Leseprobe Liebe in Hidden Falls

Kapitel Eins

Peter J. Wheeler saß an dem glänzenden Mahagonischreibtisch in seinem vertäfelten Anwaltsbüro in Center City Philadelphia und übte sein Gespräch mit den Begünstigten vom Testament seines besten Freundes, wenn sie angekommen waren. Es würde keinen einfachen oder angenehmen Weg durch die nächsten paar Stunden geben, und hätte er den Verstorbenen nicht wie seinen eigenen Bruder geliebt, hätte er Fritz Hudson für seine Lage mit eigenen Händen erwürgen können. Über die Jahre hatte Pete Fritz immer mal wieder aus der Klemme helfen müssen, aber das hier … das hier war … feige. Es führte kein Weg dran vorbei. Fritz war ein Feigling durch und durch. Er war einfach gestorben und hatte Pete mit der Drecksarbeit zurückgelassen. Nicht, dass Pete Fritz nichts schuldig war – er war der Letzte, der das bestreiten würde – aber trotzdem. Gab es nicht Grenzen beim Zurückzahlen?

„Mr. Wheeler, Ms. Monroe und Miss Hudson sind da“, informierte ihn Marjorie, die Rezeptionistin der Firma, über die Sprechanlage.

Schicken Sie sie weg. Weit, weit weg …

„Schicken Sie sie rein.“

Pete stand auf und nestelte an seinen Manschetten, damit seine Hände etwas zu tun hatten, und bereitete sich seelisch darauf vor, das Testament vorzulesen – und ihnen die Neuigkeiten zu überbringen.

Die Tür öffnete sich und Fritz’ Töchter, Allie und Des, kamen herein und begrüßten ihn mit einem Lächeln, Umarmungen und Küsschen auf die Wange. Es war kein Geheimnis, dass das Vermögen ihres Vaters ziemlich beträchtlich war, und ohne Zweifel gaben die beiden Frauen schon im Geiste ihren Anteil aus.

„Allie, Des. Schön, euch beide zu sehen“, sagte er, bevor er sich auf den traurigen Grund für ihre Anwesenheit besann. Er räusperte sich und setzte eine ernste Miene auf. „Noch einmal, mein Beileid für euch beide.“

„Für dich auch.“ Des drückte seine Hand. „Du hast ihm nähergestanden als wir. Ich schätze, du vermisst ihn mehr als jeder andere.“

„Ich würde alles dafür geben, dass er heute bei uns sein könnte.“ Damit ich ihm den Hals umdrehen kann, was ich schon hätte tun sollen, als er noch am Leben war. Oder zumindest könnte er seine eigene Drecksarbeit erledigen, wenn er heute hier wäre.

„Das glaube ich dir.“ Allie sah sich das Büro an. „Neue Ausstattung? Gefällt mir.“

„Danke. Das ganze Leder und die Bilder von englischen Jagdhunden haben mich langsam fertiggemacht.“ Er musste schmunzeln. Vor sechs Monaten hatte Fritz in Petes Büro gestanden, die Hände in die Hüften gestemmt. „Glaubst du nicht, dass es Zeit wird, diesen alten ‚Horrido!‘-Kram loszuwerden, Pete? Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Stil schon in den Neunzigern out war.“

Ich hätte ihn an Ort und Stelle an einen Stuhl fesseln sollen, ihm ein Telefon in die Hand drücken und nicht wieder gehen lassen sollen, bis er seinen Kindern die Wahrheit gesagt hat. Allen seinen Kindern.

„Allie, wie geht’s Nikki? Gefällt ihr die neue Schule?“

Pete bot der großen, schlanken Blonden, die leicht gereizt schien, einen Stuhl an.

„Es geht ihr sehr gut, danke.“

„Und dir?“

„Oh, fantastisch.“ Der Sarkasmus in Allies Stimme war unüberhörbar. „Außer, dass die Fernsehshow abgesetzt wurde, bei der ich gearbeitet habe, und ich mein Haus verkaufen muss, weil ich mir die Unterhaltungskosten und die Hälfte von Nikkis Schulgeld nicht leisten kann. Aber sonst geht’s mir einfach prima.“

„Es tut mir leid, dass die Dinge gerade nicht besser für dich laufen. Aber du wirst doch oft namentlich als Regisseurin erwähnt, oder?“

„Regieassistentin“, korrigierte sie.

„Aber trotzdem erkennt man deinen Namen wieder. Es wird sicher bald jemand anrufen.“ Er versuchte, ihr Mut zu machen, aber er sah ihr an, dass sie es ihm nicht abnahm.

„Naja, sobald Dads Vermögen aufgeteilt ist, kannst du alles sicher zum Besseren wenden.“ Des, die drei Jahre jünger und zehn Zentimeter kleiner war als ihre Schwester, hatte nicht auf eine Aufforderung gewartet, sich zu setzen. „Darum geht’s hier doch auch, nicht wahr, Onkel Pete?“

„Ähhh … naja … ja, aber …“, stotterte er. Keine Probe der Welt hätte ihn auf das vorbereiten können, was diesen Morgen vor ihnen lag.

In diesem Moment zeigte Allie auf den dritten Stuhl vor dem Schreibtisch.

Sie runzelte die Stirn. „Kommt noch jemand?“

Bevor Pete antworten konnte, klopfte Marjorie an die Tür und öffnete sie. „Mr. Wheeler …“

„Äh … ja.“ Er ging um den Schreibtisch, als eine zierliche Frau mit lockigen, hellen, kastanienbraunen Haaren das Büro betrat. „Cara. Komm rein, bitte.“ Er umarmte auch sie. „Setz dich.“

Allie und Des drehten sich verwirrt zu dem Neuankömmling um.

„Allie. Des. Das ist Cara McCann.“ Er holte tief Luft und wappnete sich für den Shitstorm, der gleich ausbrechen würde. „Eure Halbschwester.“ Er drehte sich zu Cara. „Cara, das sind Allegra Monroe und Desdemona Hudson. Deine Halbschwestern.“

Die darauffolgende Stille hätte gewaltiger nicht sein können. Die drei Frauen starrten Pete an, dann einander für eine gefühlte Ewigkeit.

Schließlich räusperte sich Allie und sagte mit giftigem Blick auf Pete gerichtet: „Was zur Hölle, Onkel Pete?“

„Zur Hölle ist, dass euer Vater ein Doppelleben geführt hat. An der Westküste hatte er Nora und euch beide“, sagte er zu Allie und Des. Zu Cara gewandt fügte er hinzu: „Und an der Ostküste …“

„Hatte er Susa und mich“, sagte Cara leise mit bleichem Gesicht, ihre Hände fest auf ihrem Schoß verschränkt und ihren Blick auf ihn gerichtet.

„Offensichtlich ist das die kurze Version. Sicher gibt es noch mehr.“

„Die lange Version ist nicht viel anders. Es geht nur darum, die Lücken zu füllen.“

„Dann schlage ich vor, dass du das tust.“ Des verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn erwartungsvoll an.

„Deswegen wollte er kein Begräbnis oder Gedenkgottesdienst“, sagte Cara. „Er wollte schnell verbrannt werden, damit wir uns nicht an seinem Grab treffen.“

„Traurig, aber wahr. Als er erkannt hat, wie nah er dem Ende war, hat er einen Nachtrag hinzugefügt, damit er sofort verbrannt wird und ihr erst danach benachrichtigt werdet.“

„Fang von vorne an“, sagte Allie, die ihn immer noch anfunkelte. „Und vielleicht kannst du ja irgendwann eine Erklärung einwerfen, warum Dad dieses Geheimnis für sich behalten hat.“

Pete seufzte schwer. „Ich habe ihm schon immer gesagt, dass das eine dämliche Lebensweise ist. Dass er mit der Wahrheit rausrücken muss, Nora sagen muss, dass er die Scheidung durchzieht. Dass er jemanden getroffen hat, der ihn glücklich macht.“ Pete schaute zu Cara und sagte mit weicherer Stimme: „Deine Mutter hat deinen Vater sehr glücklich gemacht, Cara.“

„Also willst du damit sagen, dass er unsere Mutter nie geliebt und sie ihn unglücklich gemacht hat?“, zickte Allie.

„Na klar hat sie das.“ Des sah zu ihrer Schwester. „Das wissen wir beide. Wenn man sich’s genau überlegt, hat sie uns beide auch ziemlich unglücklich gemacht. Wie kannst du jemanden lieben, bei dem du dich die ganze Zeit traurig, nicht gut genug und ungeliebt fühlst?“

„Du redest gerade von unserer Mutter, Des. Die Frau, die uns auf die Welt gebracht hat.“

„Und die es bereut hat. Seien wir ehrlich. Mom mochte die Idee von Kindern viel lieber, als tatsächlich welche zu haben. Wenn sie uns vor eine Kamera ziehen konnte, um ihr Image zu retten, wenn sie mal wieder Mist gebaut hat, haben wir ja noch einen Zweck erfüllt. Aber sonst konnte sie keine von uns wirklich gebrauchen.“

Bevor Allie antworten konnte, beugte sich Cara vor und sagte: „Warte mal. Ich glaube, ich habe was übersehen. Nochmal zurück zu der Stelle, wo du Dad erzählt hast, dass er … der anderen Frau sagen muss, dass er die Scheidung durchzieht.“

„Vorsichtig, Fräulein.“ Allie warf Cara einen tödlichen Blick zu. „Diese ‚andere Frau‘ ist unsere Mutter. Und weil sie und Dad nie geschieden waren, glaube ich eher, dass deine Mutter ‚die andere Frau‘ ist.“

„Stimmt das, Onkel Pete? War Dad noch mit ihrer Mutter verheiratet, als er meine geheiratet hat?“ Caras Blick durchbohrte ihn, und er wusste, dass ihm der Moment bevorstand, den er am meisten gefürchtet hatte.

Er ging um den Schreibtisch und setzte sich Cara gegenüber auf die rechte Seite. „Naja, theoretisch … ja.“

„Was heißt das? Entweder er war geschieden, als er mit Susa verheiratet war, oder nicht.“ Caras Augen fixierten die seinen. „War mein Vater von seiner ersten Frau geschieden, als er meine Mutter geheiratet hat?“

„Nein.“

„Hat meine Mutter das gewusst?“

„Das … das kann ich nicht genau sagen …“, murmelte Pete. Gott, er hasste Fritz in diesem Moment.

Cara lachte unerwartet. „Natürlich kannst du das. Du weißt alles über ihn.“

„Ich denke, am Anfang wollte er es ihr sagen. Aber er hat sich so sehr in Susa verliebt, dass es mit der Zeit immer schwieriger wurde, es ihr zu sagen. Er wollte sie glücklich machen, sie heiraten.“ Er zuckte die Schultern. „Und das tat er.“

„Wie konnte er ihre Mutter heiraten, wenn er noch mit unserer verheiratet gewesen ist?“, fragte Des. „Muss man da nicht einen Schein beantragen? Wird das nicht irgendwie kontrolliert?“

Pete zuckte die Schultern. „Ich weiß ehrlich nicht, wie er das alles umgangen hat. Er ist einfach eines Morgens mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern in der Hand aufgetaucht. Er hat mich gebeten, auf seine neue Braut anzustoßen.“ Pete hielt inne. Wenn er seine Augen schloss, konnte er immer noch das Leuchten in Fritz‘ Augen sehen. Ohne Zweifel war er glücklicher gewesen, als Pete ihn je zuvor gesehen hatte, und definitiv bis über beide Ohren verliebt.

„Und du hast was gesagt?“ Allie winkte ungeduldig, damit er fortfuhr.

„Ich weiß nicht mehr, was ich genau gesagt habe, aber wahrscheinlich war es so etwas wie … um dich zu zitieren, Allie: ‚Was zur Hölle?‘ “

„Hast du ihn wegen Mom gefragt? Hast du ihn gefragt, wann er die Scheidung eingereicht hat?“, fragte Des eindringlich. „Wobei ich vermuten würde, dass du als sein Anwalt da deine Hände mit im Spiel hättest haben sollen.“

„Ich habe ihn gefragt, und er hat rumgestottert, wie immer, wenn er über etwas nicht reden wollte.“ Er sah jede einzelne der Frauen an und fügte hinzu: „Ich glaube, ihr wisst alle, was ich meine.“

Die drei Frauen nickten.

„Also, du willst damit sagen, dass er ein Bigamist war.“ Cara standen Tränen in den Augen. „Wie konnte er meiner Mutter so etwas antun?“

„Deiner Mutter?“ Allie schnaubte. „Was ist mit unserer Mutter?“

„Hat Mom es gewusst, Onkel Pete?“, fragte Des leise.

„Soweit ich weiß, hat er es ihr nie gesagt.“

„Wahrscheinlich, weil sie kaum miteinander geredet haben.“ Allie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Also, können wir zum Punkt kommen? Was heißt das alles für Dads Testament?“

„Wir erfahren, dass Dad eine andere Frau und ein Kind hatte und alles, und du denkst nur daran, was das an deiner Erbschaft ändern wird?“, fragte Des.

„Natürlich wird es was ändern, wenn man annimmt, dass Dad sie in seinem Testament erwähnt“, antwortete Allie. „Und das nehme ich an, weil sie sonst nicht hier wäre, und es keinen Grund für diese große Offenbarung gegeben hätte. Die mir, ehrlich gesagt, völlig egal ist. Dad hatte also eine Geliebte und sie hatten ein Kind zusammen und–“

„Sie war nicht seine Geliebte“, fauchte Cara und fuhr zu Allie herum.

„Da wo ich herkomme, wenn eine Frau mit einem verheirateten Mann zusammenlebt–“

„Sie wusste nicht, dass er verheiratet war. Sie konnte es nicht wissen. Sie hätte nie …“ Cara stand auf. „Sie hätte nicht …“ Sie schluckte die Tränen hinunter. „Du kanntest meine Mutter nicht. Du weißt nicht, wer oder was sie war.“

Allie starrte aus dem Fenster hinter Petes Schreibtisch. „Oh, ich kann mir sehr gut denken, was sie war.“

„Allie, hör auf“, rief Des. „Fang nicht mit sowas an.“

„Warum nicht? Wie würdest du sie denn nennen? Sie hat mit einem verheirateten Mann geschlafen und ein Kind von ihm.“

„Lass es, Allie“, sagte Pete schlicht. In sanfterem Ton sagte er: „Cara, setz dich. Es gibt noch mehr, was ihr alle wissen müsst.“ Alle Frauen wandten sich ihm gleichzeitig zu.

„Warte, lass mich raten“, sagte Allie dramatisch. „Es gibt noch eine dritte Frau …“

Würde es ihn überraschen, wenn es so wäre? Pete verdrängte den Gedanken, kehrte zu seinem Stuhl zurück und holte tief Luft. „Ich fange mal so an: Ihr drei seid die Begünstigten von Fritz‘ Testament, mit einem–“

Allie unterbrach ihn. „Gleichwertige Begünstigte? Sie auch?“

„Ja. Gleichwertige.“ Er stützte seine Unterarme auf den Schreibtisch. „Fritz‘ Vermögen wird dreigeteilt, und daran ist nichts zu rütteln. Das weiß ich, da ich das Testament eures Vaters aufgeschrieben habe. Also komm damit klar.“

Als Allie den Mund öffnen wollte – offenbar unwillig, aufzugeben – sagte Des: „Herrgott nochmal. Dad war ziemlich reich, Al. Er war seit Jahren ein berühmter Künstlervermittler und Manager. Allein ein Drittel seines Vermögens würde dich sehr lange stinkreich machen.“ Sie schaute zu Pete. „Stimmt’s, Onkel Pete?“

Er nickte. „Ja. Euer Vater hat ein großes Vermögen hinterlassen. Die Summe, die ihr erben werdet, ist beträchtlich. Zumindest, wenn ihr die restlichen Bedingungen erfüllt.“

„Welche Bedingungen?“, fragte Cara skeptisch.

Jetzt kam der schwierige Teil. Pete räusperte sich erneut und begann den Teil der Verkündung, den er immer und immer wieder geprobt hatte.

„Euer Vater hat jeden von euch sehr geliebt. Ich weiß, dass er sich nicht immer bemüht hat, das zu zeigen.“ Diese Bemerkung war an Allie und Des gerichtet.

„Das ist noch untertrieben“, grollte Allie. „Wenn ein Anruf ab und zu aussagt, wie sehr er uns geliebt hat.“ Sie warf Cara einen stechenden Blick zu. „Aber jetzt wissen wir ja, warum er so beschäftigt war.“

Cara wollte protestieren, aber Pete hob seine Hand. „Glaubt mir, ihr werdet später noch genug Zeit haben, euch zu beschimpfen.“

„Das klingt ja ominös“, sagte Des.

Pete machte mit seiner Ansprache weiter. „Wie ich schon sagte, euer Vater hat euch alle geliebt. Er wollte mehr als alles andere, dass ihr euch kennenlernt und liebgewinnt.“

„Weshalb er sie ja auch geheim gehalten hat.“ Allie zeigte in Caras Richtung.

„Er hat mir von dir aber auch nicht erzählt“, konterte Cara.

„Meine Damen. Bitte.“ Pete legte seine Hand auf den Kopf, eine Geste, mit der er früher sein Haar zurückgestrichen hatte, was mittlerweile fast verschwunden war.

„Wenn es ihm so wichtig war, dass wir uns kennen, warum hat er es uns dann nicht selber gesagt?“, fragte Cara.

„Weil er tief im Innern ein Feigling war.“ Da. Er hatte es ausgesprochen. „Er konnte sich euch einfach nicht stellen. Ich glaube, er dachte, es wäre nicht so wichtig, weil Nora nicht mehr da war. Cara, als Susa gestorben ist, konnte er dir einfach nicht die Wahrheit sagen. Also ließ er die Sache auf sich beruhen und war überzeugt, dass der richtige Moment schon kommen würde. Wie du ja weißt, tat er das nie.“

„Und was kommt jetzt?“, fragte Des leise.

„Euer Vater wollte nicht nur, dass ihr an seinem Reichtum teilhabt, sondern auch an seinem Leben.“

„Ein bisschen spät, was das angeht“, spottete Allie.

„Was er zum Ende hin sehr bereut hat, glaub mir. Er war davon besessen, dass ihr euch kennenlernt. Und deshalb hat er euch dreien eine Herausforderung hinterlassen. Wenn ihr es schafft, erbt ihr sein gesamtes Vermögen. Wenn nicht, bekommt ihr gar nichts.“

Sie begegneten seiner Aussage mit Schweigen und leeren Blicken.

Schließlich sagte Allie: „Bitte sag, dass du uns verarschst.“

„Ich versichere euch, das tue ich nicht. Und das war übrigens auch nicht meine Idee“, erklärte Pete. „Glaubt mir. Ich habe alles getan, was ich konnte, um ihn davon abzubringen. Aber er hat es sich in den Kopf gesetzt, dass das der richtige Weg ist–“

„Was für eine Herausforderung?“, platzte Cara heraus.

„Irgendwas wie die zwölf Aufgaben des Herkules würde ich schätzen.“ Allie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Fast, Allie. Er will, dass ihr drei ein altes Theater in seiner Heimatstadt restauriert. Zusammen.“

„Moment, was?“

„Wie bitte?“

„Ein Theater restaurieren? Hat er den Verstand verloren?“

Pete gab ihnen ein paar Minuten, sich aufzuregen.

„Wenn ihr mit eurem Geschimpfe fertig seid, würde ich gerne weitermachen.“ Er blickte von Allie zu Des zu Cara und wieder zurück. Als sie sich beruhigt hatten, fuhr er fort. „Das Theater wurde von eurem Urgroßvater, Reynolds Hudson, erbaut. Es ist ein Art déco-Schatz und gehört zum National Register of Historic Places.“

„Was, wenn der Besitzer nicht will, dass es restauriert wird?“, fragte Cara.

„Fritz war der Besitzer. Jetzt ist es ein Teil des Vermögens, das ihr erben werdet. Wie gesagt, sein Großvater hat es gebaut, und es hat der Familie noch bis vor etwa zwanzig Jahren gehört. Der neue Besitzer wollte es restaurieren, aber er hat die Kosten stark unterschätzt und war pleite, bevor es fertig war“, erklärte Pete. „Als es vor einem Jahr abgerissen werden sollte, hat Fritz es zurückgekauft. Er dachte, er hätte seinen Vater und Großvater schon im Stich gelassen, als er es überhaupt aus den Händen der Familie gegeben hat. Allein, dass das Gebäude so weit heruntergekommen ist, hat ihm bis zum Schluss zu schaffen gemacht, weil es Teil seines Familienerbes ist.“

„Warum hat er es dann überhaupt verkauft, wenn es so wichtig war?“, fragte Des. „Ich habe nur gehört, dass er mal in einem Theater gearbeitet hat, als er jung war, und da Mom kennengelernt hat.“

„Ich habe davon noch überhaupt nichts gehört“, fügte Cara hinzu. „Und er hat seine Familie mir gegenüber nie erwähnt.“

„Wenn ich’s mir recht überlege, mir gegenüber auch nicht“, sagte Des. „Allie?“

„Nichts.“

„Zeit für eine kleine Geschichtsstunde, meine Damen.“ Pete machte es sich auf seinem Stuhl bequem. „Die Hudson-Familie war entscheidend für die Besiedlung von Hidden Falls, einer Kleinstadt in Pennsylvania. Fritz‘ Großvater gehörten einige Kohleminen, zu der Zeit, als Kohle noch eine große Sache war. Reynolds machte ein Vermögen und sah es als seine Verantwortung an, sein Geld zum Nutzen der Allgemeinheit in die Stadt zu investieren.“

„Also hat er ein Theater gebaut?“, fragte Allie.

„Unter anderem. Er hat außerdem Geld für den Bau des ersten Krankenhauses im Landkreis gespendet, und ein Internat, das für die Kinder seiner Minenarbeiter kostenlos war. Die örtliche Schule wurde auf Land gebaut, das er zur Verfügung gestellt hat. Die Familie war immer stolz darauf, dass die Molly Maguires von Hidden Falls fernblieben, während so viele andere Minen von der Gruppe attackiert wurden, die gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen dort protestierten.“

„Also war er ein echter Philanthrop“, sagte Cara nachdenklich.

„Genau. Die Minen sind schon seit langer Zeit geschlossen, und das Vermögen der Familie bekam einen Knacks in den 1930er-Jahren, aber Fritz‘ Vater – euer Großvater, er hieß auch Reynolds – führte das Theater weiter. Zeigte Filme jede zweite Woche, lud jeden in der Stadt ein, sie sich kostenlos anzuschauen. Seine Frau trommelte ihre Freunde zusammen und gründete eine örtliche Theatergruppe für Kinder und Erwachsene. Die Zeiten waren ziemlich düster, aber das Theater gab den Leuten etwas, was Spaß machte. Jeden Monat konnten sie ein neues Stück sehen, immer kostenfrei. Oh ja, das Theater war fester Bestandteil der Stadt.“ Pete hielt inne. „Ich weiß noch, wie mein Vater mir immer erzählt hat, wie er als Kind mit seiner ganzen Familie dorthin gegangen ist, alle schick herausgeputzt für einen zauberhaften Abend. Das Sugarhouse – also das Theater – hat einen besonderen Platz in der Geschichte der Stadt.“

„Kein Wunder, dass Dad dachte, er hätte Mist gebaut.“ Des nickte.

„Also versteht ihr seinen Standpunkt. Er wollte wirklich das Theater selbst restaurieren, hatte schon ein paar Kostenvoranschläge für die anfallenden Arbeiten angefordert, und hat sogar schon mit der Mechanik angefangen. Ich weiß nicht, wie weit er damit gekommen ist, weil es bald offensichtlich wurde, dass er das Ende des Projekts nicht erleben würde.“ Pete zögerte, als er sich an die letzten Tage mit seinem Freund erinnerte. Er wartete, bis der Kloß in seinem Hals etwas kleiner wurde, ehe er fortfuhr. „Also versteht ihr vielleicht, warum er es zur Bedingung eurer Erbschaft gemacht hat, das Gebäude zu restaurieren und wieder als Theater in Gebrauch zu nehmen.“

„Musste wohl an seinen Medikamenten gelegen haben. Sie haben ihn wahnsinnig gemacht“, sagte Allie. „Er konnte offensichtlich nicht klar denken.“

„Oh, glaub mir, er wusste genau, was er tat. Wir haben alles in jeglicher Hinsicht durchgesprochen“, versicherte Pete.

„Warum hast du ihn dann nicht davon abgebracht?“, sagte Allie fordernd.

„Was soll ich sagen? Du kennst doch deinen Vater: Man hätte es ihm nie ausreden können. Er dachte, damit könnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ihr lernt euch kennen und das Sugarhouse wird erneuert. Eine Win-win-Situation.“

„Von dem offensichtlichen Problem damit mal ganz abgesehen, was hat er sich gedacht, wie wir das schaffen sollen?“, fragte Allie. „Sicher hat er nicht erwartet … Wo war das nochmal?“

„Hidden Falls, Pennsylvania“, antwortete Pete. „Ihr wisst, dass euer Dad und ich zusammen in Pennsylvania aufgewachsen sind, oder?“

„Ich wusste, dass er irgendwo aus Pennsylvania kommt, aber Dad wollte nie über seine Kindheit reden. Ist Hidden Falls irgendwo in der Nähe von Philadelphia? Oder Pittsburgh?“, fragte Des.

„Oder irgendeiner zivilisierten Stadt?“ Allie hielt zwei gekreuzte Finger hoch.

„Es liegt in den Poconos. Bevölkerung …“ Pete stockte. „Tatsächlich habe ich keine Ahnung, wie hoch die Bevölkerung heutzutage ist, aber es ist wahrscheinlich nicht viel.“

„Die Poconos? Ist das nicht ein Gebirge?“ Allie rümpfte mit offensichtlicher Abscheu die Nase. „Warte. Doch nicht etwa die Gegend mit all diesen kitschigen, herzförmigen Badewannen?“

„Genau die.“ Pete lächelte. „Die Welthauptstadt der Flitterwochen.“

„Ich habe jedenfalls keine Lust, bei diesem dämlichen Spiel mitzumachen.“ Allie wandte sich den anderen zwei Frauen zu. „Eine oder beide von euch können ja mitspielen, aber was mich angeht–“

„Wirst du nichts erben“, unterbrach sie Pete. „Tatsächlich wird keine von euch irgendwas erben. Das Geld wandert dann an Wohltätigkeitsorganisationen meiner Wahl.“

Bereit, zu explodieren, fuhr Allie herum. Bevor sie zu Wort kommen konnte, sagte Pete: „Wenn sich irgendeine von euch weigert, oder abreist, bevor das Theater restauriert wurde, wird keine von euch auch nur einen Cent erben.“

„Einer für alle, alle für einen“, murmelte Des.

„Du hast gesagt ‚abreisen‘“, sagte Cara vorsichtig. „Abreisen von wo?“

„Während ihr an eurem Projekt arbeitet, werdet ihr im Haus der Familie eures Vaters wohnen, das euer Urgroßvater gebaut hat.“

„Auf keinen Fall.“

„Niemals.“

„Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Ist mein voller Ernst“, sagte Pete.

„Mit ihr zusammen wohnen? Das kannst du nicht ernst meinen.“ Allie sah erschrocken zu Cara.

„Was heißen würde, dass ich mit euch beiden zusammen wohnen müsste“, antwortete Cara. „Ehrlich, ich glaube, ich komme bei dem Deal schlechter weg.“

„Okay, angenommen, wir würden all dem zustimmen“, überlegte Des laut. „Wie sollen wir die Sanierung bezahlen? Wenn das Gebäude abgerissen werden sollte, nehme ich an, dass es eine Menge Arbeit brauchen wird. Woher sollen wir das Geld nehmen?“

„Von dem Nachlass. Euer Dad hat für das Projekt Geld auf einem speziellen Konto beiseitegelegt. Wäre vielleicht eine gute Idee, eine von euch zu wählen, die für das Scheckbuch verantwortlich ist, denn wenn ihr das, was er eingeplant hat, übersteigt, müsst ihr den Rest der Kosten selber tragen.“ Er wies mit seinem Stift auf Des. „Des, das wäre vielleicht ein guter Job für dich. Dein Dad hat mir oft erzählt, wie gut du mit dem Geld umgegangen bist, das du mit deiner Fernsehserie verdient hast. Wie vernünftig du es investiert hast.“

Cara runzelte die Stirn. „Welche Serie?“

„Lange Geschichte“, sagte Des zu ihr. „Anscheinend werden wir viel Zeit haben, uns alles zu erzählen.“

„Also hat Dad erwartet, dass wir einfach so abrauschen, um einen Job zu erledigen, den er hätte machen sollen.“ Allie sprach aus, was die anderen beiden zweifellos dachten. „Wir haben ein Leben, weißt du. Was ist mit meiner Tochter? Das ist wirklich unerhört unpassend und rücksichtslos von ihm.“

„Deine Tochter kann bei ihrem Vater leben, bis die Schule vorbei ist.“ Petes Geduld ging langsam zu Ende. „Was dich angeht, du bist arbeitslos und hast keine absehbaren Perspektiven, und bist drauf und dran, dein Haus zu verlieren. Also wenn du mich fragst, ist es ein sehr passender Zeitpunkt für dich.“ Sie begann, zu widersprechen, aber Pete schnitt ihr das Wort ab. „Des, du kannst von deinen Anlagen leben und musst nicht arbeiten, und zu dieser Jahreszeit wirst du nicht viel zurücklassen außer den Winter in Montana.“

Er wandte sich Cara zu. „Du hast ein eigenes Geschäft und eine bemerkenswert qualifizierte Assistentin, die das ganze letzte Jahr über gebettelt hat, sich einzukaufen. Jetzt ist eine gute Gelegenheit, zu schauen, wie sie sich als potenzieller Partner machen würde.“ Er sah die Drei an. „Es wird keine großen Schwierigkeiten für euch geben, wenn ihr sofort anfangt. Das ist der letzte Wunsch eures Vaters. Alles, was zwischen euch und eurer Erbschaft steht, ist, ihn zu erfüllen.“

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass er es ernst meint.“ Allie drehte sich zu Des.

„Warum besorgen wir uns nicht einfach unseren eigenen Anwalt und fechten es an? Es muss einen Weg drumherum geben. Unfassbar, dass du uns so etwas antun würdest, Onkel Pete.“

„Ich mache nur das, was euer Vater wollte. Er war mein bester Freund, und ich denke, sein Wahnsinn hatte Methode. Aber wie ihr wollt.“ Pete öffnete eine Schreibtischschublade und nahm drei Umschläge heraus. Er reichte jeder der Frauen einen und sagte: „Hier ist eine Kopie des Testaments. Bitte, bringt sie ruhig zu einem Anwalt eurer Wahl. Aber ihr verschwendet damit nur Zeit und Geld. Als ich gesagt habe, dass am Testament nichts zu rütteln ist, meinte ich das auch so.“ Die drei Frauen starrten auf die Umschläge, aber keine von ihnen öffnete ihn.

„Ich verstehe immer noch nicht, warum er das getan hat“, sagte Cara.

„Nun, ich habe versucht, alles so gut zu erklären, wie ich konnte.“ Pete griff in die offene Schublade und nahm ein kleines Gerät heraus. „Jetzt wird es Zeit, dass ihr direkt etwas von eurem Dad hört.“

„Was?“, fragte Cara.

„Euer Vater hat euch eine Nachricht hinterlassen. Er wollte, dass ich sie abspiele, nachdem ich die Bedingungen seines Testaments durchgegangen bin.“ Er drückte einen Schalter und lehnte sich zurück. Einen Augenblick später hörten die Frauen die Stimme ihres Vaters.

„Ist das Ding hier an? Pete, ist es an?“

„Es ist an, Fritz. Leg los.“

„Okay. Also, Mädchen, wenn ihr das hört – und wenn der alte Pete hier seine Pflicht mir gegenüber getan hat – bin ich nur noch Asche in einer Urne, und bei euch dreien ist gerade eine Bombe eingeschlagen. Ich muss mich bei jedem von euch entschuldigen, für Sachen, die ich getan und auch nicht getan habe. Ich habe nicht genug Zeit, jede Sache aufzuzählen, in der ich euch im Stich gelassen habe, aber bitte wisst, dass es mir von Herzen leidtut, dass ich nicht der Vater bin, den ihr verdient. Ihr sollt wissen, dass ich euch drei mehr als alles andere auf der Welt liebe … auf dieser, auf der nächsten. In welcher auch immer ich lande.“ Er kicherte über seinen Versuch, einen Scherz zu machen, und hustete.

Nach einem Moment fuhr er fort. „Ich möchte, dass ihr versteht, dass ich eure Mütter geliebt habe, beide, auf meine eigene Art und zu ihrer eigenen Zeit. Denkt niemals, dass ihr je schuld an meinem Handeln wart. Allie, damit meine ich dich ganz besonders. Denk einfach an unsere letzte Unterhaltung und an das, was ich dir gesagt habe.“ Er hielt inne und hustete erneut. Als er weitersprach, klang seine Stimme etwas schwächer. „Des, es tut mir leid, dass ich vor deiner Mutter nicht für dich eingestanden bin, als du es brauchtest. Ich hätte nicht zulassen sollen, dass sie dich zu etwas zwingt, was du nicht willst.“ Mehr Husten. „Cara Mia, es tut mir leid, dass ich gelogen habe. Tut mir leid, dass du und Susa meinetwegen all diese Jahre eine Lüge gelebt habt. Tut mir leid, dass ich …“ Hust, hust. „Dass ich alles Pete überlassen habe.“ Die Stimme wurde leiser, als ob Fritz sich vom Recorder abgewandt hätte. „Pete, du bist der beste Freund der Welt. Ich liebe dich wie einen Bruder …“ Noch ein Hustenanfall, länger, stärker dieses Mal.

Dann Petes Stimme. „Fritz, das ist genug.“

„Nein. Ich muss ihnen vom Theater erzählen. Warum es wichtig ist.“

„Ich werde es ihnen sagen.“

„Aber–“

„Ich werde es ihnen sagen. Versprochen.“ Ein schwerer Seufzer von Pete. „Verabschiede dich, Fritz.“

Ein noch schwererer Seufzer von Fritz. „Auf Wiedersehen, Mädchen. Seid gut zueinander. Vertraut einander und euch selbst. Tut, worum ich euch bitte, und alles wird gut werden. Versprochen. Hab euch lieb. Immer.“

Pete wischte sich die Augen und schaltete den Recorder ab. Das einzige Geräusch im Zimmer war das Schniefen der drei Frauen, denen Tränen über ihre Gesichter liefen. Er gab Cara eine Schachtel mit Taschentüchern. Sie nahm sich welche und reichte die Box weiter an Des, die sie mit Allie teilte.

Als sie sich schließlich alle gesammelt hatten, zeigte Cara zu dem nun stummen Recorder. „Wann hat er das gemacht?“

„An dem Nachmittag bevor er starb“, antwortete Pete.

„Wann hat er dir gesagt, dass er krank ist?“, fragte Des.

„Am selben Tag, an dem er es erfahren hat“, gab Pete zu. „Er hatte sehr wenig Zeit, alles in Ordnung zu bringen.“

„Was ist mit seiner Asche passiert?“, fragte Cara.

Pete deutete auf eine große, silberne Urne im oberen Fach eines Bücherregals gegenüber.

„Du meinst, er ist hier?“ Allies Augen weiteten sich. „Er war schon die ganze Zeit hier?“

„In gewisser Hinsicht, ja.“ Pete sah amüsiert zu, wie sich alle drei Frauen umdrehten und die Urne anstarrten. „Ich weiß, das ist alles ein Schock für euch, und was euer Vater von euch verlangt hat, ist … naja, ungewöhnlich, gelinde gesagt. Aber sobald ihr das Theater zum Laufen gebracht habt, beerdigt ihr seine Asche auf dem Friedhof seiner Familie neben seinen Eltern. Dann steht es euch allen frei, zu eurem Leben zurückzukehren, und ihr müsst euch nie wieder sehen.“

Er wartete auf einen Kommentar. Als keiner kam, machte er weiter.

„Okay. In den Umschlägen findet ihr außerdem eine Wegbeschreibung zu dem Haus in Hidden Falls. Euer Vater hat jedem von euch ab heute einen Monat gegeben, dort anzukommen. Denkt dran, ihr alle müsst ab dem Datum anwesend sein, ansonsten kriegt keiner auch nur einen Cent. Wenn irgendeiner von euch abreist, bevor das Theater fertig ist, geht das Geld an eine Wohltätigkeitseinrichtung. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.“

Zufrieden stand er auf. Er hatte sein letztes Versprechen seinem alten Freund gegenüber gehalten. „Noch irgendwelche Fragen?“

Niemand sagte ein Wort.

„Gut. Also, ihr könnt mich ruhig anrufen, wenn euch noch etwas einfällt. Ansonsten nehme ich an, dass ihr alle den Wunsch eures Vaters befolgt.“ Immer noch Stille.

„Alles klärchen.“ Pete ging zur Tür und öffnete sie. „Meldet euch. Sagt mir Bescheid, wie es läuft.“ Pete umarmte jede der drei Frauen und gab ihnen einen Kuss auf den Kopf, als sie wortlos hintereinander das Büro verließen. Er begleitete sie zum Fahrstuhl, drückte den Knopf nach unten, und trat beiseite, während die Drei schweigend die Kabine betraten. Als die Tür zuging, kehrte er zu seinem Büro zurück, erleichtert, dass seine Rolle in Fritz‘ Chaos vorerst vorbei war.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte Marjorie, als Pete an ihrem Tresen vorbeiging. Pete rollte die Augen.

„Also wie wir’s vermutet haben“, antwortete sie. „Naja, es wird sicherlich interessant zuzusehen, wie das hier ausgeht.“

„Oh ja.“

„Glauben Sie, dass sie es schaffen können?“

„Wenn sie sich erst mit der Idee angefreundet haben, sicher. Aber ob sie es können, ohne sich zu zerfleischen …“ Pete zuckte die Schultern.

„Haben Sie ihnen von Barney erzählt?“

„Nö. Den Teil hab ich weggelassen.“ Pete betrat sein Büro, und fügte über seine Schulter gewandt hinzu: „Sie müssen auch etwas selbst herausfinden können.“

Kapitel Zwei

„Erzähl mir alles.“ Darla stürmte durch Caras Hintertür in die hübsche blau-weiße Küche mit einem Strauß Narzissen in einer Hand und einer Flasche Wein in der anderen. „Fang ganz von vorne an, und lass nichts aus. Pack aus.“

Darla öffnete die Flasche und warf den Korken in das glänzende Spülbecken, wo er mit einem Klingeln landete.

Cara packte alles aus.

Darla hing mit aufgerissenen Augen an ihren Lippen.

„Und so habe ich rausgefunden, dass Dad drei Töchter hatte, nicht eine. Und zwei Ehefrauen. Kann sein, dass es eine Ehefrau war und eine, die vielleicht mit ihm verheiratet war, oder auch nicht. Da bin ich mir immer noch nicht sicher.“

„Das ist ja … das ist …“ Darla suchte nach Worten. „Einfach unfassbar. Dein Vater …“

„Ich weiß. Ich kann es immer noch nicht glauben.“ Cara füllte eine Vase mit Wasser und arrangierte gedankenverloren die Blumen.

„Und du hast nie etwas geahnt …?“

„Wie denn? Wer fragt sich denn, ob sein Vater noch eine andere Frau und Kinder – eine ganz andere Familie – irgendwo geheim hält?“ Cara stellte die Blumen auf die Theke. „In unserem Fall waren wir natürlich die geheime Familie, denke ich.“

„Das klingt jetzt bestimmt dämlich. Ich meine, ich hasse es, wie einer dieser Fernsehreporter zu klingen, der jemandem ein Mikro ins Gesicht drückt und wissen will: ‚Und wie fühlt es sich an, wenn einem ins Gesicht geschossen wird?‘“ Darla goss Wein in beide Gläser und reichte Cara eins davon. „Aber wie fühlst du dich?“

„Ich weiß nicht, was das richtige Wort dafür ist. Ich weiß nicht, ob es das richtige Wort überhaupt gibt. Fassungslos. Traurig. Verraten. Wütend. Verletzt. Für mich selbst und meine Mom.“ Sie klopfte leise mit den Fingern auf ihrem Glas herum.

„Hat sie es gewusst?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Cara dachte an die letzten Worte ihrer Mutter zurück. „Vielleicht. Ich habe Onkel Pete gefragt, aber keine klare Antwort bekommen. Vielleicht hat sie es gewusst und es hat sie einfach nicht gekümmert. Sie hat sich nicht immer um Dinge gekümmert, die anderen wichtig waren. Sie war einfach so ein Freigeist.“

„Naja, Freigeist oder nicht, alles ist in Ordnung, solange man glücklich mit seinem Leben ist. Susa schien glücklich zu sein. Ich habe noch nie erlebt, dass sie sich über etwas beklagt hätte.“

„Sie hat immer gesagt, sie liebe ihr Leben, also ja, sie war glücklich. Sie hatte ihren Laden und ihr Yoga und ihre Gärten und ihr Stricken.“ Es war so viel einfacher, über ihre Mutter zu reden, als über ihren Vater. „Sie hat immer gesagt, wenn man über die schlechten Sachen redet, öffnet man Negativität die Türen zu seinem Leben. Besser, auf das Gute zu schauen, Dinge zu finden, die Freude bringen.“

„So wie all ihre Bastelprojekte“, erinnerte Darla sie. „Weißt du noch, als sie uns Batik beigebracht hat?“

„Wir hatten wochenlang rote Finger von der Farbe, die sie natürlich selbstgemacht hat, Susa eben.“ Cara lachte. „Ich muss immer an sie denken, wenn ich Rote Bete sehe.“

Cara legte den Kopf in die Hand, den Ellbogen auf den Tisch gestützt.

„Ich habe es immer so cool gefunden, dass meine Mutter anders war als die anderen. Sie hatte immer Zeit für mich. Sie hat mich nie weggescheucht oder ist meinen Fragen ausgewichen. Sie war so eine sanfte Seele. Offen und ehrlich. All diese Dinge – ihre Sanftheit, ihre Ehrlichkeit, ihre Einzigartigkeit, ihre Lebensfreude – hat mein Vater an ihr geliebt.“ Cara blickte für einen langen, stillen Augenblick in ihren Wein. „Ich kann das, was ich heute gelernt habe, nicht mit dem Vater in Einklang bringen, den ich kannte. Ich weiß, dass er mich geliebt hat. Ich weiß, dass er meine Mutter geliebt hat. Manchmal kam es mir so vor, sie wären so verliebt, dass sie niemand anderen brauchten, nicht mal mich. Dar, ich komme einfach nicht damit klar, dass er eine andere Frau und andere Töchter hatte.“

„Wie sind sie so? Deine Schwestern?“

„Halbschwestern“, korrigierte Cara. „Ich war nur eine Dreiviertelstunde mit ihnen zusammen, also weiß ich nicht wirklich, wie sie sind.“

„Erster Eindruck?“

„Die Ältere, Allie, wirkt bitter. Kühl. Die Jüngere, Des, kam nicht so hart rüber wie Allie.“ Cara rollte die Augen. „Aber mal ehrlich, wer nennt seine Kinder Allegra und Desdemona?“

„Ich schätze, derselbe Typ, der dich Cara Mia Starshine genannt hat.“

„Das ‚Starshine‘ war Susas Idee.“

„Ach nee.“

„Aber ich weiß, dass die beiden genauso verblüfft waren wie ich, da bin ich mir sicher. Besonders Allie. Sie war nicht sehr nett. Tatsächlich war sie ziemlich zickig deswegen.“

„Man kann es ihr nicht verdenken.“ Darla fügte hastig hinzu: „Ich will sie nicht verteidigen oder so, aber Fritz war zuerst mit ihrer Mutter verheiratet, oder? Also denkt sie vielleicht, dass du und Susa ihr was weggenommen habt. Als ob sie zuerst da war, und … oh Mist, ich weiß auch nicht, was ich hier rede.“ Darla vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Vergiss, dass ich das gesagt habe.“

„Nein, du hast ja Recht. Er gehörte zuerst zu ihnen. Ich weiß nicht, was sich zwischen Dad und ihrer Mutter abgespielt hat, oder warum und wann er sie verlassen hat – eigentlich, wenn ich recht drüber nachdenke, weiß ich nicht mal, ob er ihre Mutter überhaupt je verlassen hat. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihn nicht oft gesehen haben. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er sich mehr mit Susa und mir beschäftigt hat, bei der ganzen Zeit, die er hier verbracht hat; auf der anderen Seite hat er jeden Monat all diese Ausflüge zur Westküste gemacht.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Jetzt weiß ich wenigstens, warum er seine Geschäfte in Kalifornien gelassen hat und mich und Susa hier draußen in New Jersey.“

„Ich glaube nicht, dass Susa umgezogen wäre, selbst wenn er sie gefragt hätte.“

„Sie hat es geliebt, in dieser kleinen Stadt zu leben und jeden zu kennen und ihren kleinen Laden und ihre Freunde zu haben“, sagte Cara, und ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Hatte er nicht ein Glück?“

„Glück, ja, aber er kannte Mom gut genug, um zu wissen, dass sie nie L.A. besuchen wollte, selbst wenn er sie für ein Wochenende einlud. Sie hasste es, zu fliegen, und sie hat immer gesagt, sie hat genauso wenig Interesse an seinen Geschäften, wie er an ihren.“

„Und wie sahen sie aus?“

„Allie ist groß und dünn. Echt, wie ein Model. Elegant. Sehr schick. Bestimmt Designerklamotten, aber ich könnte dir die Marke nicht sagen. Lange, glatte, blonde Haare. Sie hatte einfach diesen Look, weißt du? Gefasst, hip und echt schön. Viel hübschen Schmuck.“

„Echten?“

Cara zuckte die Schultern. „So nah bin ich nicht gekommen. Aber sie hat so ausgesehen, wie ich mir eine Hausfrau aus Beverly Hills vorstelle.“

„Und die andere Schwester?“

Cara dachte einen Moment nach. „Des ist völlig anders als Allie. Zum einen ist sie kleiner und runder. Und eher hübsch als schön. Haare sehr ähnlich wie meine, nur dunkler, lockiger und kürzer. Ich schätze, ein eher einfacherer Lebensstil – hohe Lederstiefel und hübsche Jeans, ein toller Sweater, gute Lederjacke und wunderschöne Lederhandtasche. Alles an ihr wirkte entspannt und cool und teuer, aber echt auf dem Boden geblieben. Sie war so überrascht wie Allie und ich, aber sie ist nicht ausgeflippt.“

„Wie seid ihr auseinandergegangen?“

„Ich habe mit ihnen den Fahrstuhl genommen, aber keiner hat auch nur ein Wort gesagt. Als sich die Türen geöffnet haben, ist Allie einfach weggegangen, so als ob sie uns nicht kennen würde. Als wir dann draußen waren, hat Des so was gesagt wie ‚Also, ich schätze wir sehen uns dann nächsten Monat in Hidden Falls.‘“

„Was hast du gesagt?“

„So was wie ‚Ja, bis dann.‘ Komisch, ich glaube nicht, dass sie zusammen da waren. Merkwürdig, oder? Ich hätte erwartet, dass sie zusammen kommen, aber Allie ist ins Parkhaus gegangen, und Des ist über die Straße und in ihr Auto gestiegen.“

„Vielleicht leben sie in unterschiedlichen Teilen des Landes.“

„Möglich. Aber trotzdem, wenn es meine Schwester gewesen wäre, hätte ich nachher mit ihr Mittag essen gehen wollen, um über die Bombe zu reden, die bei uns eingeschlagen hat. Aber Allie ist weggegangen und Des hat nicht mal reagiert, so als ob es sie nicht überrascht hat oder es ihr egal war.“

Sie hielt inne. „Wenn sie meine Schwester wäre …“

„Das ist sie“, erinnerte Darla sie. „Sie ist deine Schwester.“

„So, wie sie sich verhalten hat, würde man nicht ahnen, dass sie mit Des oder mir verwandt ist. Sie ist einfach … zack. Weg.“

Cara schwenkte ihren Wein und nahm einen großen Schluck.

„Ich dachte, ich kannte meinen Vater so gut. Ich wusste, was ihn zum Lachen brachte, und was für Bücher er mochte – Geschichte, Bücher über Präsidenten und andere historische Persönlichkeiten. Seine Lieblingsautoren – John Meacham und Doris Kearns Goodwin, Pat Conroy und James Lee Burke. Seine Lieblingsfilme – Autorennen und Ballerfilme. Maryland-Krabben lieber als Alaska-Krabben, Muscheln, aber nie Austern. Ich wusste, dass Sommer seine Lieblingsjahreszeit war, und dass er Bier lieber mochte als Wein, und dass er sein Steak blutig mochte. Er liebte Flieder und hasste den Duft von Gardenien, mochte große Hunde und große Autos. Ich wusste, dass er es liebte, abends am Strand spazieren zu gehen, und dass er Reality TV liebte.“ Sie schüttelte den Kopf. „Und doch kannte ich ihn überhaupt nicht.“

„Also, was wirst du jetzt machen?“ Darla hob ihr Glas und leerte es.

„Jetzt werde ich das Abendessen machen, was ich dir versprochen habe.“ Cara trank ihr Glas aus und schenkte dann Darla nach.

„Ich meinte–“

„Ich weiß, was du meintest. Ich werde mit Meredith reden, ob sie für eine Weile übernimmt – sie wollte sich schon länger ins Studio einkaufen, also wäre das ein guter Weg für sie, rauszufinden, ob sie das wirklich machen möchte. Dann fahre ich nach Hidden Falls, Pennsylvania. Mit Drews Hochzeit auf den Fersen – von der anstehenden Geburt seines Kindes ganz zu schweigen – habe ich nichts dagegen, eine Ausrede zu haben, eine Weile wegzugehen. Wenn ich wieder zurückkomme, ist die Hochzeit eine abgeschlossene Sache, und der Tratsch wird sich gelegt haben. Ich bin es satt, davon zu hören. Ich bin sicher, die Tatsache, dass Drew McCann Frau Nummer 1 für Frau Nummer 2 abgeschossen hat, wird bis dahin nur eine ferne Erinnerung sein.“

Cara stieß mit ihrem Glas gegen den Rand von Darlas. „Auf Hidden Falls, und was auch immer ich da finden mag.“

„Was hoffst du, da zu finden?“

Cara lehnte sich gegen die Kücheninsel.

„Meinen Dad“, sagte sie schlicht. „Ich will rausfinden, wer mein Vater wirklich war, weil er offensichtlich nicht der Mann war, für den ich ihn gehalten habe.“

Cara saß vor der Hudson Street 725, ihr Auto mit laufendem Motor auf Parken geschaltet, während die Heizung gegen den kalten Märzwind anblies, und starrte auf das große viktorianische Haus, was aus dem Vorgarten emporzuwachsen schien. Sie verglich die Adresse mit den Informationen, die Pete in den Umschlag getan hatte. Das war definitiv der richtige Ort. Das war das Zuhause der Familie ihres Vaters, der Ort, an dem er aufgewachsen war, dieser imposante Riese, der einsam auf einem Grundstück saß, das den gesamten ersten Block der Hudson Street einnahm.

Sie hätte nicht so etwas wie das hier erwartet, nicht so etwas prachtvolles, mit seiner Veranda und Türmchen, die zwei Stockwerke hoch aufragten, mit der Außenwand von leicht pinkem Backstein und weißen Zierelementen, die wie Schlagsahne auf den Türmchen und den Fenstern saßen. Überall, wo sie angebracht werden konnten, waren Verzierungen hinzugefügt worden, und ein Kutschentor streckte sich von der rechten Seite des Hauses über die Auffahrt zu etwas, das wahrscheinlich eine Remise war. Die Auffahrt wurde an einer Seite mit alten Kiefern gesäumt und mit hohen Bäumen an der anderen, alle immer noch kahl, sodass sie nicht sicher war, ob sie Ahornbäume oder Eichen waren. Cara hatte vermutet, dass ihre Großeltern gut betucht gewesen waren, dem nach zu urteilen, was Pete ihnen über ihre Philanthropie erzählt hatte, aber trotzdem hatte sie nicht erwartet, dass ihr Heim derart prunkvoll war. Cara versuchte, sich ihren Vater hier vorzustellen. Hatte er mit seinem Vater Ball gespielt oder mit seinen Freunden auf dem Hof?

Das Grundstück schien gut gepflegt zu sein, das Gras und die Büsche waren ordentlich gestutzt. Die hohen Bäume hatten keine toten oder hängenden Äste, soweit sie sehen konnte. Wer, fragte sich Cara, hatte sich um das Grundstück gekümmert? Hatte Fritz einem Team einen Vorschuss bezahlt, um sein Elternhaus in Stand zu halten?

Sie machte das Radio aus und wappnete sich dafür, auszusteigen. Einen Moment später fuhr ein Auto gemächlich vorbei, und Cara fragte sich, ob es vielleicht Des oder Allie gewesen war, aber das Auto fuhr bis zur Straßenecke weiter, wo es links abbog. Der Haustürschlüssel hing am selben Ring wie die Autoschlüssel, aber Cara konnte sich nicht dazu überwinden, die Auffahrt hochzugehen und die massive Tür aufzuschließen.

Sie wollte außerdem nicht die erste sein, die ankam, wollte nicht diejenige sein, die den anderen die Tür öffnete und sie begrüßte, wenn sie ankamen, und aus irgendeinem Grund wollte sie nicht allein in diesem Haus sein. Sie war schon nervös genug, ihre Halbschwestern wiederzusehen, besonders unter solch bizarren Umständen. Cara hatte sich selbst versprochen, aufgeschlossen zu bleiben, alles zu tun, was sie auch tun musste, um mit den anderen beiden klarzukommen, sogar zu versuchen, sie kennenzulernen, wie ihr Vater es gewollt hatte. Sie war nicht so naiv, zu glauben, dass es einfach werden würde. Nichts davon würde einfach werden.

Sie hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, und obwohl Darla ihr einen ganzen Berg Muffins und einen Stapel Brownies mit auf den Weg gegeben hatte, wollte Cara etwas Richtiges essen. Einen Veggieburger vielleicht, und einen richtig guten Salat. Sie drehte um und fuhr Richtung Main Street, zwei Blocks weiter. Sie war auf dem Weg durch die Stadt am Hudson Diner und einem kleinen Restaurant vorbeigefahren. Jedes davon würde heute reichen.

Sie parkte auf dem kleinen Gemeindeparkplatz, stieg aus dem Auto, und ging zum Diner, aber nicht, bevor sie nicht ihren Mantel um sich gezogen und ihren Kopf gegen den Wind gesenkt hatte. Der März kam in der Tat wie ein Löwe nach Pennsylvania. Wo war das Theater?, fragte sie sich, als sie die Main Street einmal rauf und runter schaute. Wie bald konnten sie es sich ansehen? Wie würden sie die Reparaturen einschätzen, und wie würden sie und die anderen zwei den Job angehen und die Aufgabe erfüllen können, die Fritz ihnen hinterlassen hatte? Würden sie miteinander auskommen? Wie unangenehm würde der erste Abend werden?

Sie fragte sich, ob die anderen beiden zusammen anreisen würden. Diese Frage wurde ihr eine Viertelstunde später beantwortet, als Cara in einer Nische saß und den Brief noch einmal durchlas, den Pete ihr geschickt hatte. Der Brief, in dem er sie und die anderen an „die Spielregeln“ erinnerte, wie er sich ausgedrückt hatte.

„Entschuldige, Cara, aber wäre es okay, wenn ich mich zu dir setze? Würde es dir was ausmachen?“

Überrascht, ihren Namen an einem Ort zu hören, wo sie niemanden kannte, sah Cara auf. „Oh. Hi, Des.“

„Wenn es dir zu unangenehm ist, wäre das okay. Es sind noch andere Tische verfügbar, und ich kann–“

„Nein, nein. Ist in Ordnung. Wirklich. Ich war nur überrascht, dich zu sehen.“

„Ich dachte, ich hole mir was zu essen, bevor ich zum Haus fahre“, erklärte Des. „Ich war schon drüben, aber ich konnte einfach nicht … Ich wollte nicht als Erste da sein. Ich wollte nicht allein in dieses leere Haus gehen.“

„Das ging mir auch so.“ Cara bedeutete Des mit einer Geste, sich hinzusetzen. „Ich hatte Hunger nach der Fahrt, und habe nicht gedacht, dass Essen im Haus ist. Ich schätze, wir müssen einkaufen gehen, nachdem wir uns heute Abend eingerichtet haben.“

„Ich hoffe, dass irgendwas hier offen hat. Sieht hier so aus, als ob ‚Macht um acht die Schotten dicht‘ ihr Stadtmotto sein könnte.“

Cara steckte den Brief wieder in den Umschlag zurück, aber Des hatte schon gesehen, was sie gelesen hatte.

„Ich habe eben auch meine Kopie nochmal durchgelesen.“ Des glitt auf den verschlissenen Sitz der Bank und legte ihre Tasche und ihre Jacke neben sich. „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich finde diese ganze Sache immer seltsamer und seltsamer.“

„Es ist … naja, ja. Es ist merkwürdig. Alles an dem hier ist merkwürdig.“

„Glaubst du, wir werden es schaffen? Lange genug durchhalten, um zu tun, was er wollte?“ Des lachte leise. „Typisch von ihm. Ein Theater restaurieren! Als ob das was wäre, was wir an einem langen Wochenende angehen könnten.“

„Ich glaube nicht, dass er dachte, es würde einfach werden. Wenn er nur gewollt hätte, dass das Theater restauriert wird, hätte er jemanden einstellen können. Ich denke, er wollte uns alle drei herausfordern. Uns zur Zusammenarbeit bringen.“

„Um uns zu zwingen, uns kennenzulernen?“ Des schüttelte den Kopf. „Es muss einen einfacheren Weg geben, als drei Fremde zu zwingen, miteinander zu leben, und zu hoffen, dass wir uns dabei annähern.“

„Ich bin die einzige Fremde“, erinnerte Cara sie.

„Die Beziehung von Allie und mir kann man kaum schwesterlich nennen. Wir sehen uns nie, und telefonieren auch nur selten. Dir ist vielleicht aufgefallen, dass sie nach dem Treffen mit Onkel Pete einfach weggegangen ist, als ob sie uns nicht kennen würde.“

„Also nehme ich an, ihr habt die Fahrt nicht zusammen gemacht?“

„Ich habe sie angerufen, um vorzuschlagen, dass wir unsere Flüge so legen, dass wir uns am Flughafen treffen und ein Auto mieten, aber sie ist nicht rangegangen. Ich habe ihr auf den Anrufbeantworter gesprochen, aber sie hat mich nicht zurückgerufen. Typisch Allie. Ich mache mir nichts mehr draus.“ Des schaute sehnsüchtig auf ein Tablett, das eine Kellnerin gerade zum Nebentisch brachte. „Hast du schon bestellt?“

„Einen Veggieburger und einen Salat.“ Cara winkte die Bedienung heran und bat um eine Speisekarte für Des.

„Du bist Vegetarierin?“

„Hauptsächlich. Aber ich bin nicht sehr streng damit. Ab und zu esse ich Eier und Milchprodukte, und manchmal auch Fisch, aber nie Fleisch. Nie etwas mit Fell oder Hufen.“

Die Kellnerin war schnell zurück und reichte Des die Karte, die sie schnell überflog.

Des klappte die Karte zusammen und gab sie der Kellnerin. „Ich hätte gerne auch einen Burger, aber mit Rind, bitte. Gut durchgebraten. Pilze und Schweizer Käse, rote Zwiebeln, keine Tomaten oder Salat. Und einen ungesüßten Eistee.“

Die Kellnerin notierte die Bestellung und ging zur Küche. Nun, da sie das anfängliche nette Geplapper erschöpft hatten, folgte eine angespannte Stille.

Schließlich sagte Cara: „Und, glaubst du, sie kommt? Allie?“

„Mich überrascht bei ihr gar nichts mehr. Aber solange sich ihre finanzielle Lage den letzten Monat über nicht drastisch verändert hat, wird sie wahrscheinlich hier sein. Sie braucht das Geld von dem Nachlass. Sie wird nicht nett dabei sein, und die komplette Zeit über eine echte Nervensäge.“ Des hielt inne. „Nimm nichts davon persönlich.“

„Das werde ich nicht. Aber es ist komisch, dass sie dich nicht mal angerufen hat, um zu fragen, wie es dir mit der ganzen Sache geht.“

„Wie es mir mit etwas geht, ist das letzte, woran sie denkt, da bin ich sicher.“ Des lehnte sich zurück, als die Kellnerin ihren Eistee servierte. „Wie gesagt, wir stehen uns nicht sehr nah. Sie kann manchmal ein bisschen gereizt sein. Das ist dir ja bestimmt aufgefallen, als wir bei Onkel Pete waren.“

„Sie schien die ganze Sache – also mich – nicht gut aufzunehmen.“

„Allie nimmt nichts gut auf, was Allie nichts nützt.“

„Wir wurden alle aus der Bahn geworfen an dem Tag. Das Letzte, was ich erwartet hatte, als ich zu Petes Büro gegangen bin, war rauszufinden, dass mein ganzes Leben eine einzige große–“

Des unterbrach sie. „Wenn du ‚Lüge‘ sagen willst, tu’s nicht. Fang gar nicht erst damit an. Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Ich habe versucht, vernünftig zu sein, und es mit Dads Augen zu sehen. Ich versuche, fair zu sein.“

„Und wie klappt‘s?“

„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich es verstehe. Ich dachte wirklich, ich hätte ihn gekannt, aber jetzt …“

„Das dachte ich auch.“ Cara rührte in ihrem Eistee und versuchte, die Übelkeit zu ignorieren, die sie mittlerweile immer überkam, wenn sie über das verworrene Leben ihres Vaters nachdachte.

Des dachte einen Augenblick nach. „Ich glaube, wir kannten immer nur je einen Teil von ihm, was immer er jede von uns sehen lassen wollte. Für uns war er der hochleistungsfähige Künstleragent, der immer woanders hinflog, um sich mit einem Kunden zu treffen, der Dad, der wenig Zeit mit uns verbringen konnte, aber der uns immer riesige, sensationelle Geschenke gemacht hat, bei denen deine Freunde vor Neid erblasst sind. Ich weiß aber, dass er uns geliebt hat: Ich will hier nicht andeuten, dass er es nicht getan hat. Das war nur seine Art.“

„Das war nie seine Art bei mir. Er schien immer Zeit zu haben. Meine Mutter hätte ihm nicht gerade geraten, das riesige-sensationelle-Geschenk-Ding zu machen, aber es gab Zeiten, wo er es gemacht hat. Meine Mom war so gemäßigt. Sie hielt nichts davon, mit Geld um sich zu werfen.“

Des lachte. „Was meine Mutter anging, konnte man gar nicht genug davon werfen.“

„Komisch, dass er so anders mit uns war“, sagte Cara. „Es klingt so, als ob er sich den Frauen angepasst hätte, mit denen er zusammen war. Gemäßigte Susa, gemäßigtes Leben.“

„Teure Nora, teures Leben.“ Des nickte. „Interessant.“

Die Bedienung erschien am Tisch mit Caras Veggieburger und Salat.

„Ihr Burger kommt in einer Minute“, sagte sie zu Des.

„Cara, na los, iss was. Du musst nicht auf mich warten. Du siehst aus, als wärst du am Verhungern.“

„Das bin ich. Danke.“ Cara nahm einen Bissen von ihrem Burger. „Also, denkst du, Dad hat sich diese verrückte Angelegenheit ausgedacht, weil er wollte, dass wir das Puzzle zusammensetzen?“

„Es ist schwer rauszufinden, was er sich gedacht hat. Onkel Pete meinte, Dad sei zum Ende hin eingefallen, dass er schon vor Jahren allen die Wahrheit hätte sagen sollen.“

„Ich weiß nicht, wie das mit deiner Mutter gelaufen wäre. Meine war ein ziemlicher Freigeist, aber trotzdem, es kann sein, dass sie widersprochen hätte.“

„Sobald meine Mutter gestorben war, hätte er deiner Mutter die Wahrheit sagen sollen, und vielleicht wäre es gutgegangen.“

„Ich weiß ja nicht. Was hätte er denn sagen können?“ Cara senkte die Stimme. „‚Oh Susa, übrigens, habe ich mal erwähnt, dass ich mit jemand anderem verheiratet war, als ich dich geheiratet habe? Aber sie ist verstorben, also müssen wir uns nicht um diese lästigen Gesetze zur Doppelehe kümmern.‘“

„Vielleicht wollte er es ihr ja sagen. Es uns sagen.“ Des seufzte. „Ach was soll’s, es macht keinen Sinn, zu spekulieren, sie sind alle fort.“

„Ich glaube, Pete hatte Recht. Dad war ein Feigling, und er konnte uns nicht mit der Wahrheit unter die Augen treten.“ Cara stocherte in ihrem Salat. „Er hat dafür gesorgt, dass Pete die Neuigkeiten überbringt, und jetzt bringt er uns drei dazu, diese absurde Renovierung zu veranstalten.“

„Ich frage mich, ob das Theater wirklich so schlecht in Schuss ist, wie Onkel Pete es dargestellt hat. Vielleicht ist es nicht mal so ein großes Projekt.“ Des sah für einen Augenblick hoffnungsvoll aus. „Aber andererseits, wenn es wirklich so einfach gewesen wäre, hätte er es wahrscheinlich selbst gemacht.“

„Wir sind alle klug und kompetent, stimmt’s?“, sagte Cara. „Wir kriegen das schon hin.“

„Ich mag deine positive Einstellung.“ Des lächelte zum ersten Mal, seit sie sich hingesetzt hatte. „Ich glaube, ich werde es schön finden, dich kennenzulernen.“

„Ich glaube, ich werde es auch schön finden, dich kennenzulernen.“ Cara fügte beinahe hinzu: Und ich glaube, vielleicht finde ich es sogar gut, dich als Schwester zu haben. Aber stattdessen nahm sie noch einen Bissen von ihrem Burger. Eine Unterhaltung machte noch keine Schwester.

Die zwei aßen zu Ende und redeten Smalltalk, bis die Kellnerin an ihrem Tisch stehen blieb und fragte: „Nachtisch, die Damen?“

Cara schaute Des über den Tisch an. „Ich habe selbstgemachte Brownies im Auto.“

„Oh, na dann. Kein Nachtisch für mich“, sagte Des zu der Bedienung.

Als sie draußen waren, blieb Des auf dem Bürgersteig stehen. „Ich habe drüben an der Straße geparkt.“

„Und ich auf dem Parkplatz hinter dem Diner. Dann treffen wir uns am Haus.“

„Ich könnte auf dich warten, wenn du möchtest“, bot Des an.

„Danke, aber ich muss noch tanken. Da sind nur noch Dämpfe drin.“

„Ich habe eine Tankstelle ein oder zwei Blocks weiter gesehen. Ich fahre weiter zum Haus, aber ich werde schön in meinem warmen Auto auf dich warten.“ Des sah etwas argwöhnisch aus. „Es würde mich nicht wundern, wenn es da spukt.“

Cara lachte und ging um das Gebäude herum zum Parkplatz, ihren Kopf gegen den Wind eingezogen, und stieg in ihr Auto. Die Tankstelle war einen Straßenblock weiter, zwischen der Polizeistation und einer Bar. Cara hielt an einer der zwei Zapfsäulen, kurbelte ihr Fenster herunter, und wartete darauf, dass der Tankwart herauskam. Während sie wartete, nahm sie ihre Kreditkarte aus ihrem Portemonnaie und einen großen Schluck Wasser aus der Flasche im Getränkehalter, und checkte ihre Emails. Von Zeit zu Zeit sah sie zur Geschäftsstelle rüber. Sie konnte durch die Fenster eine ältere Frau hinter dem Tresen sehen, und zwei Männer, die sich unterhielten, von denen einer eine Polizeiuniform zu tragen schien. Einige Momente verstrichen, und immer noch kam niemand heraus, um sie zu bedienen.

Nach ganzen fünf Minuten stieg Cara aus dem Auto. Polizist hin oder her, sie musste sich auf den Weg machen.

Cara ging rasch zum Gebäude und öffnete die Tür, während der Wind ihre Haare ins Gesicht peitschte.

„Entschuldigung“, sagte sie. „Tut mir leid, Sie zu unterbrechen, aber ich brauche Benzin.“ Sie zeigte hinter sich in Richtung ihres Subarus. „Ist hier ein Angestellter im Dienst?“

Drei Augenpaare richteten sich auf sie und ruhten auf ihr.

Einer der Männer war, wie sie vermutet hatte, ein Polizeibeamter. Der andere hatte dicke, blonde Haare und trug Jeans und, trotz der Kälte, ein Sweatshirt, dessen Ärmel an den Ellbogen abgerissen waren. Er machte sich keinerlei Mühe, zu verbergen, dass er sie unverhohlen abcheckte, mit einer Mischung aus Interesse und Neugier.

„Brauchen Sie Wechselgeld?“, fragte die Frau hinter dem Tresen. Sie setzte ihre Brille auf, und es schien, als ob sie versuchte, einen besseren Blick auf Cara zu werfen.

„Nein, ich benutze eine Kreditkarte“, antwortete Cara. Sie konnte fühlen, wie sie rot wurde, obwohl sie versuchte, die Blicke zu ignorieren.

Es folgte ein merkwürdiges Schweigen. Für einen Moment rührte sich niemand. Schließlich sagte der Typ in den Jeans: „Ich kümmere mich drum, Sally.“ Er hielt Cara die Tür auf und folgte ihr dann zu ihrem Auto.

„Was brauchen Sie?“ Er öffnete die Tankklappe.

„Normal.“ Sie glitt hinters Steuer und war sich unangenehm bewusst, dass er sie dreist mit seinem Blick verfolgte. „Volltanken, bitte.“ Sie schloss zum Schutz vor der Kälte ihr Fenster und drehte die Heizung hoch.

Der Polizeibeamte kam aus dem Geschäft und winkte. Cara hörte ihn rufen: „Bis morgen früh.“

Der Angestellte winkte zurück, schraubte dann die Kappe des Tanks ab und füllte ihn auf, bis sich die Pumpe abschaltete. Er nahm den Stutzen heraus und verschloss den Tank mit einer Drehung, und ging dann zu ihrem Fenster.

„Das wären dann genau fünfunddreißig Dollar“, sagte er.

Cara gab ihm die Karte.

„Bin gleich zurück.“ Er ging in den Laden, um ihre Karte durchzuziehen. Die Frau hinter dem Tresen sagte etwas und sie lachten beide. Er kicherte immer noch, als er eine Minute später wieder rauskam und Cara den Zahlungsschein zum Unterschreiben reichte.

„Danke“, sagte Cara.

„Also, Sie sind aus Jersey.“ Er lehnte sich lässig gegen die Fahrertür.

Cara schaute hoch in sehr blaue Augen und nickte. „Lassen Sie mich raten. Das Nummernschild hat mich verraten?“

„Nee.“ Er schüttelte den Kopf, seine Augen immer noch auf sie fixiert. Cara fiel auf, dass sein Gesicht aus der Nähe eher interessant als gutaussehend wirkte. Er hatte diese hohen Wangenknochen und langen Wimpern, für die die meisten Frauen sterben würden.

Sie hasste es, es sich selbst einzugestehen, aber die Kombination aus diesen kristallklaren blauen Augen und diesen blonden Haaren war fesselnd, und vollkommen maskulin. Sein Gesicht hätte hübsch sein können, ohne den flachen Teil seines Nasenrückens, der vielleicht am falschen Ende einer Faust gelandet war, aber der ihm nichts von seiner Anziehung nahm. Wenn überhaupt, vergrößerte er sie.

„Was war es dann?“ Sie zwang sich, wegzuschauen, um zu unterschreiben, und gab ihm dann den Schein zurück.

„Wussten Sie, dass New Jersey einer von nur zwei Staaten ist, in denen ein Angestellter per Gesetz den Tank füllen muss? Oregon ist der andere, falls es Sie interessiert.“ Er nahm den Schein und trat vom Auto zurück. „Überall sonst ist Selbstbedienung. Wie hier in Pennsylvania.“ Er lächelte. „Wo jeder selbst tankt.“

Sie starrte ihn stumm an, während sie rot anlief.

„Und jetzt Ihnen eine gute Nacht.“ Er reichte ihr einen Beleg und gab ihrer Motorhaube einen leichten Klaps, bevor er mit langen und lässigen Schritten zum Geschäft zurückging.

Mit brennenden Wangen fuhr sie los zur Hudson Street. Was wusste sie denn, dass man in Pennsylvania selbst Benzin tankte? Sie hatte ihr ganzes Leben in New Jersey gewohnt und noch nie eine Zapfsäule bedienen müssen.

Kein Wunder, dass sie gelacht hatten. Sie versuchte, Empörung darüber zu sammeln, dass sie über sie gelacht hatten, sowie, dass er sie so offensichtlich abgecheckt hatte. Ihre Empörung hielt nur so lange, bis sie sich selbst daran erinnerte, dass sie ihn genauso gründlich unter die Lupe genommen hatte.

Cara fuhr in die Einfahrt hinter Des und dachte, dass sie diesen Tank sehr lange würde schonen müssen.

Als Des Cara sah, stieg sie aus ihrem Auto, öffnete den Kofferraum und begann, ihre Koffer auszuladen.

„Du hast es also ernst gemeint, nicht allein reinzugehen“, rief Cara ihr zu.

„Ich gehe da auf keinen Fall allein rein.“ Des deutete auf das Haus. „Aber guck mal – da ist Licht in einem der hinteren Räume.“

„Wahrscheinlich hat es derjenige angelassen, der sich um das Haus kümmert“, antwortete Cara. „Hast du deinen Schlüssel?“

„Ja, hier.“ Des hob ihre Hand, gerade als ein weiteres Auto hinter Cara hielt. „Das muss Allie sein.“

Die zwei Frauen hatten sich gerade auf den Weg zu dem dritten Auto gemacht, als ein Polizeiwagen heranfuhr und am Fuß der Einfahrt anhielt. Der Polizist, der ausstieg, war derselbe, den Cara an der Tankstelle gesehen hatte. Er ging auf Allies Auto zu und bedeutete Allie mit einer Handbewegung, ihre Scheibe runterzulassen.

„Oh-oh“, flüsterte Des. „Das sieht nicht gut aus.“

„Ich glaube, wir sollten hier warten“, sagte Cara. „Das sieht nicht wie ein Freundschaftsbesuch aus.“

Sie sahen zu, wie Allie ihm ihren Führerschein und Fahrzeugschein übergab. „Oh Mist, was hat sie gemacht?“

Der Polizist ging zu seinem Auto zurück und stieg ein. Nach ein paar Minuten ging er zu Allies Fenster und gab ihr etwas. Allie und er schienen ein paar Worte zu wechseln. Er wandte sich zum Gehen, und Allie stieg gerade aus ihrem Auto aus, als die Haustür des Anwesens zuschlug. Alle Augen wandten sich dem Haus zu, von dem eine große, adrette Frau mit blonden Haaren in einem karierten Flanellhemd und Jeans über den Rasen zu ihnen stapfte.

„Gibt’s hier ein Problem, Benjamin?“, rief sie dem Polizisten zu.

„Nein, Ma’am. Nur eine höfliche Erkundigung.“ Er drehte sich zu ihr um, die Hände in die Hüften gestemmt.

Die Frau blieb mit einem Lächeln auf halbem Weg zwischen Cara, Des, Allie und dem Polizeibeamten stehen. „Erkundigst du dich über ein hübsches Gesicht, das du noch nicht kanntest?“

„Nein, Ma’am. Ich wusste nichts von ihrem hübschen Gesicht, bis ich sie angehalten habe.“

Er tat so, als würde er sich an die Hutkrempe fassen. „Nacht, Ma’am.“ Er nickte Cara und Des zu. Scheinbar sagte er leise etwas zu Allie, denn sie wandte sich abrupt ab und begann, ihre Sachen vom Rücksitz zu holen.

„Grüß deine Großmutter von mir“, rief die Frau ihm nach. „Ich sehe sie dann Mittwoch beim Bingo.“

„Mache ich“, rief er zurück.

„Na, das war ja bestimmt ein netter Empfang in der Stadt.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die drei jungen Frauen. „Nehmt eure Sachen und kommt hoch ins Haus. Ich habe gerade mit dem Abendessen angefangen, falls jemand von euch Hunger hat.“

„Dürfte ich fragen, wer Sie sind?“, fragte Cara.

„Ich bin eure Tante Bonny“, antwortete die Frau. „Aber ihr könnt mich Barney nennen. Das macht jeder. Und jetzt beeilt euch, bevor wir hier noch in dem Wind erfrieren.“