Leseprobe Ich schick dir mein Herz

Prolog

Ticktack, ticktack.

In den vier Jahren, seit ich nun schon in dieser Wohnung lebte, war mir das Geräusch der Uhr über unserem Küchentisch nie so laut erschienen. Die Heizungsrohre brummten, die Straßenbahn ratterte auf der Straße unter dem Fenster vorbei. Die ganze Welt schien lauter zu werden, als es an unserem kleinen Tisch immer stiller wurde.

Alex hatte seinen Kopf in die Hände gestützt, sein Gesicht war nach unten gerichtet, sodass ich nur seinen braunen Lockenschopf vor mir sah, in den sich seine Hände vergraben hatten.

Das Warten war unerträglicher als es das Sprechen gewesen war. Mein Magen war ein einziger Knoten aus Schuld und Selbstvorwürfen. Wir kannten uns jetzt fast sieben Jahre. Sechs davon waren wir ein Paar gewesen. Seit heute sprach ich in der Vergangenheitsform davon, seit genau einem Augenblick. Seit dem Augenblick der Stille an unserem Tisch.

Dabei war es fast zwei Jahre her, als ich eines Morgens nach einer schlaflosen Nacht aufgestanden war und mit Schrecken festgestellt hatte, dass ich auch diesen wundervollen Mann nicht lieben konnte. Wie die vielen bedeutungslosen Jungen vor ihm auch. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass es mit Alex hinhauen würde. Mit dem ruhigen, geduldigen Alex, der die gleiche Musik mochte wie ich und mit mir über meine Lieblingsserie lachte, selbst wenn ich sie mir zum zehnten Mal ansah.

Wir hatten uns bei der Ausbildung bei Pharmamedia kennengelernt – einer Onlineapotheke, für die wir beide arbeiteten. Tür an Tür. Allein der Gedanke daran, fortan dort seine traurigen Blicke ertragen zu müssen, verursachte mir heftige Magenschmerzen.

„Ich habe es die ganze Zeit gewusst. Ich wusste nur nie, wann es passieren würde.“ Er sprach leise, mit einer mir unbekannten Stimme, die mir das Herz brach. Alex war ein fröhlicher und selbstbewusster Mensch. Unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung. Ich war die Welle, die ihm diese widerlichen Risse beigebracht hatte. Weil ich selbst nicht brechen konnte. Ich verfluchte mich und mein Herz. Mein kaltes Herz, das unfähig schien zu lieben und jetzt dennoch so viel Schmerz empfand. Konnte ich nicht wenigstens gänzlich ohne Gefühl sein? War ich wirklich dazu verdammt, Leid, nie aber Liebe fühlen zu können?

„Wie meinst du das?“ Meine Stimme war ebenso kratzig wie seine.

Endlich sah er auf. Seine braunen Augen hatten noch nie so traurig ausgesehen. „Glaubst du, ich hätte es nie bemerkt? Du hast dich danach gesehnt, mich zu lieben. Aber du hast es nie geschafft, Emma.“

Als er mich bei diesem Namen nannte, zuckte ich zusammen. So hatte mich seit Jahren niemand mehr angesprochen. Seit meinem zwölften Lebensjahr war ich für alle nur noch Georgie gewesen. Ein Name, den meine beste Freundin Sarah für mich erfunden hatte, weil sie meinte, er passe besser zu mir. Emma sei etwas für einen Hund, hatte sie bei unserem ersten Treffen gesagt.

Zuerst war es ein Running Gag in der Schule gewesen, der sich dann so sehr gefestigt hatte, dass selbst die Lehrer Emma vergaßen. Auch mein Vater hatte sofort mitgespielt, weil er dachte, mit dieser Macke seien meine Eltern besser dran als andere, deren Töchter im Alter von zwölf Jahren schon den ersten Schwangerschaftstest machen mussten. Nur meine Mutter hatte sich so lange vehement gegen den Namen gewehrt, bis ihr nichts anderes mehr übriggeblieben war.

Alex hatte ich mich im Alter von siebzehn Jahren als Georgie vorgestellt. Meinen richtigen Namen fand er nur durch einen zufälligen Blick auf meinen Ausweis heraus. Als ich ihm klarmachte, dass ich den Namen nicht mochte – dass er zu einem Mädchen gehörte, mit dem ich mich nicht mehr identifizieren konnte –, war er nie mehr gefallen. Bis zu diesem Augenblick.

„Du hast immer nur gewartet“, sagte er jetzt. „Seit ich dich kenne, legst du jeden Monat fast deinen ganzen Lohn beiseite, weil du von fernen Reisen träumst, pinnst dir Postkarten ferner Länder an die Wände. Du träumst und träumst. Aber in keinem dieser Träume bin ich vorgekommen.“

„Das ist nicht wahr“, verteidigte ich mich, obwohl wir beide wussten, dass es doch so war. „Ich finde die Landschaften einfach schön. Und ja, ich spare mein Geld, weil ich immer vorhatte, viel zu reisen.“

Er zuckte die Schultern. „Aber du hast es nie getan, nicht mit mir.“

Ich sah ihn sprachlos an. Er hatte nie auch nur ein Wort darüber verloren, dass er mit mir verreisen wollte. „Es war auf Arbeit immer zu viel zu tun, das weißt du.“

„Georgie, du hasst deine Arbeit.“ Jetzt wurde er laut und funkelte mich böse an. Das war mir lieber als der gebrochene Alex, der mir so fremd war. Im gleichen Atemzug fragte ich mich, wie fremd wir uns von heute an werden würden.

Wir hatten sechs Jahre lang das Bett geteilt, seit vier Jahren waren wir jeden Tag nebeneinander aufgewacht und nebeneinander eingeschlafen. Ich wusste mit einem Blick, wann er einen guten Tag hatte und wann nicht. Ich kannte seine Launen, sein Lachen, seine Ängste, seine Sehnsüchte. Alles an ihm war mir vertraut. Vom Geruch der Haut hinter seinem Ohrläppchen bis zu der winzigen Narbe an seinem kleinen Finger.

„Weißt du, was ich denke? Dass du nur auf diesen Augenblick gewartet hast, um endlich mit dem Leben zu beginnen!“

Dieser Vorwurf riss mich aus meinen Gedanken und ich spürte, dass ich erbleichte. Gleichzeitig wusste ich, dass er recht hatte. Ich wollte nicht mehr warten. Warten auf etwas, von dem ich nicht einmal genau wusste, was es war. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich konnte so nicht mehr weitermachen. Die Lüge, die ich lebte, drohte mich zu ersticken.

Wie die Tränen, die sich nun endlich ihren Weg in die Freiheit bahnten. „Versteh doch, dass es unfair dir gegenüber wäre, so weiterzumachen, selbst wenn ich es könnte. Du verdienst jemanden, der dich richtig liebt mit Haut und Haar. Du bist der beste Mann, den ich kenne.“

„Und immer noch nicht gut genug für dich“, murmelte er bitter und erhob sich. „Ich muss gehen, sonst sage ich Dinge zu dir, die ich später bereue. Ich gehe eine Runde, um mich zu beruhigen und dann bereden wir, wie es weitergehen soll.“

Das war typisch für meinen vernünftigen zuverlässigen Alex. Natürlich würde er mich nicht einfach vor die Tür setzen. Ich blinzelte verzweifelt die Tränen fort, um ihn endlich wieder klar sehen zu können. „Sag mir, was ich tun kann.“

Er seufzte frustriert. „Finde endlich das Leben, das dich glücklich macht, Georgie.“

Kapitel Eins

Zwei Jahre war es nun her, dass er diesen Satz zu mir gesagt hatte. Dennoch holte dieser mich immer wieder ein. Meist an Tagen wie heute, an denen ich mich in Embryonalhaltung in einer Ecke zusammenkauern und heulen wollte, bis nichts mehr von dem Frust in mir übrig war.

Seit dem Augenblick am Küchentisch unserer Wohnung hatte sich nichts in meinem Leben verändert, bis auf die Tatsache, dass ich nicht mehr mit Alex zusammen war. Ich hatte noch denselben verhassten Job, denselben grauen Alltag, war dieselbe traurige Frau. Ich brachte es einfach nicht fertig, mir den nötigen Tritt für eine Veränderung zu geben. Fast schien es, als hätte ich all meine Kraft dafür gebraucht, die Beziehung mit Alex zu beenden.

Während sein Leben seit unserer Trennung unter Abenteuern, neuen Hobbys und Träumen erblühte, igelte ich mich immer mehr ein. Mehr als der freitägliche Mädelsabend mit meiner besten Freundin war bei mir nicht drin.

Bei diesem Gedanken kehrte ich unsanft in die Gegenwart zurück. Von dem Mädelsabend mit Sarah konnte ich mich heute getrost verabschieden. Zu allem Übel hatte ich verschlafen, da ich am Vortag bis spät in die Nacht mit ihr telefoniert hatte, um mir mal wieder ihre Beziehungsprobleme mit Thomas anzuhören.

Als wäre das nicht schon schlimm genug, war auch noch meine Bahn ausgefallen, sodass ich jetzt mit einem Linienbus durch die brechend vollen Straßen Leipzigs tuckelte. An der Station Wielandplatz stieg ich aus und rannte über die Straße zu dem hohen Glasgebäude, welches im fünften bis siebten Stock die Firma beherbergte, für dich ich seit acht Jahren arbeitete.

Im Aufzug hatte ich das erste Mal Gelegenheit, mir die Reaktion meines Chefs auf mein Zuspätkommen auszumalen, was nicht gerade dazu beitrug, meine flatternden Nerven zu beruhigen. Chris war kein besonders verständnisvoller Mann. Um nicht zu sagen: Er war das komplette Chef-Arschloch.

Meine Kollegen waren auch nicht besser. Seit ich mich von Alex getrennt hatte, behandelten sie mich, als wäre ich ein Ungeheuer. Als ich im letzten Jahr zur Büroleitung ernannt wurde, machte sogar das Gerücht die Runde, ich hätte mir diesen Posten durch zweifelhaftere Arbeiten als nur das Sortieren von Akten verdient.

Umso dankbarer war ich, als der Aufzug an der Etage des Großraumbüros vorbeifuhr, wo sie alle saßen und auf den kleinsten Fehler von mir warteten, um mich bei Chris anzuschwärzen. Wie er und Alex hatte ich in der siebten Etage ein Einzelbüro.

Hier hatte ich zwar Ruhe vor meinen Kollegen, war allerdings den Launen meines Chefs auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, der stets wie ein Rektor hinter dem Schreibtisch seines verglasten Büros saß und jeden vorbeieilenden Mitarbeiter mit Argusaugen beobachtete.

Heute saß er mit dem Rücken zu mir und war scheinbar in ein Telefonat vertieft. Ich atmete erleichtert auf und eilte Richtung Alex’ Büro. Obwohl er allen Grund hatte, mich zu hassen, war er mein einziger Verbündeter hier. Wir hatten vor acht Jahren zusammen die Ausbildung bei Pharmamedia begonnen. Kennengelernt hatten wir uns an der Haltestelle vor der Haustür des Blocks, in dem ich zu der Zeit noch mit meinen Eltern gelebt hatte.

An besagtem Tag hatte ich ein Bushäuschen mehr denn je vermisst, denn es schüttete wie aus Kübeln. Der Regen hatte begonnen, mein Haar unter der durchgeweichten Kapuze zu kräuseln, als Alex scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war und mir seinen Schirm über den Kopf hielt. Wir waren sofort ins Gespräch gekommen und hatten schnell herausgefunden, dass an diesem Tag für uns beide der erste Tag beim selben Arbeitgeber anbrechen würde. Aus Sympathie war schnell Freundschaft und bald darauf Liebe geworden. Zumindest bei Alex.

Ich erwachte aus der Erinnerung und betrat sein Büro.

„Weißt du, wie spät es ist?“, begrüßte er mich, ohne von seinem Aktenstapel aufzusehen.

Ich ließ mich auf einer Ecke seines Schreibtisches nieder, wo wie immer eine zweite Tasse Kaffee auf mich wartete.

„Wie schlimm steht es?“, fragte ich bang und nahm einen großen Schluck des inzwischen eiskalten Getränks.

„Du hast deinen Zwölfuhrtermin verpasst“, erwiderte er gelassen.

Ich sprang so ruckartig auf, dass der Kaffee aus der Tasse auf den Boden schwappte. Zum Glück verfehlte er mein sündhaft teures Business-Kostüm. „O Alex, entschuldige“, jammerte ich, griff nach der Taschentücherbox auf seinem Schreibtisch und wischte den Kaffee zu meinen Füßen auf.

Er war sofort bei mir und legte mir eine Hand auf den Arm. „Georgie, beruhige dich. Egal, was Chris auch sagt, das ist nicht das Ende der Welt. Weder die Kaffeeflecken, noch der verpasste Termin.“

„Aber es ging um eine Großabnahme von –“

„Ich weiß“, unterbrach er mich sanft. „Ich habe den Termin übernommen.“

Meine Augen weiteten sich erstaunt. „Du? Aber du warst nicht vorbereitet.“

„Wir haben den Auftrag“, informierte er mich.

Einen Moment konnte ich ihn nur fassungslos anstarren.

„Alex Hartmann, wie zur Hölle hast du das schon wieder hinbekommen?“

„Ganz einfach. Ich habe den Herrschaften mitgeteilt, dass meine Kollegin wegen Krankheit ausfällt und sie gefragt, ob sie stattdessen mit mir Vorlieb nehmen können oder einen neuen Termin mit dir vereinbaren wollen. Sie entschieden sich schnell und unkompliziert für die erste Variante“, erwiderte er.

„Was wird Chris dazu sagen?“, fragte ich besorgt.

Ich erfuhr es in der nächsten Sekunde, als die Tür hinter mir aufgerissen wurde. „Was glaubst du eigentlich, was du da machst, Georgie?! Meinst du nicht, nach deiner ausufernden Tiefschlafphase hätte dein erster Weg in mein Büro führen müssen? Wie lange stehst du da schon mit einer Kaffeetasse in der Hand?“

„Ich versichere dir, dass sie noch nicht lange hier ist, Chris. Und den Kaffee habe ich ihr gekocht, ehe sie kam“, schritt Alex ein.

Es war zu spät. Unser Chef war voll in Fahrt. „Wenn du so viel Zeit hast, für sie den Diener zu spielen, sollte ich dir wohl mehr Aufgaben geben, Alexander. Im Grunde weiß ich gar nicht, warum ich zwei Gehälter bezahlen soll, wenn du Georgies Aufgaben offenbar spielend erledigst.“

„Es war das erste Mal, das ich einen Termin verpasst habe“, versuchte ich mich wütend zu verteidigen.

Chris war einer dieser Menschen, für die alles Gute nicht der Rede wert war und die auf jeden Fehler warteten, um sich dann gnadenlos und ausufernd daran hochschaukeln zu können.

„Soll ich dir jetzt auch noch dankbar dafür sein? Wie lange willst du hier noch herumstehen?“

Ich biss mir auf die Zunge, um nichts zu erwidern, was mich Kopf und Kragen kosten könnte, und stürmte erhobenen Hauptes an ihm vorbei aus dem Raum. Endlich in meinem Büro angekommen, warf ich frustriert die Tür hinter mir ins Schloss und hätte am liebsten einen Schreikrampf bekommen, als ich die Aktenberge auf meinem Schreibtisch sah. Mit schnellen Schritten ging ich näher. Auf jedem Stapel lag ein Vermerk von Chris mit immer derselben Notiz, die da hieß:

Noch heute zu erledigen!

Mir traten Zornestränen in die Augen, als ich einige der Akten durchsah, von denen die meisten alles andere als dringlich waren. Mir war klar, dass er das nur tat, um mir eins reinzuwürgen; wahrscheinlich mit dem Wunsch, dass ich in sein Büro stürmte und um Aufschub bat. Darauf konnte er lange warten! Dem würde ich es zeigen und wenn ich die ganze Nacht hier säße!

Eine Stunde später wühlte ich mich gnadenlos durch die Papierstapel und ignorierte geflissentlich das Klopfen an der Tür. Mein Telefon hatte ich einfach ausgestöpselt und in mein E-Mail-Postfach sah ich gar nicht erst hinein. Nun galt ausschließlich: Ich gegen Chris!

Viel später – draußen war es aufgrund des Regens fast schon dunkel – ertönte ein Klopfen an meiner Tür. Ich stöhnte und ignorierte es. Als sich die Tür dennoch öffnete, sah ich mit kampfbereitem Blick auf, stellte jedoch erleichtert fest, dass es sich um Alex handelte.

„Meinst du, es ist klug, wenn er uns noch einmal zusammen erwischt?“, fragte ich.

„Du klingst, als hätte dein Ehemann uns in flagranti erwischt.“

Jetzt konnte auch ich mir das Grinsen nicht mehr verkneifen. „So hat es sich auch angefühlt.“

Alex lachte und schloss die Tür hinter sich. „Keine Sorge, dein Göttergatte hat vor drei Stunden das Gebäude verlassen.“

„Vor drei Stunden?“, fragte ich schockiert. „Wie spät ist es denn?“

„Kurz nach vier und Zeit für einen Kaffee. Ich wette, du hast heute noch keinen gehabt, bis auf den Schluck in meinem Büro. Von etwas Essbarem ganz zu schweigen.“ Damit stellte er eine Tasse frischen Kaffee zwischen meinen Aktenbergen ab.

„Danke, aber ich habe ja kaum Zeit, Luft zu holen“, sagte ich deprimiert und warf einen Blick auf den Berg an noch zu erledigender Arbeit. „Kein Wunder, dass er so früh Feierabend machen konnte, wenn er seine ganze Arbeit auf mich abgewälzt hat. Mal wieder.“

„Wirklich, Georgie. Warum bist du noch hier?“, fragte Alex.

Ich runzelte die Stirn, legte einen Stoß an erledigten Papieren beiseite und griff mir den nächsten. „Weil ich das alles heute noch erledigen muss.“

Er zog sich einen Stuhl heran, griff sich ebenfalls einige Akten und begann, sie zu sortieren. „Ich meine nicht nur heute, sondern generell.“

„Du musst mir nicht helfen“, sagte ich statt einer Erwiderung. „Du hast Feierabend, oder?“

„Und du weichst meiner Frage aus“, lächelte er.

„Ach, Alex! Das Thema hatten wir schon tausendmal. Niemand liebt seinen Job.“

„Aber keiner hasst ihn so wie du“, erwiderte er.

Gereizt schmiss ich den Kugelschreiber über den Tisch und sah ihm wütend ins Gesicht. „Fein, dann erzähl mir doch bitte, welcher Job zu mir passt und da draußen nur darauf wartet, von mir entdeckt zu werden.“

„Dass du ständig so gereizt reagierst, wenn das Thema zur Sprache kommt, verrät mir, dass ich richtig liege“, erwiderte er ernst. „Georgie, ich kann dir nicht sagen, wonach du suchst, aber wenn du hierbleibst und dich für dieses Arschloch krummschuftest, wirst du es nie herausfinden.“

„Das ist nicht so einfach“, rief ich frustriert und ignorierte die kleine hässliche Stimme in meinem Kopf, die mir widersprach und mich einen Feigling nannte.

Einige Zeit schwieg er. „Und was ist mit deinem Vorsatz, dein Leben zu ändern?“

Schockiert sah ich ihn an. Das war heute schon das zweite Mal, dass mich der Abend unserer Trennung einholte. Es war kein Wunder, dass er wütend darüber war, dass ich mich leichter von unserer Beziehung hatte lösen können als von einem Arbeitsplatz, den ich von Tag zu Tag mehr hasste. Trotzdem fand ich es unglaublich, dass er mir gerade jetzt diesen Satz entgegenschleuderte.

Auf mein betroffenes Schweigen hin seufzte er: „Lassen wir das. Komm, lass uns weiterarbeiten. Umso schneller sind wir hier raus.“

Ich gab es auf, ihm das ausreden zu wollen und so arbeiteten wir stumm und effizient. Unglaublicherweise waren wir schon um sechs Uhr fertig.

„Jetzt aber nichts wie raus hier“, rief Alex erleichtert und erhob sich.

„Ich danke dir“, sagte ich und hatte ein schlechtes Gewissen. Wie eigentlich immer. „Lass mich dich wenigstens auf ein paar Getränke ins Leos einladen.“

Zögernd blieb er in der Tür stehen. „Und was ist mit deinem Mädelsabend mit Sarah?“

Ich winkte ab. „Ohne deine Hilfe hätte ich ihr absagen müssen. Leiste uns Gesellschaft. Bitte!“

Er grinste. „Alles klar. Wenn du meinst, dass Prinzessin Sarah noch jemanden zu ihrem königlichen Hofstaat lässt, bin ich gern dabei. Ich hole nur noch schnell meine Jacke.“

Als er aus dem Zimmer war, rollte ich die Augen, holte mein Handy aus der Tasche und schrieb Sarah eine kurze SMS, dass Alex mich begleiten würde. Auf die Antworten musste ich nicht lange warten. Sie bombardierte mich mit Nachrichten – das kannte ich schon von den Szenen, die sie Thomas regelmäßig machte. Sie schrieb, dass es unser Abend war und sie Alex nicht dabeihaben wollte. Dass ich genau wüsste, dass sie ihn nicht mochte. Dass auf mich kein Verlass sei, sobald er in meiner Nähe war.

Als ich Schritte hörte, ließ ich das Handy ohne zu antworten wieder in meine Tasche gleiten und setzte ein eiliges Lächeln auf. „Sie hat dir eine Szene gemacht, oder?“

„Nein, alles gut“, log ich schnell, obwohl ich genau wusste, dass er mir nicht glaubte und alles durchschauen würde, sobald wir bei Sarah im Lokal ankämen, die sich keine Mühe geben würde, Freundlichkeit vorzutäuschen.

„Georgie, sie ist nicht die Herrscherin über dein Leben“, knirschte er wütend.

Es war nicht die erste Auseinandersetzung dieser Art, die wir wegen Sarah führten. Während unserer Beziehung hatte Alex mich immer wieder ermahnt, dass sie zu viel Einfluss auf mein Leben nahm. Heute ließ ich ihn gewähren und sank ermattet im Beifahrersitz zurück, während er sich die ganze Fahrt über sie ausließ und das Handy in meiner Tasche wütend vibrierte, bis endlich der Akku versagte.

Als wir im Leos ankamen, saß Sarah allein an einem Tisch am Fenster und warf uns feindselige Blicke zu.

„Lass dich bloß nicht wieder von ihr schikanieren“, flüsterte Alex warnend in mein Ohr.

Meine Antwort darauf war lediglich ein resignierter Seufzer, weil ich – wie immer, wenn ich mit Sarah und Alex gleichzeitig in einem Raum war – das Gefühl hatte, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Oder, was es noch besser traf, von zwei heranrasenden Siebentonnern zermalmt zu werden.

„Du strahlst wie immer so schön wie die Sonne“, begrüßte Alex meine beste Freundin laut.

Ich knirschte wütend mit den Zähnen. Musste er sie jetzt auch noch provozieren? Das tat man mit aggressiven Hunden schließlich auch nicht. Anscheinend empfand Alex es als unbefriedigend, dass er sie bisher zu keiner neuerlichen Explosion hatte hinreißen können, denn er fuhr fort: „Warum hast du Thommy denn nicht mitgebracht?“

Sarah schrie nicht, doch sie spie die Worte hervor wie ein feuerspeiender Drache: „Sein Name ist Thomas! Und er ist nicht hier, weil das ein reiner Mädelsabend sein sollte.“

„Ich habe Alex eingeladen, weil er mir ungemein mit der Arbeit geholfen hat“, versuchte ich zu erklären. „Ohne ihn wäre ich nie so zeitig hier.“

„Zeitig?“, schnappte sie. „Ihr seid fünf Minuten zu spät dran!“

Zum Glück kam uns in diesem Moment ein Kellner zu Hilfe, der unsere Bestellungen aufnahm. Fast schien es, als würde sich die Situation entspannen, aber auf Alex war wie immer Verlass. „Ach, und für unsere Freundin bitte einen doppelten Whisky. Die Runde geht auf mich. Du kannst ihn vertragen.“ Letzteres fügte er mit einem mitleidigen Tätscheln von Sarahs Hand hinzu.

„Nimm deine Pfoten weg oder ich hacke sie dir ab“, fuhr sie ihn an, ehe sie ihm so eilig die Hand entzog, als hätte er eine ansteckende Krankheit.

Ich rieb mir mit einer Hand über die Schläfe, hinter der sich ein pochender Kopfschmerz anbahnte. „Ich flehe euch an, reißt euch zusammen. Ich hatte einen beschissenen Tag!“

Sarah beließ es bei einem gereizten Zungenschnalzen.

Eine Dreiviertelstunde später hatte sie bereits so viel getrunken, dass sie vergaß, sauer auf mich zu sein. Stattdessen widmete sie sich ihrer Lieblingsbeschäftigung, welche darin bestand, mir Männer im Raum zu zeigen, die augenscheinlich perfekt zu mir passen würden. Da Alex dabei war, schien es ihr noch mehr Freude zu bereiten als üblich.

„Siehst du den Typ an der Bar? Der mit den dichten schwarzen Haaren und den wahnsinnig braunen Augen? Ich wette, der spricht dich an, sobald du zur Toilette gehst.“

„Dann ist es ja gut, dass ich nicht muss“, erwiderte ich kühl, während ich spürte, wie Alex sich neben mir anspannte.

„Oh, da haben wir ihn wieder.“ Sarah schlürfte genüsslich an ihrem Mai Tai. „Den berühmtberüchtigten A-H-Effekt!“

Alex knallte sein leeres Bierglas so heftig auf den Tisch, dass ich befürchtete, es würde zerspringen, ehe er überstürzt aufstand. „Ich bestelle mir noch einen Drink!“

Der Abend war die reinste Katastrophe. Dieser bescheuerte A-H-Effekt war ein Running Gag von Sarah. Sie hatte ihn kurz nach unserer Trennung erfunden. Ich hatte seitdem beschlossen, mich von allen Männern fernzuhalten. Jedes Mal, wenn ich einem Typen einen Korb gab, kam sie wieder damit an. Das A und das H standen für die Initialen Alexander Hartmann. Dem Mann, der mein letzter Versuch gewesen war, wirkliche Liebe in mir zu spüren.

„Sag mal, musste das sein?“, sagte ich, als er außer Hörweite war.

„Ich kann einfach nicht anders“, kicherte Sarah. „Und irgendwie habt ihr es nicht anders verdient, so verkorkst wie ihr zwei seid. Ich meine, er kommt nicht von dir los und hofft so offensichtlich, dass du deine Meinung änderst, dass er einem fast schon leidtun könnte. Und du suchst so verzweifelt nach einem Mann, der erst noch für dich gebacken werden muss, dass du mir tatsächlich leidtust.“

Es war dasselbe blöde Gerede, das sie immer von sich gab, doch der Alkohol ließ es besonders bösartig klingen. Oder er machte mich sentimental. Jedenfalls trafen mich ihre Worte so tief, dass ich aufstand und aus dem Lokal stürmte. Ich hörte noch, wie sie mir nachrief, dass sie es nicht so gemeint hätte, aber ich ignorierte sie und rannte allein in die Nacht.

Sie konnte nicht verstehen, wie es für mich war – dieses Warten auf das Unerklärliche. Ich hatte nie versucht, es ihr begreiflich zu machen. Sarah war nicht die typische beste Freundin. Sie hätte mir vermutlich geraten, mit dem Warten aufzuhören. Als ob ich eine Wahl gehabt hätte! Ich hatte es mehr als einmal versucht. Immer, wenn ich es fast geschafft hatte, war der Gedanke dieser einen Möglichkeit in mir aufgestiegen. Der Möglichkeit, dass irgendwo da draußen jemand war, der genauso verzweifelt wartete. Und zwar auf mich. Es war nichts Ganzes und nichts Halbes. Ich wollte das Gefühl nicht mehr ertragen, aber loslassen konnte ich es erst recht nicht.

Als sich eine Hand auf meine Schulter legte, wirbelte ich aufgewühlt herum und sah in Alex’ besorgtes Gesicht. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass er mir gefolgt war. „Was ist denn passiert?“

„Ich bin einfach völlig fertig. Ich ertrage sie keine Sekunde länger“, erwiderte ich schwer atmend.

„Dass Sarah eine Hyäne sein kann, muss ich dir nicht erst sagen“, erwiderte er schief grinsend.

Es war ein weiteres Zeichen dafür, dass Alex ein Engel sein musste, weil er immer noch versuchte, zu schlichten, obwohl sie den ganzen Abend so ekelhaft zu ihm gewesen war.

Egal wie wütend ich auf Sarah war, dass sie voller Schuldgefühle allein zurückblieb, wollte ich auf keinen Fall. „Tust du mir den Gefallen und gehst bitte zu ihr zurück? Ich bringe es einfach nicht über mich, aber ganz allein will ich sie auch nicht sitzen lassen.“

Sein Blick verfinsterte sich. „Verdient hätte sie es. Und dich soll ich allein nach Hause laufen lassen?“

„Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.“

„Klar, du bist eine Heldin“, erwiderte er spröde. „Damit du es weißt, ich mache das nur, damit du abschalten kannst! Schreib mir wenigstens, sobald du in deiner Wohnung bist.“

Manche Gewohnheiten ließen sich einfach nicht ablegen. „Versprochen. Ich danke dir!“

„Das war das letzte Mal, dass ich dich aus ihren Klauen befreit habe. Du musst endlich lernen, auf deine eigenen Bedürfnisse einzugehen.“ Damit wandte er sich um und ließ mich fröstelnd in der Nacht zurück.

Ich ließ mich auf dem kalten Stein des kleinen Brunnens auf dem Platz vor der Thomaskirche nieder und fragte mich, wie ich auf meine eigenen Bedürfnisse eingehen sollte, während ich gleichzeitig das Gefühl hatte, keinen Deut in das Leben zu passen, welches ich zu diesem Zeitpunkt führte.