Leseprobe Mord auf dem Atlantik

Eins

„Sei vorsichtig mit deinen Wünschen.“

Das war ein weiteres der Lieblingssprichworte meiner Mutter – eine der wenigen ihrer zahlreichen Warnungen, die kein schreckliches Ende, das Höllenfeuer oder ewige Verdammnis voraussagten. Es fand jedes Mal Anwendung, wenn ich meine kindlichen Sehnsüchte aussprach, eines Tages Dublin sehen zu dürfen, wie eine echte Dame auf einem Ball zu tanzen, eine Kutsche zu besitzen oder mich schlicht aus unserem trostlosen Leben in Ballykillin zu befreien. Das Ende des Sprichworts wurde selten ausgesprochen, doch es schwang immer mit: „Sie könnten wahr werden.“

Jetzt hatte mich der Satz doch noch eingeholt. Meine Mutter würde sich im Himmel oder wo auch immer sie ihr Leben nach dem Tod verbrachte zweifellos kaputtlachen. Seit ich in New York angekommen war und Captain Daniel Sullivan kennengelernt hatte, hatte ich insgeheim die Hoffnung gehegt, dass wir eines Tages zusammen sein würden. Obwohl ich mir gesagt hatte, dass das nie passieren würde, dass er unzuverlässig und doppelzüngig war und Ärger machte, hatte ich ihn nie ganz aus meinen Gedanken und meinem Herz verbannen können. Und jetzt schien es, als böte sich mir so viel von Daniel Sullivans Nähe, wie ich mir je hätte erhoffen können. Mehr sogar.

Drei Wochen waren vergangen, seit er auf Kaution aus den Gräbern freigekommen war, und ihm wurde noch immer zur Last gelegt, Bestechungsgeld von einem Gangmitglied angenommen zu haben, auf der Gehaltsliste einer Gang zu stehen und einen illegalen Boxkampf organisiert zu haben. Seitdem hatte er nichts Neues über sein weiteres Schicksal erfahren, obwohl wir mittlerweile wussten, wer so überaus gründlich seinen Sturz geplant hatte. Es war eine schreckliche Art zu leben – als würde man auf rohen Eiern laufen – und Daniel kam nicht sehr gut damit zurecht. Er war es gewohnt, der Hahn im Korb zu sein, ein mächtiger Mann, der von seinen Kollegen in der New Yorker Polizei respektiert wurde und Verbindungen zu den Vierhundert pflegte – den nobelsten Familien der Stadt. Die Wochen in den Gräbern hatten ihn körperlich und geistig so sehr mitgenommen, dass er nur noch Trübsal blies oder wie ein eingesperrter Tiger hin und her lief.

Und meistens lief er bei mir zu Hause herum, weshalb ich an einem schwülen Septembernachmittag selbst im Haus auf und ab ging. Daniel hatte es endlich geschafft, einen angesehenen Anwalt zu engagieren, der sich für ihn einsetzte und für heute ein Treffen mit dem Police Commissioner, Mr. John Partridge, vereinbart hatte. Und ich blieb zu Hause zurück, wo ich auf und ab ging und mich fragte, ob er als freier Mann zurückkehren und seine alte Stelle zurückbekommen würde. Bitte nimm diese schreckliche Bürde von ihm, betete ich, obwohl ich eigentlich nicht viel für einen Plausch mit dem Allmächtigen übrighatte. Und bitte gib ihm seine alte Stelle zurück, damit er mich in Ruhe lässt. Ich war augenblicklich von mir selbst entsetzt. Sollte ich Daniel Sullivan nicht lieben? Hatte ich es nicht ernsthaft in Betracht gezogen, ihn eines Tages zu heiraten? Und doch graute mir vor seiner Gegenwart. Wie war das mit den guten und schlechten Tagen, in Reichtum und Armut, in Krankheit und Gesundheit? Ich würde noch einmal gründlich über diese Ehe nachdenken müssen. Vorausgesetzt, Daniel würde je um meine Hand anhalten.

Während ich wartete, putzte ich fieberhaft das Haus und polierte die wenigen Möbel, bis ich mich in den Oberflächen spiegeln konnte, doch Daniel war noch immer nicht zurück. Die Unterhaltung musste längst vorbei sein. Und der Commissioner hatte gewiss keine andere Wahl, als Daniel von allen Vorwürfen zu entlasten. Ich lief im Haus umher, so wie Daniel es in den vergangenen Tagen so oft getan hatte. Ich schob die Gardine beiseite und blickte den Patchin Place hinab, dann ließ ich sie wieder fallen. Plötzlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich brauchte Gesellschaft, und zwar sofort. Angenehme Gesellschaft, unterhaltsame Gesellschaft. Und ich wusste genau, wo ich die finden würde.

Ich überquerte die Gasse und klopfte an die Tür des gegenüberliegenden Hauses. Als man mir öffnete, bot sich mir der erschreckende Anblick eines totenblassen Gesichts mit zwei grünen Kreisen, wo die Augen hätten sein sollen. Ich keuchte, als die Erscheinung einen der grünen Kreise entfernte.

„Das tut mir leid“, sagte sie. „Gurke. Wir versuchen uns an Hautpflege. Sid hat im Ladies’ Home Journal gerade einen Artikel über natürliche Gesundheit und Schönheit aus der Speisekammer gelesen.“

Der Geist mit dem weißen Gesicht gab sich als meine gute Freundin August Mary Walcott von den Walcotts aus Boston zu erkennen, die allerdings besser unter ihrem Spitznamen bekannt war: Gus.

Ladies’ Home Journal?“ Ich musste kichern. „Ihr beide seid die letzten Geschöpfe dieser Erde, von denen ich erwartet hätte, eine Frauenzeitschrift zu lesen.“

„Das Deckblatt versprach interessante Tipps, wie man sein Zuhause im japanischen Stil dekoriert, was wir ohnehin tun wollten, also haben wir die Zeitschrift gekauft. Und darin stand dieser ausgezeichnete Artikel über Gesundheit und Schönheit, das mussten wir natürlich gleich ausprobieren. Komm rein, du bist gerade rechtzeitig, um unsere Paste für den Teint auszuprobieren.“ Sie ließ mich ein und ging vor mir den Flur hinunter in die Küche. „Man kocht Eiweiß in Rosenwasser und verrührt es mit Alaun, Mandelöl und etwas Honig zu einer Paste, dann lässt man es trocknen“, rief sie mir über die Schulter zu. „Ich muss sagen, es fühlt sich sehr eigenartig an, während es aushärtet, aber man kann regelrecht spüren, wie die Unreinheiten aus der Haut gezogen werden.“

Sid und Gus hatten an der Rückseite ihrer Küche einen Wintergarten angebaut. Die Türen zwischen den beiden Räumen standen offen, wie auch die Türen in den kleinen Garten, was der Szene eine angenehm ländliche Atmosphäre verlieh. Als wir näherkamen, konnte ich unter einem weißen Bettlaken auf einem der Gartenstühle ein weiteres Gespenst ausmachen. Sie sah aus wie eine Leiche, bis sie wild mit der Hand wedelte.

„Diese verdammten Fliegen“, murmelte sie. „Ich nehme an, das Eiweiß lockt sie an, aber sie lassen mich einfach nicht in Ruhe.“

„Wir haben Gesellschaft, Liebling“, rief Gus. „Molly ist hier, um das Erlebnis mit uns zu teilen.“

Elena Goldfarb, besser bekannt als Sid, setzte sich auf und schälte sich die Gurkenscheiben von den Augen. „Ich wollte Gus zu dir schicken, um dich zu holen, aber sie meinte, du würdest Sullivan den Schwindler nicht alleinlassen können.“

„Er ist gerade nicht da, den Heiligen sei Dank“, sagte ich.

„Du klingst nicht wie eine verliebte Frau.“ Sid versuchte, die Stirn in Falten zu legen, aber ihre Maske ließ es nicht zu.

„Ich weiß. Das ist furchtbar von mir. Ich sollte entzückt sein, weil er mich mit seiner ständigen Gegenwart beehrt, aber ganz ehrlich, das bin ich nicht. Seine düstere, launische Stimmung macht mich noch verrückt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich keine besonders gute Ehefrau abgeben werde.“

„Ich bin mir sicher, dass jeder Mensch gelegentlich seinen Partner in den Wahnsinn treibt“, sagte Sid. „Ich weiß, dass es bei uns so ist. Jetzt binde dir das Haar zurück und lass mich dir etwas von dieser Mischung ins Gesicht schmieren. Es heißt, Madame Vestris habe mit exakt dieser Zubereitung bis ins hohe Alter ihre Schönheit bewahrt.“

Ich hatte keine Ahnung, wer Madame Vestris war. „Oh, ich glaube wirklich nicht–“, hob ich an.

„Sei keine Spielverderberin, Molly.“ Gus band bereits meinen widerspenstigen Haarschopf zusammen. „Außerdem soll es Unreinheiten aus dem Körper ziehen. Vielleicht bist du dann frommer und nachsichtiger, wenn Daniel das nächste Mal zu Besuch kommt.“

Ich ergab mich meinem Schicksal und lachte mit Sid und Gus, während sie mich in ein Baiser verwandelten. Das Lachen fühlte sich seltsam an. Wie lange war es her, seit ich gelacht und mir erlaubt hatte, mit meinen Freundinnen Spaß zu haben? Der Sommer war von Anspannung und Kummer geprägt gewesen, ganz zu schweigen von den ständigen Geldsorgen. Mittlerweile erholte ich mich von meinem jüngsten Martyrium, sowohl physisch als auch psychisch, doch es gab keine neuen Aufträge für meine kleine Detektei.

„Wo ist denn der düstere Daniel heute Nachmittag?“, fragte Sid. „Sitz still, sonst fallen die Gurkenscheiben runter.“

„Sein neuer Anwalt hat ein Treffen mit dem Police Commissioner arrangiert um ihn zu bitten, alle Anschuldigungen fallenzulassen.“

„Na, das sind doch endlich mal gute Neuigkeiten, oder?“, fragte Gus.

„Ich hoffe es“, sagte ich. „Daniels Ruf bedeutet ihm sehr viel. Seine Kollegen glauben immer noch, er hätte sie verraten, und ich weiß, wie tief ihn das trifft.“

„Ende gut, alles gut“, sagte Sid. „Man wird Daniel entlasten und zur Arbeit zurückkehren lassen, dann kann Molly wieder ihr Leben leben und Friede wird in den Patchin Place einkehren.“

Sie hatte gerade diesen Satz beendet, als es donnernd an der Haustür klopfte. Gus eilte los, um zu öffnen. Wir hörten ein verstörtes: „Was zum Teufel?“

„Schönheitskur“, entgegnet Gus mit ruhiger Stimme. „Und falls Sie nach Molly suchen, sie ist bei uns.“

Ich nahm eilig die Gurkenscheiben von den Augen, gerade rechtzeitig, um Daniel durch den Flur auf mich zukommen zu sehen.

„Ich war bei deinem Haus, aber du warst nicht da“, sagte Daniel gereizt.

„Und weil Sie so ein großartiger Detective sind, haben Sie geschlussfolgert, dass sie hier bei uns sein könnte“, sagte Sid gelassen. „Möchten Sie ein Glas Eistee, Captain Sullivan, oder etwas Stärkeres?“

„Mir ist nicht nach Geselligkeit, fürchte ich“, sagte Daniel. „Wir hatten gerade ein äußerst ärgerliches Treffen mit dem Police Commissioner.“

„Er hat nicht eingewilligt, alle Anschuldigungen fallenzulassen?“, fragte ich.

„Nein, hat er verdammt noch mal nicht.“ Er zügelte sich. „Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, Ladys, aber meine Geduld wurde heute Nachmittag überstrapaziert. Molly, würdest du dir bitte dieses lächerliche Gemisch aus dem Gesicht entfernen, damit wir nach Hause gehen können?“

Ich legte mir eine Hand an die Wange. „Ich glaube, es muss erst aushärten, sonst bekomme ich es unmöglich ab“, sagte ich. „Aber welchen Grund hatte Mr. Partridge, dich nicht augenblicklich für unschuldig zu erklären?“

„Weil sich Quigley, diese Schlange, weigert, irgendetwas zu gestehen. Bis er also vor Gericht gebracht und für schuldig befunden wurde, bleiben die Vorwürfe gegen mich bestehen und ich muss mich selbst meiner Verhandlung stellen.“

„Aber das ist doch lächerlich“, sagte ich und erhob mich mühsam aus dem Gartenstuhl. „Wir haben den Beweis für Quigleys Schuld.“

„Für seine Verwicklung in die Morde, ja, aber nichts kann beweisen, dass er mein Treffen mit dem Gangmitglied eingefädelt hat. Und ich habe natürlich zugegeben, an der Organisation des Boxkampfes beteiligt gewesen zu sein.“

„Aber dafür kann man dich doch nicht bestrafen. Die halbe New Yorker Polizei hat bei dem Kampf zugesehen. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.“

Daniel seufzte. „Ich weiß, dass nichts davon Sinn ergibt, aber ich habe das Gefühl, Partridge will ein Exempel an mir statuieren. Er wird mir die Strafe nur erlassen, wenn ich das Gangmitglied oder Monk Eastman persönlich dazu kriege, abzustreiten, dass ich mit ihnen zusammengearbeitet habe.“

„Dann solltest du genau das tun“, sagte ich.

Daniel kicherte verbittert. „Monk Eastman bitten, zu meiner Verteidigung auszusagen? Ich glaube, du schätzt den Gegner falsch ein, meine Liebe. Ihm wäre nichts lieber als mein Sturz. Er wird kein gutes Wort für mich übrighaben oder einen seiner Gangster etwas Gutes über mich sagen lassen.“

„Vielleicht macht er es, wenn ich ihn für dich bitte“, sagte ich.

„Ausgeschlossen, Molly. Das ist ein Befehl.“

„Du kannst mir keine Befehle erteilen“, sagte ich. „Wir sind nicht verheiratet, und selbst wenn, würde ich dir nicht wie ein Hund gehorchen.“

Er lachte erneut. „Daran zweifle ich keine Sekunde“, sagte er. „Aber ich lasse lieber die Demütigungen einer Verhandlung über mich ergehen, als dich als meine Fürsprecherin zu Monk Eastman schicken.“

„Dann schick Gentleman Jack, um für dich zu sprechen“, sagte ich. „Er muss doch im Augenblick in Monks Gunst stehen. Ich bin mir sicher, er hat Monk durch seinen Sieg bei dem Boxkampf einiges an Geld eingebracht.“

„Das hat er bestimmt, aber du hast ihn kennengelernt, Molly. Der Mann ist so hohl, dass er seinen eigenen Namen vergessen würde, wenn ihn die Leute nicht ständig damit ansprächen. Was könnte er schon tun?“

„Versuch es wenigstens, Daniel“, sagte ich. „Schreib Monk einen Brief und schick Jack in einem Hansom-Taxi los, um ihn persönlich zu überbringen. Dann könnte er dem Brief Gewicht verleihen.“

„Molly, ich kann unter den gegebenen Umständen nicht weiter darüber diskutieren“, blaffte Daniel. „Würdest du bitte tun, was ich verlange? Entferne dieses lächerliche Zeug – du siehst aus wie mit Zuckerguss überzogen – und lass uns die Unterhaltung unter vier Augen fortsetzen. Ich halte es schwerlich für angemessen, meine gegenwärtige Situation vor Leuten zu diskutieren, die das nichts angeht.“

„Oh, das geht uns sehr wohl etwas an“, sagte Gus. „Es betrifft uns ebenfalls. Wenn Sie unglücklich sind, dann ist Molly unglücklich. Und wenn Molly unglücklich ist, können wir unser Leben nicht mehr genießen. Und da es unser erklärtes Ziel ist, jeden Augenblick zu genießen, muss diese Situation so schnell wie möglich geklärt werden.“

„Hmpf“ war alles, was Daniel herausbekam.

„Captain Sullivan, lassen Sie uns Ihnen ein Glas Brandy einschenken“, sagte Gus mit ihrer beruhigenden Stimme. „Sie hatten gewiss einen höchst unangenehmen Nachmittag und die arme Molly war ganz verzweifelt, als sie zu uns kam. Für sie ist es auch nicht leicht, müssen Sie wissen.“

„Ganz sicher nicht“, sagte Daniel. Er seufzte erneut. „Nun gut. Ich nehme Ihr freundliches Angebot an, allein weil ich mich weigere, die Straße zu überqueren, ehe Molly sich dieses Zeug aus dem Gesicht entfernt hat.“

„Leg die Gurkenscheiben wieder auf, Molly, sonst werden deine Augen nicht die vollständige Wirkung erfahren“, wies Gus mich an, während sie im Salon verschwand, um den Dekanter zu holen. Mit Daniels Blick auf mir fühlte ich mich unglaublich unsicher, legte die Gurkenscheiben erst wieder auf, überlegte es mir dann aber anders.

„Ich glaube, ihr solltet zum Abendessen bleiben, findest du nicht auch, Sid?“, fragte Gus, als sie mit einem gut gefüllten Cognacschwenker zurückkehrte. „Wir könnten etwas Japanisches versuchen. Ich will schon länger etwas mit rohem Fisch machen.“

„Ich glaube wirklich nicht ...“, hob Daniel an, als es abermals an der Haustür klopfte.

„Meine Güte, wir sind heute Nachmittag aber beliebt“, sagte Sid und versuchte aufzustehen.

„Vielleicht sollte ich an die Tür gehen“, sagte Daniel. „Ihr Damen bietet einen höchst erschreckenden Anblick.“

Beinahe augenblicklich ertönte eine Männerstimme in theatralischem Ton: „Welch Enttäuschung. Ich erwartete, zwei entzückende Damen zu sehen. Sagen Sie mir nicht, sie haben einen Butler eingestellt.“

„Die beiden entzückenden Damen sind gerade nicht in der Lage, Besuch zu empfangen“, sagte Daniel. „Und ich bin nicht der Butler.“

„Nicht in der Lage? Sagen Sie mir nicht, dass sie dieser schrecklichen Grippe erlegen sind, die gerade alle dahinrafft. Oh Gott, bitte keine schlechten Nachrichten. Sie sind doch kein Arzt, oder?“

„Nein, bin ich nicht. Darf ich fragen, wer Sie sind, damit ich eine Nachricht weiterleiten kann?“

Moi? Ich dachte, alle Welt kennt mich. Sagen Sie ihnen, dass Ryan sich nach ihnen verzehrt und sie augenblicklich sehen will. Sie wissen nicht zufällig, wo die göttliche Miss Molly steckt, oder? Heute Abend bin ich vor allem auf der Suche nach ihr.“

„Miss Molly ist mit den anderen Damen hinten im Haus, aber sie können unter keinen Umständen–“

Ehe er ein weiteres Wort herausbekam, waren Geräusche von Rauferei oder Tumult zu hören, ein Schrei von Daniel, dann kam der verruchte Stückeschreiber Ryan O’Hare durch den Flur auf uns zu gerannt. Er trug ein weißes Bauernhemd, einen königsblauen Umhang und legte einen wirklich dramatischen Auftritt hin.

Er bremste ab, als er uns sah, und keuchte erleichtert. „Das ist die Hautpaste aus dem Ladies’ Home Journal. Wie schön. Ich will sie unbedingt ausprobieren.“

„Molly hat unseren letzten Rest bekommen“, sagte Sid.

„Molly, mein Engel, bist du das da drunter? Ja. Diese zarte, weiße Hand würde ich überall wiedererkennen. Lass sie mich küssen.“

„Tut mir leid, Ladys“, sagte Daniel mit angespannter Stimme. „Ich nehme an, Sie kennen diesen Gentleman?“

„Oh je. Die beiden Herren wurden einander offensichtlich noch nicht vorgestellt. Ryan O’Hare, Stückeschreiber der Extraklasse. Captain Daniel Sullivan von der New Yorker Polizei.“

„Doch nicht etwa Sullivan der Schwindler?“, rief Ryan. „Endlich lernen wir uns kennen. Ich habe viel von Ihnen gehört. Wir sind alle sehr stolz auf Molly, weil sie Sie aus dem Gefängnis geholt hat.“

„Nun, eigentlich bin ich nur auf Kaution frei“, sagte Daniel trocken. „Natürlich bin ich sehr dankbar für das, was Molly getan hat.“

Dann traf mich die Erkenntnis. Er kannte die Wahrheit nicht. Ich hatte es nie geschafft, von dieser Nacht auf Coney Island zu erzählen, also wusste er nicht, was ich durchgemacht hatte. Und er würde es nie erfahren, beschloss ich. Dieses Kapitel meines Lebens war abgeschlossen.

„Ich glaube, die Paste ist ausreichend ausgehärtet“, sagte Sid und machte sich daran, sie abzuschälen. Wir folgten ihrem Beispiel. Ryan tanzte zwischen uns hin und her und streichelte unsere Wangen. „Wundervoll“, rief er, „wunderbar weich, wie ein Baby-Popo.“

„Wirklich, Ryan, eines Tages gehst du noch zu weit“, schalt Gus. „Du machst das doch nur um zu schockieren.“

„Man wird doch noch ein wenig Spaß haben dürfen“, schmollte Ryan.

„Molly, können wir jetzt bitte gehen?“ Daniel kam zu mir und nahm meinen Arm.

„Sie haben Ihren Brandy noch nicht getrunken“, merkte Sid an.

„Danke, aber unter diesen Umständen–“, sagte Daniel.

„Sie dürfen uns Molly nicht wegnehmen. Ich verbiete es“, sagte Ryan. „Ich bin nur durch die Hitze, die Fliegen und den Staub marschiert, um sie zu sehen.“ Ryan nahm meinen anderen Arm. „Ich entführe dich, liebste Molly. Ich wurde angewiesen, dich heute Abend zu einer Party zu geleiten. Jemand möchte dich dringend kennenlernen.“

Ich warf Daniel einen Blick zu. Sein Gesicht war wie versteinert.

„Ich fürchte, ich kann dich heute Abend nicht zu einer Party begleiten, Ryan“, sagte ich, doch dann gewann meine Neugier. „Wer will mich denn so dringend kennenlernen?“

„Niemand Geringeres als Tommy Burke.“

„Ich fürchte, ich kenne Tommy Burke nicht“, sagte ich.

„Du hast nie von Tommy Burke gehört?“ Ryan klang schockiert. „Mein gutes Mädchen, er ist ja nur der führende Theaterdirektor der Stadt. Wenn Tommy Burke ein Stück auf die Bühne bringt, ist es immer eine Sensation. Hast du nicht seine Inszenierung von Onkel Toms Hütte gesehen? Da blieb kein Auge trocken. Aber ich schweife ab. Tommy Burke gibt heute eine legendäre Party im Dachvarieté am Madison Square. Da kannst du doch nicht nein sagen, oder?“

„Meine Güte, das klingt glamourös“, sagte Sid. „Aber das hört sich so an, als würdest du nur Molly einladen. Gus und ich sind zutiefst verletzt, weil wir nicht auch eingeladen sind.“

„Natürlich seid ihr beide auch eingeladen. Unser kühner Captain ebenfalls, wenn er möchte“, sagte Ryan. „Es ergab sich bloß, dass Tommy Burke den Wunsch äußerte, Molly kennenzulernen.“

„Warum?“, fragte ich. „Wie könnte er von mir erfahren haben?“

„Das weiß ich nicht genau. Es hat etwas mit deiner Detektivarbeit zu tun, wenn ich das richtig verstanden habe. Wie auch immer, das wird sich heute Abend alles im Dachgartenvarieté des Madison Square Garden klären, während wir köstlichsten Champagner schlürfen. Ich werde um acht wiederkommen, um euch zu begleiten. Tragt etwas Umwerfendes.“ Er sah zur Uhr an der Küchenwand. „Oh Schreck. Geht die richtig? Ich komme zu spät zur Anprobe. Ich muss mich beeilen.“

Damit war er verschwunden.

Zwei

Daniel und ich überquerten in eisigem Schweigen das Kopfsteinpflaster der Gasse.

„Du kannst nicht allen Ernstes in Betracht ziehen, mit dieser entsetzlichen Kreatur zu einer Party zu gehen“, sagte Daniel, als ich die Haustür hinter uns schloss.

„Er ist keine entsetzliche Kreatur. Er ist sogar sehr angenehm und äußerst talentiert.“

„Er ist ein Freak, Molly“, sagte Daniel, „ein Ausgestoßener der zivilisierten Gesellschaft.“

„Was das angeht“, sagte ich, „bist du im Augenblick ebenfalls ein Ausgestoßener der zivilisierten Gesellschaft, oder nicht? Ein Häftling, nur auf Kaution frei? Oh je, was müssen Miss van Woekem und ihresgleichen von dir denken?“

Er wurde rot vor Wut. „Das ist nicht das Gleiche, und das weißt du verdammt gut“, sagte er. „Du lässt dich überall von ihm betatschen. Benimmst du dich so, wenn ich nicht in der Nähe bin?“

„Mich betatschen? Daniel, er hat meinen Arm genommen. Er hat meine Wange berührt, wenn ich mich recht entsinne. Das kann man wohl kaum betatschen nennen. Und noch etwas: Ryan sieht mich als Schwester, nicht mehr. Seine Interessen liegen anderswo.“

„Ein weiterer Oscar Wilde, meinst du? Sowas habe ich schon vermutet. Molly, ich verbiete dir, heute Abend zu dieser Party zu gehen und dich weiterhin mit solchen Menschen abzugeben.“

Wie viele meiner Landsleute war ich nie dafür bekannt gewesen, einer guten Auseinandersetzung oder einer Herausforderung aus dem Weg zu gehen.

„Du verbietest es mir?“, fragte ich. „Und wer bist du, hier solche Vorschriften zu machen? Das wüsste ich gern. Bis vor wenigen Wochen warst du noch einer anderen Frau versprochen und ich kann mich nicht erinnern, dass du seitdem auf die Knie gegangen wärst und um meine Hand angehalten hättest. Und wenn du es getan hättest, würde ich mir nach so einer Unterhaltung den Ring gleich wieder vom Finger reißen.“

„Dann ist es vielleicht unser Glück, dass wir uns noch nichts dergleichen versprochen haben“, sagte Daniel steif.

„Wie recht du hast. Mich besitzt man nicht, Daniel Sullivan. Ich bin eine unabhängige Person und ich entscheide selbst, mit wem ich meine Zeit verbringe. Wenn du mir bei der Auswahl meiner Freunde und Unternehmungen kein gutes Urteilsvermögen zutraust, dann sehe ich keine gemeinsame Zukunft für uns.“

Daniel nahm seine Kreissäge. „In diesem Fall, hat es keinen Zweck, wenn ich noch länger bleibe. Guten Tag, Miss Murphy.“

Er verbeugte sich höflich und ging. Ich stand da und starrte meine Haustür an. Ich war versucht, ihm nachzulaufen und alles wieder richtigzustellen, aber ich zwang mich, zu bleiben wo ich war. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen Eindruck davon erhalten, was es bedeutete, verheiratet zu sein: einen Mann zu haben, der mir vorschreibt, was ich zu denken habe, mit wem ich mich treffen sollte; meine eigene Identität und Freiheit aufzugeben. Warum ließen sich so viele Frauen so bereitwillig darauf ein? Aus Liebe, vermutete ich. Liebte ich Daniel Sullivan genug, um ihn zu heiraten und ihm für den Rest meines Lebens meinen Willen unterzuordnen? Im ersten Sturm der Romantik hätte ich vermutlich bereitwillig einem Antrag zugestimmt. Und natürlich geht es auch um Sicherheit. Wie viele Frauen können schon allein für sich sorgen? Und selbst berufstätigen Frauen fällt es schwer, die Vorurteile der Gesellschaft zu überwinden. Diejenigen mit eigenen Mitteln wie Gus und Sid kamen gut aus, aber ich stellte mich nicht besonders gut an, wenn es darum ging, J. P. Riley and Associates über Wasser zu halten.

Was mich zu der Einladung für den Abend zurückbrachte. „Es hat irgendetwas mit deiner Detektivarbeit zu tun“, hatte Ryan gesagt. Bedeutete das, dass Tommy Burke, der Theaterdirektor, daran interessiert war, mich für einen Auftrag zu engagieren? Keine zehn Pferde würden mich von dieser Party fernhalten.

 

Ich erwartete beinahe, dass Daniel zurückkommen würde, um sich zu entschuldigen, aber das tat er nicht, was mich mit einem unruhigen und dumpfen Gefühl zurückließ. Vielleicht fühlte ich mich auch ein wenig schuldig, weil mir bewusst wurde, dass Daniel im Moment sehr gereizt und es kein guter Zeitpunkt gewesen war, ihn zur Rede zu stellen. Doch es bedeutete nichts Gutes für eine zukünftige Beziehung, wenn wir beide so leicht aus der Haut fuhren und derart unterschiedliche Erwartungen an das Leben stellten.

Um acht Uhr hatte ich meine feinste Kleidung angelegt, ein meergrünes Abendkleid aus Taft. Es stammte aus Gus’ Zeit als Debütantin. Die Keulenärmel waren mittlerweile aus der Mode, aber die Farbe bot einen schönen Kontrast zu meinen roten Haaren. Außerdem hatte ich nur die Wahl zwischen diesem oder einem Nesselstoffkleid. Nachdem ich mich eine Weile abgemüht hatte, beschloss ich, mein Haar zu bändigen und es mit Schildpatt-Kämmen festzustecken. Nach der Hautpaste fühlte sich mein Gesicht definitiv weicher an, aber es glühte auch wie ein Sonnenuntergang und ich musste es mit etwas Maisstärke abdämpfen. Doch als ich in den Spiegel sah, war das Endergebnis nicht allzu schlecht, und ich spürte, wie mich eine Welle der Begeisterung ergriff. Ausgefallene Partys mit einem berühmten Theaterdirektor in einem Dachvarieté waren in meinem Leben nicht an der Tagesordnung.

Sid und Gus traten im selben Moment auf die Straße wie ich und boten einen atemberaubenden Anblick in Smaragdgrün und Pfauenblau. Sid hatte ihr kurzes Haar zu einer seidig glänzenden, glatten Haube zurechtgelegt und mir fiel auf, dass sie unter ihrem smaragdgrünen Theaterumhang eine Hose trug. Normalerweise würde ein solcher Aufzug für Wirbel sorgen, aber ich vermutete, dass sie sich damit bei einer Theaterparty wie zu Hause fühlen würde. Daniel hatte wohl recht damit, dass man solche Freundinnen in feinerer Gesellschaft missbilligen würde. Doch wir lebten nicht in feiner Gesellschaft.

Ryan erwartete uns am Eingang zum Patchin Place und hatte bereits eine Droschke angehalten, in die wir einstiegen. Er trug noch immer den königsblauen Umhang, jetzt über einem Rüschenhemd, sodass er auf lächerliche Weise wie Hamlet aussah.

„Kein Daniel, wie ich sehe“, sagte Ryan. „Nicht sein Fall, nehme ich an?“

„Daniel ist wütend abgerauscht, nachdem er mir verboten hatte, zu dieser Party zu gehen“, sagte ich.

„Und du hast dich nicht einschüchtern lassen. Ausgezeichnet. Gut gemacht“, sagte Sid.

„Hast du je erlebt, dass ich mich einschüchtern lasse?“, fragte ich.

„Nein, aber Frauen verhalten sich gerne mal ziemlich lächerlich, wenn es darum geht, einem Mann zu gefallen.“

„Zu eurer Information“, sagte ich. „Ich beabsichtige nicht, jemals Befehle von einem Mann entgegenzunehmen, nicht einmal von Daniel Sullivan. Wenn er mir nicht zutraut, meine Freundinnen und Freunde selbst auszusuchen, dann wird er einen schlechten Ehemann abgeben.“

„Ah, dann sind wir also schuld an der Aufregung“, sagte Sid. „Daniel findet es nicht gut, dass du dich mit Menschen wie uns abgibst.“

„Dann muss ich Daniel für seinen Mangel an gesundem Menschenverstand bemitleiden“, sagte ich. „Und jetzt sprechen wir nicht mehr über ihn.“

Wir fuhren die 6th Avenue hinauf und ich starrte in das prächtige Schauspiel hinaus, das sich auf New Yorks Bürgersteigen entfaltete, so wie es an jedem warmen Abend geschah: Mütter saßen mit Kindern im Schoß auf ihren Vortreppen, kleine Jungs traten eine leere Dose umher, kleine Mädchen vergnügten sich beim Seilspringen. Wie jedes Mal wurde mir bewusst, dass ich mich in einer großen Stadt befand, die voller Leben war, voller Überschwang und Versprechungen, und ich versuchte, meine düstere Stimmung hinter mir zu lassen.

„Sag mal, Ryan“, fragte Gus, um die Unterhaltung auf ein neues Thema zu lenken, „was ist eigentlich aus dem guten Dr. Birnbaum geworden?“

„Wir sind leider getrennter Wege gegangen“, sagte Ryan. „Ich glaube, ähnlich wie Daniel empfand er meine Gesellschaft als schädlich für seinen professionellen Ruf in der Gesellschaft. Obwohl ich mich sehr bemüht habe, in jeder Hinsicht gemäßigter aufzutreten und abends sogar einen gewöhnlichen Smoking trug, fürchte ich, dass mein Ruf mir vorauseilte. Wir haben uns einvernehmlich getrennt.“

„Das tut mir leid“, sagte Sid.

„Muss es nicht“, sagte Ryan. „Die Welt ist voller wunderbarer, neuer Möglichkeiten. Ich finde immer jemanden.“

Ich sah ihn voller Zuneigung an. Dies waren meine Freunde, die durchs Leben gingen, fest entschlossen, jedes bisschen Freude und Aufregung mitzunehmen. Nichts an ihnen war gewöhnlich, einfach oder langweilig.

Die Droschke hielt vor einem imposanten Backsteinbau. Ich hatte bereits zuvor an der Fassade emporgeblickt und die maurischen Kolonaden und den Turm bewundert, der sich in den Himmel erhob, aber ich hatte es noch nie betreten. Ich hatte mir nicht einmal erträumt, es je von innen zu sehen.

Modisch gekleidete Theaterbesucher liefen auf dem Bürgersteig umher. Bettler und Straßenhändler warteten in der Gosse und umschwärmten jede Droschke, die hier hielt. Blumen wurden uns entgegengehalten, Hände flehend emporgestreckt, aber Ryan führte uns erfolgreich durch einen Torbogen und eine Treppe hinauf. Als wir das Dachvarieté betraten, war ich ziemlich eingeschüchtert und blieb zurück, während Ryan sich seinen Weg in den Raum bahnte. Als Dekoration standen Statuen unter Torbögen, große Palmen an den Wänden und an der Decke hingen Lüster im maurischen Stil. Auf der offenen Fläche drängten sich zahlreiche Menschen, und Bedienungen eilten zwischen ihnen umher, die Tabletts mit Essen und Champagner hoch über die Köpfe erhoben. Auf der Bühne am anderen Ende des Raumes spielte eine Band aus dunkelhäutigen Musikern irgendwelche moderne, synkopische Musik, zu der mehrere mutige Paare mit seltsamen, ruckartigen Bewegungen zu tanzen versuchten. Der Geräuschpegel der Menschenmenge übertönte beinahe die Band. Schmuck glitzerte und strahlte im Licht der elektrischen Glühbirnen der Lüster. Attraktive Männer in Fracks und glamouröse Frauen mit Straußenfedern in der Haarpracht vermischten sich mit Theaterleuten, die so ausgefallen gekleidet waren wie Ryan.

Ryan stürzte sich mit weit ausgebreiteten Armen uns voraus ins Getümmel, grüßte, umarmte und strahlte. Er schien jeden hier zu kennen. Gus und Sid kannten auch genügend Leute und ich fühlte mich wie Cinderella. Ich stand da, während sich die Menge an mir vorüberschob, fühlte mich schäbig und fehl am Platz und wünschte, nicht hergekommen zu sein. Ein Champagnertablett tauchte auf. Ich nahm ein Glas, als es mir angeboten wurde, und rief mir ins Gedächtnis, dass mir ein solches Erlebnis vor nur zwei Jahren nicht in meinen wildesten Träumen eingefallen wäre. Ich war hier, in der lebhaftesten Stadt der Welt, und verkehrte mit ihren elegantesten Einwohnern. Nicht schlecht für ein Mädchen aus einem Bauerncottage in Ballykillin. Ich beschloss, meinen Spaß zu haben und leerte mein Glas.

„Oh, da bist du ja, Molly. Dein Champagnerglas ist leer. Lass mich dir ein neues holen“, sagte Ryan, als er wieder zu mir stieß.

„Der Champagner scheint heute Abend wirklich in Strömen zu fließen, nicht wahr?“, fragte ich.

„Im wahrsten Sinne des Wortes“, stimmte er zu. „Hast du den Brunnen schon gesehen?“ Er zog mich quer durch den Raum. In einer Ecke stand ein Brunnen, aus dem Champagner sprudelte, falls mich meine Augen nicht täuschten. „Heilige Mutter Gottes, was lassen sie sich als Nächstes einfallen?“, murmelte ich und Ryan lachte. „Tommy Burke muss seinem Ruf gerecht werden“, sagte er. „Wenn seine Partys nicht zum Stadtgespräch werden, hat er das Gefühl, versagt zu haben. Komm, wir gehen ihn suchen.“

Wir kämpften uns durch die Menge. Es war ohnehin schon eine schwülwarme Nacht. In diesem geschlossenen Raum war es erdrückend heiß und die Gerüche von miteinander konkurrierenden Parfums, Zigarren und schwitzenden Leibern schienen mich der Ohnmacht nahezubringen. Ich war erleichtert, als Ryan neben einem großen Mann im Frack anhielt. Er war ein Mann mittleren Alters mit einem üppigen Schopf aus drahtigem, grauem Haar, grobknochig und kräftig, mit rundem Gesicht und roten Wangen, was ihn wie einen irischen Bauern aussehen ließ. Er hatte ein Glas in der einen Hand und eine Zigarre in der anderen und unterhielt sich lebhaft mit einer wunderschönen Frau mit goldbraunem Haar in einem atemberaubenden, weißen Seidenkleid mit Schleppe, die sie über ihrem von einem weißen Handschuh verhüllten Handgelenk trug.

Selbst Ryan wirkte ausnahmsweise einmal eingeschüchtert. Er wartete auf eine Pause in der Unterhaltung, ehe er dem Mann an den Arm tippte. „Hier ist sie, Tommy. Miss Molly Murphy. Ich versprach, sie mitzubringen, und das habe ich getan.“

Der Mann drehte sich um und musterte mich mit einem Blick aus seinen kleinen, schlauen, schwarzen Knopfaugen abwägend.

„Miss Molly Murphy, ja?“, sagte er und streckte eine kräftige Hand aus. „Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen, junge Frau.“

„Ich bin auch sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir“, sagte ich, „doch ich frage mich, warum Sie mich treffen wollten, Mr. Burke. Sie denken doch nicht darüber nach, mir eine Rolle in Ihrem nächsten Stück anzubieten, oder?“

Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Ihnen die Hauptrolle anbieten, statt Oona hier? Na, das ist mal eine Idee.“ Und mir wurde bewusst, dass ich Bilder dieser Frau auf weißen, schmuckvollen Plakaten und an Zeitungsständen gesehen hatte. Oona Sheehan, einer der Lieblinge der Broadway-Bühnen.

„Wir wissen, wie wankelmütig du bist, liebster Tommy“, sagte Oona mit tiefer und melodiöser Stimme. „Wenn du eine ausreichend jüngere und hübschere Frau fändest, würdest du mich augenblicklich fallenlassen. Ich weiß, dass meine Tage gezählt sind.“ Sie wandte mich zu mir und zwinkerte mir zu.

„Niemals“, rief Tommy. „Du wirst auch mit sechzig noch der Publikumsliebling sein, genauso wie die göttliche Madame Sarah.“

„Man kann nur hoffen, dass sich mein Aussehen länger hält als ihres“, sagte Oona. „Wir leben im selben Gebäude. Wir bewohnen jede eine Suite im Hoffman House und ich grüße sie gelegentlich. Ich fürchte, sie sieht mittlerweile recht schlicht und gewöhnlich aus.“

„Aber sie kann noch immer spielen“, sagte Tommy. „Mein Gott, und wie sie spielt.“

„Sind Sie auch Schauspielerin, Molly?“, fragte Oona. „Ich erinnere mich nicht daran, Sie je–“

„Durchaus nicht, Miss Sheehan. Ich habe nicht das Bestreben, auf der Bühne zu stehen.“

„Sie könnten gut ankommen“, sagte Tommy. „Ich wette, von diesen schlanken, kleinen Knöcheln erstreckt sich ein schönes Paar Beine in die Höhe.“

„Tommy, du bist unverbesserlich. Jetzt wird sie ganz rot“, sagte Oona.

„Gewiss nicht. Müssen weibliche Detektive nicht aus hartem Holz geschnitzt sein?“

„Sie ist eine Detektivin?“, fragte Oona.

„Das hat Ryan mir erzählt. Obwohl ich niemals erwartet hätte, dass eine Detektivin so jung und reizend aussieht. Sie sind tatsächlich eine Detektivin, meine Liebe?“

„Bin ich.“

„Und auch noch Irin, so wie es sich anhört?“, fragte Tommy.

„Auch das.“

„Eine perfekte Kombination für meine Bedürfnisse. Ich glaube, Sie werden Ihre Sache gut machen.“

„Welche Sache?“

Tommy Burke lehnte sich zu mir. „Ich habe einen kleinen Auftrag für Sie, meine Liebe“, flüsterte er mir ins Ohr. „Wir können uns nicht öffentlich darüber unterhalten. Kommen Sie morgen ins Casino Theater, in dem ich ein neues Stück proben lasse. Es ist an der Ecke Broadway und West 39th. Bitten Sie darum, direkt zu mir gebracht zu werden, dann können wir ein wenig plaudern. Wann immer Sie wollen. Ich werde den ganzen Tag im Theater sein.“

„Du stellst eine Detektivin an? Wie aufregend“, sagte Oona. „Er kann wohl kaum wollen, dass Sie seine Frau beschatten, um eine Scheidung einleiten zu können, da er nicht mehr verheiratet ist. Ich platze vor Neugier, Tommy, Schätzchen.“

„Dann wirst du wohl platzen müssen, Oona, denn ich werde nichts mehr dazu sagen“, sagte Tommy Burke und grinste mich an. „Genießen Sie einfach den Abend, Miss Molly Murphy, wir werden dann morgen unter vier Augen weitersprechen.“

Drei

„Ich bin ein Selfmademan, Miss Murphy“, sagte Tommy Burke und wandte sich mir zu.

Wir saßen Seite an Seite in der Dunkelheit eines leeren Theaters. Auf der schwach erleuchteten Bühne gingen Schauspieler Textzeilen durch, aber hier am Ende des Parketts befanden wir uns in einer abgeschiedenen Welt. Ich war mir deutlich der Intimität unserer Situation bewusst: Seine große Schulter berührte meine, sein warmer Atem, der leicht nach Bier roch, streifte meine Wange.

„Ich habe mich gut geschlagen für einen Jungen, der mittellos nach Amerika kam und in seiner Kindheit mehrmals kurz vor dem Verhungern stand.“

Er sah mich an und ich nickte anerkennend. „Wir kamen während der Hungersnot her“, fuhr er fort. „Aus der Heimat vertrieben wie so viele andere Familien auch. Die Schläger des Grundbesitzers haben einfach unser Cottage abgerissen, während meine Eltern versuchten, unsere wenigen Besitztümer zu retten. Ich war damals erst vier Jahre alt, aber ich kann mich noch deutlich daran erinnern. Sie zerbrachen die einzige gute Puddingschüssel meiner Mutter und sie hätte die Kerle umgebracht, wenn mein Vater sie nicht zurückgehalten hätte. Dann hatten wir die Gelegenheit, auf einem der Hungerschiffe nach Amerika zu kommen. Sie haben von den Hungerschiffen gehört, oder? Die hin und her über den Atlantik fuhren, vollgestopft mit armen Seelen wie uns.“

Er sah mich immer noch an, als würde er sich eine Antwort wünschen, aber mir fiel nichts ein. „Es war eine schreckliche Zeit“, sagte ich schließlich. „Meine eigene Familie ist während der Hungersnot beinahe ausgestorben.“

„Aus welchem Teil Irlands stammen Sie, meine Liebe?“

„Grafschaft Mayo.“

„Ah, der Wilde Westen. Ich selbst bin dort nie gewesen, aber ich hörte, dass es sehr schön ist. Nichts als Berge, Seen und eine schroffe Küste.“

„Genauso ist es“, sagte ich. „Wunderschön und abgeschieden. Man fühlt sich wie am Ende der Welt. Ich konnte es gar nicht erwarten, diesem Ort zu entkommen.“

„Wir stammen aus dem Süden. Aus der Nähe von Cork. Ich erinnere mich nicht an meine Heimat, aber ich erinnere mich an das Schiff. Damals war es noch kein Dampfschiff. Zwölf Tage unter Segel und die meisten von uns waren schwer krank. Wir waren dicht gedrängt wie die Sardinen. Die Menschen waren bereits von der Hungersnot geschwächt und um uns herum starben die Leute wie die Fliegen.“

„Warum erzählen Sie mir das, Mr. Burke?“, fragte ich.

„Dazu komme ich noch.“ Er legte seine fleischige Hand auf meine, wodurch ich mich kurz fragte, ob er mich vielleicht aus niedereren Motiven hierher eingeladen hatte. Mir war schon zu Ohren gekommen, dass alte Männer wie er jungen Frauen nachstiegen. Aber er räusperte sich. „Wie gesagt, ich fing mittellos an und habe Einiges erreicht, finden Sie nicht auch? Das einzige Problem ist: Ich werde nicht jünger und habe niemanden, dem ich alles hinterlassen kann.“

„Keine Kinder?“, fragte ich.

„Keine Kinder“, sagte er traurig. „Ich war mal verheiratet, aber sie konnte meinen Lebensstil nicht ertragen. Man ist entweder mit einer Frau verheiratet oder mit dem Theater. Man kann nicht beides haben. Ich habe das Theater gewählt und sie fand jemanden, der ihr die Zeit und die Aufmerksamkeit schenkte, die sie verdient hat. Ich beschloss, den Fehler kein zweites Mal zu machen.“ Er warf mir kurz einen durchtriebenen Blick zu und tätschelte meine Hand. „Oh, verstehen Sie mich nicht falsch. Es gab seitdem andere Frauen, aber keine, die mir wichtig genug gewesen wäre, um eine beständige Beziehung zu führen. Und jetzt bin nur noch ich da. Meine Schwester und mein Bruder sind beide tot. Meine Eltern auch. Ich habe einen Neffen und für den habe ich bereits genug getan – ich schickte ihn nach Harvard, bezahlte seine Schulden, ganz zu schweigen davon, dass ich die junge Frau ausbezahlte, die er ins Unglück brachte. Nein, es wäre mir zuwider, ihm meinen Reichtum zu hinterlassen, Miss Murphy. Und da kommen Sie ins Spiel.“

Für einen kurzen, ungezügelten Augenblick fragte ich mich, ob er andeuten wollte, mich zu adoptieren und als seine Erbin einzusetzen. Ich hatte schon immer wilde, unmögliche Fantasien gehabt, wie meine Mutter Ihnen bestätigen würde. Ich sah ihn an. „Ich möchte, dass Sie meine Schwester finden“, sagte er.

„Ihre Schwester? Aber haben Sie nicht gesagt, sie sei bereits tot?“

Er nickte. „Das war meine ältere Schwester Bridget, von der ich sprach. Die Mutter meines Neffen Harvey.“

„Dann hatten Sie mehr als eine Schwester?“

„Das ist das Eigenartige, Miss Murphy.“ Er starrte in die Dunkelheit. Auf der Bühne weinte jemand. Ich wusste nicht, ob es Teil des Stückes oder ein tatsächlich aufgebrachter Schauspieler war. Es klang ziemlich echt. „Meine Ma starb vor wenigen Monaten“, sagte er. „Gott, ich habe diese Frau verehrt. Welch ein Fels in der Brandung. Ich war in ihren letzten Wochen oft bei ihr. Sie war zu einem Skelett verkümmert. Wie ein Strichmännchen sah sie aus. Ein mitleiderregender Anblick. Und in diesen letzten Wochen, als man ihr Morphium gegen die Schmerzen gab, redete sie viel. An einem Tag äußerte sie die Hoffnung, Gott würde ihr für ihre Taten vergeben, dafür, dass sie ihr Kind in Irland zurückgelassen habe. Ich war schockiert, das kann ich Ihnen sagen, aber ich wusste nicht, ob es Fantasie oder Realität war. Es heißt, Morphium könne Träume und Wahnvorstellungen auslösen. Also fragte ich sie danach. Sie war nicht mehr ganz bei klarem Verstand, aber nach allem, was ich zu hören bekam, hatte ich eine kleine Schwester namens Mary Ann. Als wir nach Amerika aufbrechen sollten, bekam sie schlimmes Fieber und man ging davon aus, dass sie nicht überleben würde. Meine Eltern wollten uns anderen nicht die Gelegenheit rauben, in ein neues Leben zu segeln. Wer weiß, ob sie sich eine Überfahrt auf einem anderen Schiff hätten sichern können. Und in Irland sterben weiß Gott genug Neugeborene. Also verließen sie sie.“

„Heilige Mutter Gottes. Sie meinen, sie haben sie dort zurückgelassen?“, fragte ich entsetzt. „Sie zum Sterben zurückgelassen?“

„Nein, so war es nicht. Ich bekam heraus, dass sie sie bei einem örtlichen Pfarrer ließen, der versprochen hatte, jemanden zu finden, der sich um sie kümmern würde. Aber anscheinend hat das all die Jahre auf dem Gewissen meiner Mutter gelastet, obwohl sie mir gegenüber nie auch nur ein Wort darüber verloren hat.“

„Und Sie glauben, dass Ihre Schwester noch am Leben sein könnte?“, fragte ich. „Haben Sie einen Grund, das anzunehmen?“

„Nicht den geringsten. Aber ich werde nicht ruhen können, bis ich die Wahrheit weiß, wie sie auch lauten mag. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Miss Murphy. Wie Sie sehen können, habe ich ein neues Stück, das in zwei Monaten hier im Casino Premiere feiern wird. Außerdem plane ich für das kommende Jahr eine große Inszenierung von Babes in Toyland – viele gute Lieder und eine Besetzung von Tausenden. Das wird mir ein Vermögen einbringen. Damit bin ich an New York gebunden. Deshalb engagiere ich Sie. Ich möchte, dass Sie nach Irland fahren und schauen, ob Sie meine kleine Schwester aufspüren können.“

„Nach Irland?“ Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele gemischte Gefühle mich bei diesem Wort durchströmten. Die Chance, nach Hause zurückzukehren! In diesem ereignisreichen Sommer hatte mich mehrfach das Heimweh ereilt. Aber sobald ich darüber nachdachte, nach Hause zurückzukehren, fiel mir auch wieder der Grund für meine Flucht ein. Der Mann, von dem ich geglaubt hatte, ihn ermordet zu haben, war zwar noch am Leben, aber er war rachsüchtig und würde nur zu gerne sehen, dass ich an seine Türschwelle geführt wurde wie ein Lamm zur Schlachtbank.

„Ganz recht“, sagte Tommy Burke. „Nach Irland.“

„Wäre es nicht leichter, eine Anzeige in der Irish Times zu schalten und zu sehen, was sich daraus ergibt?“

„Damit jede selbstsichere, irische Betrügerin für Almosen aus dem Unterholz gekrochen kommt? Ich bin auf beiden Seiten des Atlantiks als reicher Mann bekannt, Miss Murphy. Deshalb heuere ich Sie an. Eine Irin wie Sie kann unauffällig sein. Geben Sie sich als Cousine aus, die aus Amerika zurückgekehrt ist und nach Familienmitgliedern sucht, wenn Sie wollen. Sie dürfen niemals erwähnen, dass Sie von mir geschickt wurden.“

„Werden Sie für meine Ausgaben aufkommen?“, fragte ich, während meine Gegenwehr bröckelte.

„Sämtliche Ausgaben und hundert Dollar Vorschuss – und einen saftigen Bonus, wenn Sie sie tatsächlich lebendig aufspüren. Was sagen Sie, Miss Murphy? Übernehmen Sie den Fall?“

Ich hatte keine anderen Aufträge. Meine Geldmittel schwanden dahin und New York war für mich im Augenblick nicht der glücklichste Ort auf Erden. Ich nickte und streckte eine Hand aus. „Nun gut, Mr. Burke. Ich werde den Fall übernehmen.“