Lehrer werden, so wie deine Eltern?“ Mist. Falsche Frage, erkannte sie, als sich auf Maltes Stirn Falten zeigten und sie daran denken musste, wie sehr er es stets vermieden hatte, über seine Familie zu sprechen.

„Nee, ganz sicher nicht.“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Das hätten sie gern so gehabt, ja, aber … nein, unmöglich, das ist nix für mich. Ich hatte mich für BWL und Sport eingeschrieben.“

„Das sieht man“, platzte es aus Cathi heraus und sie lachte unwillkürlich auf. „Es scheint die richtige Wahl gewesen zu sein. Verrätst du mir, was du vorhast?“

Er ging auf ihr Lachen ein. Jetzt, wo er über seine Pläne sprach, entspannten sich seine Züge wieder. „Kein Problem. Wenn alles klappt, übernehme ich ein großes Studio. Fitnessstudio meine ich. Es gehört zu einer Kette, die in ganz Deutschland vertreten ist. Da geht es um mehr als nur Fitness. Vor einem Jahr habe ich noch die Ausbildung zum Physiotherapeuten abgeschlossen, damit ist das Paket rund, und ich kann endlich loslegen.“

„Respekt!“ Sie sprach nicht weiter, weil sie einen vorbeigehenden Mann zu seiner Frau sagen hörte: „Es ist gerade mal elf, da werden wir ja wohl noch einen Platz finden. Davon aufgeschreckt, schob sie sich hastig den Mantelärmel nach oben und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Tatsächlich. Elf Uhr. Mit einem Lächeln sah sie zu Malte auf. „Tut mir leid, ich würde gerne noch ein bisschen mit dir über alte Zeiten reden … aber ich bin mit Babs verabredet. Sie wartet garantiert schon. Erinnerst du dich an sie?“

„Na klar, die schöne Barbara.“ Er zwinkerte und hob die Hand. „Grüß sie von mir … und ganz sicher werden wir noch Gelegenheit haben zu quatschen. Also dann. Man sieht sich.“

Cathi nickte. „Ja, das denke ich auch. Tschau.“

Unterdessen war der Durchgang etwas freier geworden, sodass sie zügiger vorankam. Während sie sich den braunen Kaschmirschal vom Hals löste, hielt sie Ausschau nach ihrer Freundin, die sie vorn bei den Fensterfronten vermutete. Babs liebte es, Leute zu beobachten.

„Hier bin ich!“, hörte sie die vertraute Stimme stattdessen aus dem hinteren Teil des Cafés und fand Babs schließlich an einem Zweiertisch.

„Was ist denn mit dir los, war kein Fensterplatz mehr frei?“

Cathi hing Mantel und Schal an einen Ständer und setzte sich Babs gegenüber.

„Vorn war alles schon besetzt. Außerdem wollte ich mit dir allein am Tisch sitzen.“

„Tut mir leid, dass ich ein bisschen spät bin. Aber du errätst nicht, wen ich eben getroffen habe.“

Babs sah sie abwartend an.

„Malte Vogt. Er wollte gerade raus, als ich reinkam. Hat Brötchen geholt.“ Cathi schüttelte den Kopf. „Du würdest ihn nicht wiedererkennen. Wirklich! Ich kann’s selbst noch nicht fassen, wie sehr er sich verändert hat.“

„Wie denn?“

„Oh … er strotzt nur so vor Kraft, ist durchtrainiert, als wäre er ein Spitzensportler, und ist mehr als einen Kopf größer als ich. Wahnsinn. Ich musste früher nie zu ihm aufschauen und …“ Cathi zwinkerte. „Er sieht verdammt gut aus. Du weißt doch noch, wie er damals ausgesehen hat, oder?“

Babs nickte. „Ziemlich dünn und schmächtig. Eher das Gegenteil von attraktiv.“

„Ja, genau, so eine Entwicklung hätte ich ihm nie zugetraut.“ Cathi sah sich nach der Bedienung um, bevor sie sich wieder Babs zuwandte. „Aber jetzt zu dir. Erzähl! Du klangst so aufgeregt.“ Gespannt betrachtete sie die Freundin und wunderte sich nicht, dass Babs wie immer fantastisch aussah. Sie würde selbst im Kartoffelsack und nach einem Sechzehnstundentag noch so aussehen. Doch Neid empfand Cathi deswegen nicht. Höchstens den Wunsch, ein ebenso untrügliches Gespür für das richtige Styling zu haben. Dabei trug Babs nichts Außergewöhnliches – also keine Haute Couture –, sondern eher sportlich-elegante Kleidung, die farblich abgestimmt ihren Typ perfekt unterstrich. Eben ein echter Hingucker.

Cathi hatte nach zahlreichen Fehlkäufen für sich beschlossen, in Sachen Mode nicht mehr zu experimentieren. Stattdessen beschränkte sie sich auf zeitlose Kleidung, bei der man nicht viel falsch machen konnte.

Trotz der augenscheinlichen Unterschiede verband die beiden Frauen seit dem Kindergarten eine innige Freundschaft. Cathi, auch schlank, aber nicht ganz so groß wie Babs, bändigte ihre dicken, dunklen Locken aus praktischen Gründen meistens in einem geflochtenen Zopf, was aber den Nachteil hatte, dass ihr schmales Gesicht mit den großen braunen Augen strenger und ernster wirkte, als sie eigentlich war. Hinzu kam, dass ihre Arbeit in der Forschung sterile Kleidung und eine Kopfhaube erforderte, was ihr ohnehin entwicklungsbedürftiges Modebewusstsein ebenfalls nicht sonderlich förderte. Babs dagegen – als Rechtsanwältin – musste ihrer Garderobe von Haus aus mehr Beachtung schenken.

„Was hast du denn jetzt wieder für einen ernsten Blick drauf, Frau Doktor?“

Cathi wackelte mit dem Zeigefinger und setzte ein Lächeln auf. „Stopp, Frau Rechtsanwältin, ich hatte dir eine Frage gestellt, nicht umgekehrt.“

„Da kommen wir gleich drauf.“ Babs schüttelte den Kopf. „Aber vorher will ich wissen, was du gerade gedacht hast, so ernst, wie du ausgesehen hast.“

Cathi machte eine wegwerfende Handbewegung. „Lass uns lieber was zu essen bestellen. Ich hab Hunger. So, und jetzt weißt du, warum ich vielleicht ein bisschen ernst geschaut habe. Mein Magen knurrt.“ Sie wollte keine schlechte Stimmung aufkommen lassen, nur weil sie seit Neuestem alles und jedes infrage stellte – allem voran die eigene Person –, selbst wenn es dabei nur um so etwas Banales wie den Kleidungsstil ging.

„Keine Sorge. Die sind schnell hier.“ Babs nickte der Kellnerin zu, die in ihrem Bereich bediente, und hob den Daumen. „Also, jetzt schieß los. Wo drückt der Schuh?“

Cathi, die darauf wartete, dass die Bedienung an ihren Tisch kam, wunderte sich, weil die in Richtung Essensausgabe abschwenkte. „Äh, ich wollte was bestellen. Wieso läuft sie denn jetzt wieder weg?“

„Brauchst du nicht. Schon erledigt. Sie kommt sofort wieder. Ich weiß doch, was du magst … und jetzt hör auf, mir auszuweichen, das schaffst du doch nicht.“

„Ach was! Du hörst die Flöhe husten. Es ist nichts, wirklich …“ Cathi verzog resigniert den Mund, als sie Babs’ unerbittliche Miene bemerkte. „Na gut, wenn du es unbedingt wissen musst … ich fühle mich in deiner Gegenwart immer ein bisschen wie ein Altkleiderpulli, der sich in eine Filiale von Dolce & Gabbana verirrt hat.“ Babs quittierte die Aussage mit einem Du-spinnst-doch-Blick, worauf Cathi aber nicht näher eingehen konnte, weil die Kellnerin zwei große Tassen Milchkaffee servierte. „Nichts Neues, oder?“ Schulterzuckend verrührte sie den cremigen Kaffeeschaum und starrte auf den Löffel. „Du siehst, es gibt keinen Redebedarf.“ Sie blickte langsam auf. „Zufrieden? Und jetzt reden wir über dich! Deswegen bin ich nämlich hier.“ Sie unterstrich ihre Worte mit einer rigorosen Geste. „Erzähl mir lieber, was los ist. Am Telefon hast du’s ja ziemlich spannend gemacht.“

„Altkleidersammlung! Du spinnst doch … und wie oft habe ich schon angeboten, mit dir einkaufen zu gehen?“

„Passt nie so richtig, hab einfach zu viel zu tun“, seufzte Cathi und wich Babs’ kritischem Blick aus.

Während sich Babs im Stuhl zurücklehnte, nahm sie Cathis Garderobe – einen beigefarbenen Kaschmirpulli und eine klassische Jeans – in Augenschein. Cathi ahnte, was ihrer Freundin durch den Kopf ging und wusste, dass die Farbe des Pullis nicht sonderlich vorteilhaft war. Sie stand ihr nicht, machte sie fahl, was ihr an diesem Morgen im Bad selbst aufgefallen war. Aber das weiche Material gefiel ihr so gut, dass sie darüber hinweggesehen hatte. Und der Pulli war teuer gewesen, sehr teuer sogar, weshalb es ihr schwerfiel, ihn einfach zu entsorgen.

„Okay. Lassen wir das vorerst. Das bringt uns nicht weiter.“ Babs’ Miene änderte sich augenblicklich. Ein Strahlen trat in ihre Augen.

Gott sei Dank.

Mit einem verschmitzten Lächeln beugte sie sich über den Tisch, wurde jedoch von der Kellnerin unterbrochen, die zu Cathis großer Freude mit einem Tablett herbeigeeilt kam. Vor ihren immer runder werdenden Augen breitete sie köstlich duftende Pfannkuchen mit Früchten, Croissants und verschiedene Sorten Marmelade aus.

„Voilà, ich dachte, mit einem französischen Frühstück kann ich dich glücklich machen.“

„Oh, du bist so ein Schatz … ja, danke, und wie.“

„So“, startete Babs einen neuen Anlauf, als die Bedienung fort war, und fischte sich ein Croissant aus dem Brotkörbchen. „Nick hat mir einen Antrag gemacht. Wir wollen im Juni heiraten.“

„Wie schön!“ Cathi klatschte in die Hände und vergaß für einen Moment ihren Hunger. „Das freut mich für dich. Ah“, grinste sie hintergründig und nahm sich einen der fluffig gebackenen Pfannkuchen. „Jetzt verstehe ich …“

„Was verstehst du?“

„Na ja, deine Stimme klang so aufgeregt … und dann das Frühstück an einem Samstagmorgen.“ Sie schmunzelte. „Jeder, der dich ein bisschen besser kennt, wäre darüber erstaunt.“

„Ach so, deswegen.“ Babs winkte ab. „Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, wie selten ich am Wochenende noch ausschlafe.“ Ein diebisches Grinsen zog über ihr Gesicht. „Nick ist kein Langschläfer, wenn du verstehst, was ich meine. Und ich lasse mir nur ungern was Gutes entgehen. Das ist der Grund.“

Um Babs kein schlechtes Gewissen zu machen, verzog Cathi die Lippen zu einem verständnisvollen Lächeln und streute Zucker und Zimt über ihren Pfannkuchen. Dabei vermied sie es, Babs anzusehen.

„Oh, ich bin so ein … entschuldige, ich sollte besser denken, bevor ich den Mund aufmache …“ Betroffen schwieg Babs.

Cathi schüttelte kaum merklich den Kopf. „Wieso?“, bemühte sie sich um Gelassenheit und unterdrückte die lähmende Resignation, die sich über sie legen wollte.

„Das weißt du genau … ich muss ja nicht auch noch Öl ins Feuer gießen.“ 

„Nein!“, stoppte Cathi ihre Freundin. „Bitte, lass uns aufhören. Es ist schließlich nicht deine Schuld und es gefällt mir nicht, wenn du mich in Watte packen willst.“ Sie wollte definitiv heute nicht über ihr unbefriedigendes Singledasein sprechen und setzte ihre Alles-okay-ich-will-jetzt-nicht-darüber-reden-Maske auf. „Erzähl mir lieber von dem Antrag. Es interessiert mich doch, was sich Nick hat einfallen lassen.“

„Gut, ich akzeptiere das jetzt so, aber wir reden da noch mal drüber.“ Babs atmete durch und nahm einen Schluck Milchkaffee. „Also, dann zu Nick. Du erinnerst dich, dass wir mein Weihnachtsgeschenk eingelöst haben? Du weißt schon, der Kurztrip in den Harz, in ein Romantikhotel.“ Ein warmes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Wir waren letztes Wochenende da. Beim Candle-Light-Dinner hat er mir einen Antrag gemacht. Ehrlich. Das hat mich ganz schön umgehauen.“

„Wirklich? Du hast nicht damit gerechnet?“

„Nein. Er hat bisher nie vom Heiraten gesprochen.“

„Also mich wundert das überhaupt nicht. Hast du vergessen, was er alles unternommen hat, um dich zu kriegen?“ Cathi strich Marmelade auf ein Hörnchen. „Das sagt doch schon alles. Er will kein Risiko eingehen, ist doch logisch.“

„Aha … du tust ja gerade so, als hätten die Kerle mir die Tür eingerannt, nachdem mit Andreas Schluss war. Hm, da muss mir was entgangen sein.“

„Also ich fand die Art, wie er dich erobert hat, schon sehr überzeugend. Auf jeden Fall hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass er dich will.“

„Ja, schon gut, ich werde mich ganz bestimmt nicht beklagen, aber nur, weil jetzt alles sonnenklar ist, war es das nicht sofort. Nick ist ein Mann, auf den die Ladys stehen. Im Nachhinein habe ich von zwei Frauen erfahren, die scharf auf ihn waren, während wir uns kennengelernt haben.“

„Liebe Zeit.“ Cathi rollte mit den Augen. „Wir reden von zwei Arbeitskolleginnen, die ihrem Wunschdenken freien Lauf gelassen haben.“ Sie schüttelte ihre Hand, als hätte sie sich verbrannt. „Auweia, so ein Tête-à-Tête zwischen Bürostühlen und Papierkörben finde ich auch ziemlich heiß … was hat er zu seiner Verteidigung gesagt?“

„Pass mal auf du! Sonst reden wir gleich wieder über deine Frisur und den Pulli. Was gibt es denn dagegen einzuwenden, dass ich im Hinterkopf behalte, wie er bei vielen Frauen ankommt?“

„Freu dich doch, dass er dich wollte und nicht eine von den vielen Frauen da draußen.“ Cathi malte mit ihrem Butterhörnchen einen Kringel in die Luft. „Ha, wirklich witzig, dass ausgerechnet du das sagst … hast du mal in den Spiegel geschaut? Da könnte er dasselbe denken. Und wenn wir schon davon anfangen müssen … nach der Trennung von Andreas bist du auch erst mal auf Tauchstation gegangen. Warum soll ich das nicht dürfen?“

„Darfst du und hast du. Aber keine zwei Jahre, Cathi!“

Sie holte tief Luft. „Ich brauche eben etwas länger. So bin ich nun mal.“

„Aber nur, wenn’s um dieses Thema geht. Normalerweise überholst du alle mit links und rechts, noch ehe die überhaupt wissen, wo’s lang geht.“

„Der Vergleich hinkt, das weißt du. Und trotzdem war es bei dir was anderes! Wenn Nick dir nicht so auf die Pelle gerückt wäre …“

„Zugegeben, das war Glück. Aber dafür musste ich zumindest vor die Tür gehen, was ich, wie du weißt, getan habe. Dich kriegen ja keine zehn Pferde aus dem Haus.“

Cathi zog eine Grimasse, bevor sie kleinlaut einräumte: „Okay, okay. Zwei Jahre sind ganz schön lang. Gibst du mir trotzdem noch ein bisschen Zeit? Ich bin einfach noch nicht so weit.“

„Aber nicht mehr lange. Ich gucke nämlich nicht dabei zu, wie du in deinen vier Wänden versauerst.“

„Du kannst mir auch keinen Kerl stricken.“

„Das behaupte ich auch gar nicht, aber so wie’s jetzt läuft, gibt das auch nix, auch wenn du das nicht hören willst.“

„Müssen wir das heute bequatschen? Du wolltest mir mehr von dem Antrag erzählen … und dass Nick keine Zeit verlieren würde, um dich unter die Haube zu kriegen, war mir von Anfang an sonnenklar.“

„Ja, bei anderen sieht man immer klarer als bei sich selbst. Das ist so. Also dann jetzt zurück zum Romantikhotel.“

Während Babs den Antrag in allen Einzelheiten schilderte, vertilgten sie das leckere Frühstück, bis kein Krümel mehr übrig war.

„Und wie geht’s jetzt weiter? Wie ich dich kenne …“ Cathi legte die Stirn in Falten. „Das sind dann fünf ganze Tage, in denen du Zeit hattest, Pläne zu schmieden.“ Vorsichtig stellte sie das Geschirr zusammen und stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab, bevor sie die Hände faltete und Babs herausfordernd ansah. „Dann leg mal los! Wo? Wann? Wie?“

„Vorsicht!“ Babs drohte ihr lachend mit dem Zeigefinger. „Wer im Glashaus sitzt! Du schreibst zwar keine Listen, aber dafür hast du alles“, sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, „… hier abgespeichert. Das ist auch nicht viel besser, meine Liebe.“

Die Kellnerin unterbrach die beiden, indem sie zwei Espressi brachte und das benutzte Geschirr mitnahm.

Jetzt war Babs in ihrem Element. Sie erklärte bildhaft, wie sie sich ihre Hochzeit vorstellte. Cathi lehnte sich satt und zufrieden in ihrem Stuhl zurück, hörte zu und war froh, dass sie nicht mehr Gegenstand des Gesprächs war. Als Babs jedoch die Stirn in Falten legte und dabei tief einatmete, wusste Cathi sofort, dass es nun um das komplizierte Mutter-Tochter-Verhältnis ging.

„… ich würde so viel lieber nur mit dir das Hochzeitskleid aussuchen, aber kannst du dir das Gesicht meiner Mutter vorstellen, wenn ich ihr das sage?“

„Lieber nicht. Lass sie mitgehen, sonst nimmt der Stress kein Ende.“

„Worauf du dich verlassen kannst.“

„Was hältst du davon, wenn ich euch begleite und so versuche, das Schlimmste zwischen euch zu verhindern?“

Das Strahlen kehrte auf Babs’ Gesicht zurück. „Das würdest du tun? Du bist so ein Schatz. Ach, du hast keine Ahnung, wie froh mich das macht!“ Sie hielt kurz inne. „Cathi, habe ich noch einen Wunsch bei dir frei?“

„Immer, solange ich keine Diamanten klauen muss.“

„Nee, so schlimm wird’s nicht. Könntest du dir vorstellen, meine Trauzeugin zu sein?“

„Was für eine Frage“, strahlte nun auch Cathi wieder. „Das mache ich doch gerne.“

Babs bedankte sich ganz entgegen ihrer sonstigen – eher zurückhaltend vornehmen – Art mit einer stürmischen Umarmung und hätte beinahe den Tisch abgeräumt, wenn die Kellnerin nicht eingeschritten wäre.

2

Die ausrangierte Küchenuhr tickte beruhigend in der Stille, als Tom überrascht das vertraute Schaben der schweren Holztür wahrnahm, die vom Hof her in die Schreinerwerkstatt führte. Automatisch ging sein Blick zu der schwach beleuchteten Wand, wo die Uhr hing. Ein Deckglas, das das Ziffernblatt schützte, gab es nicht mehr, aber ansonsten funktionierte sie einwandfrei. Es war halb zehn und noch dazu Freitagabend.

Er hörte leichtfüßige Schritte näherkommen, die nicht Opa Schorsch gehören konnten, und fragte sich, wer sich zu dieser Tageszeit noch zu ihm verirrte. Abgesehen von dem Schein der Lampe, die lediglich seinen Arbeitsbereich erhellte, lag die Werkstatt im Dunkeln. Nur winzig flackernde Lichter, die vom Feuerschein durch die Löcher der Herdplatte lugten, malten funkelnde Pünktchen unter die gekalkte Decke. Der alte, gusseiserne Ofen, aus dem das Prasseln des Feuers drang, gab eine wohlige Wärme ab, weshalb das Arbeiten in der Werkstatt während der Februarkälte überhaupt möglich war.

Tom liebte diesen Ort, an dem es nach Schnittholz, Leim und Schutzmitteln roch und den er mit so vielen guten Erinnerungen verband. Aus der Zeit, als Opa Schorsch hier noch seine Arbeitsstätte gehabt hatte, standen wandgroße Rigipsplatten neben alten Fensterrahmen, allerlei Brettern und Holzstücken in unterschiedlichen Größen herum. Tom störte das nicht, griff er doch gerne mal auf das eine oder andere zurück, wenn auch meistens nur, um zu improvisieren. Über allem lag nicht nur eine feine Schicht Sägemehlstaub, sondern auch ein Hauch von Nostalgie. Es war Opa Schorsch zu verdanken, dass Tom schon als Jugendlicher Geschmack am Beruf des Tischlers gefunden hatte. Georg, selbst Schreiner, hatte mit seiner Lebenserfahrung früh erkannt, wie geschickt Tom mit den Händen war und wie viel Spaß ihm das Werkeln mit Holz bereitete. Die Tischlerausbildung, die Tom bei einem renommierten Tischlermeister absolviert hatte, konnte man getrost als eigenen Herzenswunsch betrachten, genau wie die Meisterschule, die im angemessenen Abstand folgte.

Inzwischen verdiente Tom sein Geld in einem Großbetrieb. Hauptsächlich mit dem Einbau von Fenstern und Türen. Aber so oft es seine Zeit zuließ, tat er das, was er schon immer tun wollte. Er schreinerte Möbel. Sein Traum war es, irgendwann nur davon leben zu können. Doch dafür musste er sich erst mal einen Namen machen und sich einen Kundenkreis aufbauen, damit er es sich leisten konnte, zu kündigen. Tom liebte den Geruch von Holz, und es befriedigte ihn zutiefst, wenn unter seinen Händen etwas Neues entstand. Die traditionelle Wiege, an der er gerade arbeitete, stand kurz vor der Fertigstellung.

Die Schritte kamen näher. Tom legte das Schmirgelpapier aus der Hand, wischte sich die Finger an seiner verwaschenen Jeans ab und schaute gebannt in die Dunkelheit, bis er Nick erkannte, seinen besten Freund, der mit einem jungenhaften Grinsen auf ihn zukam.

„Was treibt dich denn so spät noch zu mir?“

Nick knöpfte sich im Gehen den Mantel auf, schüttelte sich die Schneeflocken aus dem blonden Haarschopf und blies sich die nassen Strähnen aus der Stirn.

Der angekündigte Schneefall hatte also eingesetzt.

„Hi. Ich bin auf Promotionstour und war gerade bei Opa Schorsch und Oma Gerda. Und wenn ich schon mal da bin, bleibst du natürlich auch nicht außen vor“, antwortete er verschmitzt, während er Mantel und Schal abstreifte und achtlos über den gedrechselten Kleiderständer warf, der als Muster seit eh und je an derselben Stelle stand. „Mein Angebot kam bei ihnen übrigens ausgesprochen gut an.“

„Dein Angebot, aha! Soll das heißen, du hast den Job als Unternehmensberater aufgegeben und bist jetzt Handelsreisender für Waschmaschinen?“ Toms Augen blitzten wachsam. Lässig schob er beide Hände in die Taschen seiner Jeans, lehnte sich mit dem Hintern an die Werkbank und wappnete sich für den Schlagabtausch, der sich – wie immer, wenn sie sich trafen – unweigerlich anbahnte. „Da muss schon noch ein bisschen mehr von dir kommen, wenn ich das Rätsel knacken soll.“ Seit er denken konnte, lieferte er sich mit Nick endlose Wortgefechte. Natürlich nur im Spaß. Es bereitete ihnen Freude, sich geistreich und wortgewandt zu messen und sich dabei zu überbieten. In der Familie führten sie damit niemanden mehr aufs Glatteis, denn, wenn es darauf ankam, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Niklas Maarten war mehr als sein bester Freund. Eigentlich war er sein Bruder, auch wenn sie nicht blutsverwandt waren. Nicks Familie, seine Eltern Eleonore und Rolf sowie die Großeltern Georg und Gerda Maarten, hatten Tom als Pflegekind angenommen und liebevoll großgezogen.

„Du wirst dir einen Anzug kaufen müssen.“ Nick verzog keine Miene.

„Ach Schatz, du willst doch wohl nicht mit mir in die Oper gehen?“, hakte Tom belustigt nach. „Das ist wirklich nicht nötig.“ Während er sprach, ging er zum Kühlschrank, der zwischen den Werkbänken in der Ecke stand, um zwei Flaschen Bier herauszunehmen. Das in die Jahre gekommene Gerät wurde nur noch für Getränke genutzt und hatte sich bereits an diesem Platz befunden, als Opa Schorsch noch hier sein Revier gehabt hatte. Der kam auch gerne mal abends auf ein Bier vorbei. Dabei ließ es sich herrlich fachsimpeln. Oma Gerda sollte davon nichts wissen. Sie sorgte sich um seine Gesundheit. Seit ein paar Jahren litt er an Diabetes. Diplomatisch wie sie war, legte sie stets stillschweigend ein paar Flaschen Diätbier in den Kühlschrank. Opa Schorsch tat im Gegenzug so, als würde er von den Machenschaften seiner Frau nichts bemerken, hielt sich aber daran und trank nur das kastrierte Bier, wie er augenzwinkernd meinte.

Ein Lächeln huschte über Toms Gesicht, als er an die beiden dachte. Wortlos reichte er Nick Flasche und Öffner.

Nick nahm geräuschvoll den ersten Schluck und meinte: „Im Raten warst du auch schon mal besser. Bis jetzt bewegst du dich in eiskalten Gefilden. Wenn ich in die Oper gehen will, habe ich eine weitaus erfreulichere Begleitung als dich … das solltest du eigentlich wissen.“

„Du verstehst es, einen aufzumuntern, das muss man dir lassen“, nickte Tom abschätzig, doch er wurde stutzig. Einen Anzug hatte er seit der gemeinsamen Konfirmationsfeier mit Nick nicht mehr getragen, und das war lange her. Gut sechzehn Jahre. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. Familienfeste. Und wenn Nick von ihm erwartete, dass er sich einen Anzug kaufen sollte – er besaß tatsächlich keinen mehr, der passte –, hieße das dann ja wohl … hörbar schnappte er nach Luft. Die Bilder seiner Konfirmation stiegen in ihm auf. Ereignisse, an die er nicht mehr erinnert werden wollte, und das hatte absolut nichts mit den Maartens zu tun.

Tom fuhr sich langsam mit gespreizten Fingern durch das dunkle Haar und schaute seinem Freund in die Augen. Nick wusste sehr wohl, welche Gedanken ihm gerade durch Kopf jagten. Das erkannte Tom an dem Blick, mit dem er ihn bedachte. Er wollte ihn beruhigen. Toms ohnehin schon skeptische Miene verfinsterte sich noch mehr. Er wollte nicht hören, was Nick ihm zu sagen hatte, und konzentrierte sich auf die Flasche Bier in seiner Hand. Den Öffner ignorierend, schlug er den Kronkorken mit Bravour an der Werkbank ab und trank. Für einen Augenblick schwiegen beide. Schließlich stellte Tom die Flasche mit einer heftigen Bewegung auf der Arbeitsfläche ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also gut, du willst, dass ich dein Rätsel knacke. Okay. Schorsch und Gerda haben offensichtlich damit zu tun?“

„Richtig.“

„Willst du die Werbekampagne bei deinen Eltern fortsetzen, oder warst du schon da?“ Ehe Nick antworten konnte, fuhr Tom fort: „Ich nehme an, dass Babs das gleiche Programm bei ihrer Familie laufen lässt?“

Sein Freund nickte.

„Dann scheint es dir ja wirklich ernst zu sein“, murmelte Tom mehr zu sich selbst und nahm einen weiteren Schluck.

„Ich bin stolz auf dich. Wusst ich’s doch, dass man dir nichts vormachen kann“, witzelte Nick trocken und versuchte damit die Situation aufzulockern. Doch Tom reagierte nicht darauf. Ihm war angesichts dessen, was diese Feier bedeutete, überhaupt nicht witzig zumute. Wahllos griff er zu einem herumliegenden Stück Holz, mit dem er dann begann, ungeduldig auf ein kleines Brett zu klopfen, das auf der Werkbank lag. Von dem Geräusch genervt, kniff Nick die Augen zusammen. Tom ignorierte das genauso wie Nicks vorsichtigen Versuch, das heikle Thema zu verharmlosen. Abrupt warf Tom das Holz auf die Arbeitsplatte.

„Und du glaubst, dass ich dann mit deiner reizenden Verwandtschaft Ringelreihen tanze, so, als wäre nie etwas gewesen?“, grantelte er, ohne Nick anzusehen, und schüttelte dabei energisch den Kopf, bevor er ihn unerbittlich anstarrte. „Nee, mein Lieber, bei aller Freundschaft, aber das schlägst du dir besser aus dem Schädel!“

„Okay“, räumte Nick seufzend ein, „an deiner Stelle würde ich jetzt wahrscheinlich genauso reagieren. Aber bitte versteh doch auch mich!“

„Leidest du neuerdings unter Amnesie? Hast du wirklich vergessen, wie solche Feierlichkeiten stets geendet sind?“, brauste Tom auf. „Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, wo es gut ausgegangen wäre!“

„Nein, hab ich nicht, und ja, es war immer so, da kann ich nicht widersprechen.“ Nick stand regungslos da. „Ich wünschte, es wäre möglich … wenigstens, dass du es irgendwann vergessen könntest.“

Tom lachte bitter auf und lief zum Ofen, um zu schauen, ob noch genug Holz auflag. Völlig unnötig, schließlich hatte er kurz, bevor Nick hereingekommen war, erst ein paar Scheite aufgelegt. Wut machte sich in ihm breit und er fuhr sich erneut mit den Fingern durchs Haar. So konfus war er lange nicht gewesen. Auf dem Weg zurück zur Werkbank trat Nick auf ihn zu und hob beschwörend die Hände.

„Ich erinnere mich noch ganz genau, ja. Und auch an absolut alles, was gewesen ist. Da kannst du dir sicher sein … aber glaubst du ernsthaft, ich würde dich bitten, auf meine Hochzeit zu kommen, wenn es nicht wirklich wichtig für mich wäre?“

„Das kann ja alles sein, Nick, aber ist dir klar, was du da von mir verlangst?“

„Was denkst du denn?“, brauste nun auch Nick auf. „Seit Wochen zermartere ich mir das Hirn, wie ich es dir am besten beibringen kann. Erst wollte ich dir Mama schicken, aber sie meinte, dass ich das selbst erledigen müsste.“

„Ich habe die … die feine Gesellschaft seit damals nicht mehr gesehen“, krächzte Tom. „Und ich habe auch absolut kein Bedürfnis danach. Nur bei dem Gedanken, mit denen in einem Raum sein zu müssen, kriege ich allergische Reaktionen.“

In einem Anflug von Verzweiflung fuhr sich Nick ebenfalls mit den Händen übers Gesicht, wobei er sich sekundenlang die Augen verdeckt hielt. Dann sah er Tom beschwörend an. „Glaub mir, Babs und ich werden alles Erdenkliche tun, um dir das Zusammentreffen mit ihnen zu ersparen. Man kann da wirklich einiges deichseln. Tischordnung und so. Du musst sie einfach nur ignorieren. Bitte Tom. Die Vorstellung, dass ich meine Hochzeit ohne dich feiern soll, gefällt mir nicht.“

Tom spürte, wie ernst es Nick war. Seine Eltern dachten darüber bestimmt genauso, und er wusste hundertprozentig, wenn er hier auf stur schaltete, würde Nicks Mutter ihm doch einen Besuch abstatten. Egal, was sie vorher gesagt hatte. Und dann, das war sowieso klar, gab es kein Entrinnen mehr.

„Na gut, ich komme“, knurrte Tom und wandte sich ab, um sein Spiegelbild in der angestaubten Fensterscheibe anzustarren. Ironisch zog er eine Grimasse – seine Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. Er nahm die Bierflasche und prostete sich zu.

„Meistens wird es nicht so schlimm, wie man es sich vorher ausgemalt hat“, hörte er Nick mit ruhiger Stimme sagen. Sie kannten sich zu gut, weshalb er Toms frustrierten Blick in der Scheibe richtig interpretiert hatte. „Aber … da ist noch was, worum ich dich bitten möchte.“

„Geht es immer noch um die Hochzeit?“

„Jepp.“

Tom drehte sich genervt um. „Na, heute verstehst du’s aber, dich beliebt zu machen. Was willst du denn noch? Dass ich auf die Hochzeit komme, reicht mindestens für … keine Ahnung für wie viele Jahre, aber auf jeden Fall für verdammt lange. Und mach dich auf was gefasst! Ich werde mir was Schönes für deine Wiedergutmachung ausdenken. Wehe du jammerst! Und nun sag schon, was du noch von mir willst. Auf Rätselraten habe ich nämlich keinen Bock mehr.“ Ohne einen Schluck genommen zu haben, stellte er die Bierflasche seufzend zurück auf die Arbeitsfläche.

Nick atmete erleichtert aus. „Tja, wie du richtig festgestellt hast, will ich mein Lotterleben aufgeben und Babs zu einer ehrbaren Frau machen.“ Er betrachtete das fertige Kinderbett und fuhr mit den Händen über das Holz. „Spaß beiseite Tom.“ Er ließ die Wiege los und ging einen Schritt auf ihn zu. „Kann ich mit dir als Trauzeugen rechnen? Ich kann mir niemand anderes dafür vorstellen. Du bist wie mein Bruder, und außerdem bist du noch Junggeselle.“ Jetzt blitzte wieder der altbekannte Schalk aus Nicks grauen Augen.

Tom ließ das Gesagte auf sich wirken und lehnte dabei lässig an der Tischkante. Dunkel war ihm in Erinnerung, dass bei allen Hochzeiten in der Familie – so hatte Oma Gerda berichtet – nur Unverheiratete als Trauzeugen ernannt wurden. Das wäre Familientradition und hätte bisher immer dazu geführt, dass die Ehen hielten. Sicher wollte Nick damit jetzt nicht brechen. 

„Interessant. Das heißt also …“ Tom kreuzte die Arme vor der Brust und sprach betont langsam weiter, wobei seine Miene nicht zufriedener hätte sein können. „Hm … wenn ich vor dir heirate, müsstest du dir einen anderen suchen!“

Nick stutzte, weil er das offenbar noch nicht bedacht hatte. Dann hob er den Arm, streckte Daumen und Zeigefinger aus, richtete sie auf Tom und gab Schussgeräusche von sich. „Untersteh dich!“ Abrupt ließ er den Arm wieder sinken. „Ha, was rege ich mich auf!“, grinste er. „Bei der Auswahl an Verehrerinnen, die du hast, wüsstest du doch gar nicht, welche du nehmen solltest.“

Tom wandte sich ernüchtert ab und stützte sich mit beiden Händen auf der Werkbank ab. Die Arme durchgestreckt, atmete er schwer und starrte erneut in die staubige Fensterscheibe. Da konnte er nicht widersprechen. Er kannte einige Frauen, durchaus sympathische und hübsche, die keineswegs abgeneigt wären. Nette Bekanntschaften, mit denen man sich sehr angenehm die Zeit vertreiben konnte. Aber mehr? Nein. Bei keiner verspürte er den Drang, richtig einzusteigen. Er hob den Kopf. All die Jahre, die er und Nick zusammen um die Häuser gezogen waren, kamen ihm in den Sinn. Schöne Erinnerungen, die er nicht missen wollte. Doch das gehörte der Vergangenheit an. Endgültig. Eigentlich hatte diese Ära bereits geendet, als Nick Babs kennengelernt hatte. Mit einem Schlag war auch sein Leben ein anderes geworden. Adé, du wunderbare Junggesellenzeit. Zwei sportlich-attraktive Typen ohne Anschlussprobleme. Nick, der Kommunikative. Tom eher zurückhaltend und ruhig. Seither verspürte er keine Lust mehr, die Straßen unsicher zu machen.

„Du willst mir doch nicht erzählen, dass du Jennifer in die engere Wahl gezogen hast?“ Nick blickte ihn über das Spiegelbild provokant an.

„Was?“ Tom begriff zunächst nicht, was Nick andeutete, doch dann verstand er. Jennifer Fischer war eine Spielerin der Damenmannschaft des TuSpo Waldau. Sie war bei den Handballern kein unbeschriebenes Blatt. Seit Neuestem engagierte sie sich auch als Helferin bei der Herrenmannschaft, und das nicht ohne Eigennutz. Tom war zugetragen worden, dass ihr Einsatz dem Ziel diente, sich an ihn heranzumachen.

„Jetzt übertreib aber nicht. Nur, weil ich mal ein Bier mit ihr getrunken habe? Keine Sorge, null Gefahr. Sie ist ganz nett, ja, aber das war’s dann auch schon.“ Tom rieb sich den Nacken und drehte sich wieder um, wobei seine blauen Augen blitzten.

„Für jemanden, der um einen Gefallen gebeten hat, bist du ganz schön vorlaut. Wenn ich mich nicht irre, soll ich den Trauzeugen für dich geben.“

Nick grinste von einem Ohr zum anderen.

„Wusst ich’s doch, dass ich auf dich zählen kann.“