Leseprobe Sommer im Gutshof zum Glück

1.

Der Koffer lag offen und bereits gut gefüllt auf dem Bett. Sarah Kunzmann stand an diesem sonnigen Junimorgen in ihrem WG-Zimmer vor dem Kleiderschrank und blickte unschlüssig auf die Reste ihrer überschaubaren Sommergarderobe. Sie zog ein buntes Shirt-Kleid aus dem Fach, was sie seit einer gefühlten Ewigkeit besaß. Mit dem Fuß gab sie der offenstehenden Zimmertür einen Schubs, sodass diese zufiel. Quadratische Spiegelkacheln kamen auf der Rückfront zum Vorschein. Mit skeptischer Miene ließ Sarah das Kleid vor der Brust nach unten fallen. Na ja, für den Strand würde es noch gehen. Ihr Blick wanderte zu den bereits eingepackten Sachen, wo obenauf der neue Bikini lag. Lächelnd legte sie das Kleid zur Seite und holte ihn wieder hervor. Herrje, wenn sie so weitermachte, würde sie nie mit dem Packen fertig werden. Ihre Finger fühlten das seidige Gewebe und sie dachte daran, wie angenehm es sich auf ihrer Haut angefühlt hatte. An den Preis mochte sie allerdings nicht mehr denken. Für ihre Verhältnisse war der Bikini mit fünfundneunzig Euro sündhaft teuer gewesen. Doch bei dem frechen Karo in Pink und Marine hatte sie einfach nicht widerstehen können. Bis heute war es ihr ein Rätsel, wie sie in das noble Wäschegeschäft geraten war. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit war sie an diesem Tag einen anderen Weg nach Hause gegangen. Warum, wusste sie schon gar nicht mehr. Nur, dass ihr das Glück aus allen Poren gekommen war, daran erinnerte sie sich noch gut. Es war am Tag nach der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse gewesen. Bestanden. Da durfte man doch auch mal unvernünftig sein, oder? Und dann hatte sie vor der Auslage gestanden. Bei schöner Wäsche wurde sie immer schwach. Egal, in welchem Laden. Eigentlich hatte sie sich nur mal kurz die Nase am Schaufenster plattdrücken wollen. Zweifellos kein Geschäft für junge Studentinnen. Eher für Professorengattinnen. Und trotzdem hatte sie nicht weitergehen können. Nach dem Preis fragen wird schließlich erlaubt sein, hatte sie gehofft. Sogar erwünscht, wie die nette Verkäuferin anschließend meinte, die so ganz anders war als das Personal in den Läden, wo sie sonst einkaufen ging. Die Dame um die fünfzig hatte sie hereingebeten und es überhaupt nicht merkwürdig gefunden, dass Sarah sich nur mal umsehen wollte. Nachdem sie wusste, was die junge Kundin interessierte, hatte sie Sarah eine Auswahl von Bademoden vorgelegt. Doch kein Bikini gefiel Sarah so gut wie der im Stil der 50er Jahre aus dem Schaufenster, bei dem sie am Ende doch geblieben war. Nach einer Anprobe, zu der sie die nette Verkäuferin ermuntert hatte, bestätigte sich ihre Auswahl. Leider. Insgeheim hatte sie gehofft – nachdem ihr das Preisschild aufgefallen war – er würde angezogen vielleicht doch nicht ganz so gut aussehen. Das Gegenteil war der Fall. Bei dieser Figur und mit etwas Bräune würde sie Personenschutz beantragen müssen, hatte die Verkäuferin augenzwinkernd gemeint. Sarah hatte die Aussage kommentarlos hingenommen. Schließlich war bekannt, dass in Verkaufsgesprächen gern übertrieben wurde, insbesondere bei diesem Preisniveau. Wirklich interessant war nur Daniels Reaktion. Dabei erwartete sie keine großen Komplimente, so ein Typ war er nun mal nicht. Mein Gott, sie sehnte sich so sehr nach ein bisschen mehr Spaß und Leichtigkeit in ihrem Leben. Die letzten Wochen waren von Prüfungsvorbereitungen und dem Job im Bistro beherrscht gewesen. Endlich lag das alles hinter ihr. Noch immer fiel es ihr schwer, das zu begreifen, träumte nachts von überfüllten Hörsälen und verpatzten Diplomarbeiten. Wenn jetzt noch eine der Schulen, an denen sie sich beworben hatte, eine Zusage schicken würde, wäre alles, na ja fast alles, perfekt. Sie betrachtete sich im Spiegel. Schluss jetzt! Sie wollte nicht schon wieder nur an Pflichten denken. Ob Daniel die gleichen Sehnsüchte hatte? Er redete nicht viel, schon gar nicht über Gefühle, doch wenn man ihn brauchte, war er da. Das schätzte Sarah sehr an ihm. Ach, es war so lange her, dass sie richtig Zeit füreinander gehabt hatten. Wäre es da nicht reizvoll, sich im Urlaub neu zu entdecken? Während Sarah über die Möglichkeiten, Daniel aus der Reserve zu locken, nachdachte, strich sie sich ihr volles, weizenblondes Haar zurück und band sich einen Zopf. Das Klingeln des Telefons unterbrach sie.

„Daniel, hi, was ist los? Um die Uhrzeit hast du ja noch nie angerufen. Geht’s dir gut?“

„Ja, ja, ich bin okay, aber ich muss dringend mit dir reden.“

Er machte eine bedeutungsvolle Pause und atmete tief aus, bevor er weitersprach.

„Sarah, ich hab ein Angebot von meinem Chef bekommen. Das kann ich unmöglich ausschlagen. Ich klettere die Karriereleiter gleich drei Stufen nach oben, wenn ich sofort für zwei Jahre in die USA gehe.“

„Oh, heißt das, wir fahren nicht nach Spanien?“

Sarah setzte sich aufs Bett. Ein leichter Druck kam aus der Magengegend. Enttäuscht sah sie auf den offenen Koffer neben sich. Seit Jahren hatte sie keinen richtigen Sommerurlaub mehr gemacht.

„Ja, leider. Ich muss nächste Woche schon hin. Es ist jemand ausgefallen. Herzinfarkt. Tut mir leid, ich habe auch erst gestern Abend davon erfahren.“ Daniel hielt kurz inne und sprach dann schnell und eindringlich weiter. „Schatz, ich möchte, dass du mitkommst. Es ist an der Ostküste, nicht in den Südstaaten. Es wird dir gefallen, ich habe schon Bilder gesehen, es ist wunderschön dort, nicht weit bis zum Atlantik. Du müsstest also nicht auf den Urlaub verzichten.“

Sarah schluckte, sollte sie ihm jetzt etwa dafür dankbar sein, dass er sich an ihre Abneigung gegen Schlangen und Skorpione erinnerte?

„Und was ist mit dir? Du musst doch arbeiten, oder?“

„Ja leider, ähm, es geht nicht anders. Deswegen bekomme ich ja diese Chance, verstehst du? So eine Möglichkeit kommt so schnell nicht wieder.“

Natürlich konnte sie ihn einerseits verstehen, aber andererseits, würde das jemals aufhören? Seit sie Daniel kannte, bestimmte der Job sein Leben. Sicher wäre es reizvoll, für ein paar Wochen die Ostküste der USA zu bereisen. Aber nicht so. Sie schüttelte den Kopf. Nein, ihr Traumurlaub mit Daniel sah anders aus.

„Und wie stellst du dir das vor? Soll ich etwa allein in einer fremden Wohnung im Ausland Urlaub machen, während du den ganzen Tag arbeitest und dann spät abends erschöpft aus dem Büro kommst? Tolle Vorstellung. Und wie lange soll das gehen? Du weißt doch, wie wichtig mir das ist, dass ich Ende August in einer Schule mein Lehramt antreten kann und damit endlich auf eigenen Füßen stehe.“

„Natürlich, aber manchmal ändern sich die Dinge eben. Du kannst dich doch auf mich verlassen.“

„Ja, aber … Moment mal …“

„Nein, kein aber! Ich finde, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um zu heiraten, damit du siehst, wie ernst mir das ist“, unterbrach er sie.

Sarah stöhnte innerlich auf. Besonders romantisch war Daniel nie gewesen, aber dass er ihr einen Heiratsantrag am Telefon machen würde, hätte sie ihm dann doch nicht zugetraut.

„Daniel, was ist mit dir los? Spinnst du? Wir müssen doch erst mal zusammenziehen, um zu testen, ob das mit uns überhaupt funktioniert.“

„Ich war noch nie so klar. Das passt, das weiß ich auch so. Sarah, du bist 28 Jahre und im besten Alter für Kinder. Dein Beruf läuft dir doch nicht weg, du kannst auch später wieder einsteigen.“

Sarah glaubte, nicht richtig zu hören und lachte schrill auf.

„Wie bitte? Darüber hast du noch nie mit mir gesprochen. Vielleicht kannst du dir mal kurz ins Gedächtnis rufen, dass man, um Kinder zu kriegen, Sex haben muss. Ich kann mich an das letzte Mal kaum erinnern.“

„Äh, ja, das ändert sich, das wirst du sehen.“

Sarah wurde es zu bunt. Energisch schnitt sie ihm das Wort ab.

„Du machst dir was vor, Daniel! Du lebst für deinen Job. Das ist okay, aber ich habe auch nicht nur zum Spaß studiert. Ich kann nicht all meine Zukunftspläne komplett über den Haufen schmeißen und sie so einfach gegen neue ersetzen. Das musst du verstehen. Das würdest du umgekehrt auch nicht tun.“

„Und, wie soll es dann weitergehen?“

„Fahr doch erst mal hin und schau, wie es für dich ist, dann werden wir sehen.“

„Tja“, Daniel räusperte sich, „ich hab die Tickets und das Hotelzimmer aber schon gebucht.“

„Wiiie?" Sarah holte tief Luft, um die Übelkeit zu unterdrücken, die in ihr hochkam. „Ohne mich vorher zu fragen?“

„Ich bin davon ausgegangen, dass du dich darüber freust.“

Sarah stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Sie öffnete das Fenster und die Tür zum Flur. Sie kam sich vor, als hätte sie Fieber. Wie ein Flächenbrand breitete sich Wut in ihr aus. Wieder nahm sie einen tiefen Atemzug und spürte, wie die Entrüstung einer tiefen Traurigkeit wich.

„Bist du noch da?“, rief Daniel in den Hörer.

„Natürlich! Wo soll ich denn schon sein?“, fuhr sie ihn gereizt an. Noch einmal holte sie tief Luft. Sich gegenseitig anzuschreien brachte schließlich auch nichts. Sie zwang sich zu einem ruhigeren Ton. „Daniel, ich mag keine Entscheidungen, die über meinen Kopf hinweg gefällt werden. Ich dachte, das wüsstest du. Wann haben wir das letzte Mal über uns gesprochen? Ich fühle mich total übergangen von dir.“

„Willst du es beenden?“

„Eigentlich wollte ich mit dir in den Urlaub fahren und unsere Beziehung auffrischen. Oder findest du das, was wir in den letzten Monaten hatten, normal?“

„Na ja, es war nicht unbedingt optimal, das gebe ich zu, aber für mich gibt es nur dich. Nur, dass du da nicht auf falsche Gedanken kommst.“

„Das macht es jetzt auch nicht besser. Du machst es dir zu einfach. Ich hatte in den letzten Tagen viel Zeit zum Nachdenken und bin mir nicht mehr so sicher, ob ich einen Mann will, der nie Zeit für mich hat. Ich hatte gehofft, dir in unserem Urlaub wieder etwas näherzukommen, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du mich überhaupt nicht brauchst.“

„So einen Quatsch hab ich lange nicht gehört“, rief er dazwischen.

„Doch“, ließ sich Sarah nicht beirren. „Du willst doch nur deshalb eine Beziehung, weil es zu deinem Lebensplan gehört, eine zu haben. Du vermisst mich ja nicht mal, wenn wir uns nicht sehen können.“

„Und woher willst du das wissen?“, rief Daniel empört. „Du tust gerade so, als ob du meine Gedanken lesen könntest. Ich hab dir gesagt, es wird sich ändern, und dann ist das auch so.“

„Woher ich das weiß?“ Sarah wurde nun doch laut. „Möchtest du wirklich, dass ich dir all die Wochenenden aufzähle, an denen du wegen deiner Termine und Geschäftsreisen keine Zeit für mich hattest? Oder die Abende, an denen du frühzeitig gegangen bist, weil dir dein Schlaf wichtiger war als neben mir aufzuwachen? Für manche Antworten braucht man keine Beweise. Das fühlt man einfach. Füüühlen, Daniel. Und versuch jetzt nicht, mir was zu versprechen, was du sowieso nicht halten kannst. Denk mal darüber nach, dann kommst du zum gleichen Schluss.“

Für einen Moment herrschte Schweigen.

„Ich kann dich nicht umstimmen, oder?“

„Nein. Ich brauche Zeit.“

Bevor er noch etwas sagen konnte, hatte sie den roten Knopf gedrückt. Erschöpft legte sie sich aufs Bett und schloss die Augen. Das Gefühl einer großen Leere durchflutete sie. Wieso fühlte sie keinen Schmerz und warum kamen keine Tränen? War sie etwa gefühlskalt?

Das Telefon klingelte erneut. Daniels Nummer blinkte im Display. Sarah ließ es klingeln. Es war alles gesagt.

Der Schlüssel drehte sich im Türschloss. Rike, ihre Freundin und Mitbewohnerin, kam nach Hause. Sie teilten sich die kleine Zweizimmerwohnung und kamen bestens miteinander aus. Auch Rike studierte Lehramt, hatte aber noch zwei Jahre vor sich, bevor sie ebenfalls ins Referendariat gehen konnte. Seit Kurzem schwebte sie im siebten Himmel, weil sie in einen jungen Polizisten namens Sebastian verliebt war.

„Hi, bin wieder da“, rief sie. Mit wenigen Schritten stand sie in der offenen Tür von Sarahs Zimmer und grinste über das ganze Gesicht. Sarah setzte sich auf und blickte suchend an ihrer Freundin vorbei.

„Bist du allein?“

Seit Tagen machte Rike keinen Schritt ohne Sebastian.

„Ja, Basti muss in die Spätschicht und ich brauche unbedingt eine große Portion Schlaf.“ Sie deutete auf das Telefon, das nach wie vor blinkend und klingelnd auf dem Nachttisch lag. „Willst du nicht rangehen?“

„Nee, lass es bimmeln! Das ist Daniel, wir haben eben genug geredet.“

Das Telefon schwieg.

Rike runzelte die Stirn und kam näher.

„Ihr habt gestritten?“ Sie wirkte ehrlich überrascht. „Wahnsinn! Das habe ich ja noch nie erlebt.“

Stimmt, dachte Sarah ironisch, wie auch, wenn man sich so fremd war.

„Streiten kann man das nicht nennen. Ich würde eher sagen, das war’s.“

Sarah berichtete ihrer Freundin von dem Gespräch mit Daniel und ging mit ihr in die Küche, um Kaffee zu brühen.

„Was hast du jetzt vor? Fährst du trotzdem nach Spanien?“

Rike holte die Milch aus dem Kühlschrank.

„Nee, auf gar keinen Fall. Erstens hat Daniel alles gebucht und außerdem kann ich mir das allein nicht leisten.“ Sie stutzte.

„Mist, jetzt hab ich den Job im Bistro schon gekündigt. Aber, ach, da will ich auch nicht mehr hin.“

Rike nickte verständnisvoll und setzte sich Sarah gegenüber an den kleinen Tisch.

„Wegen Martin? Hat er immer noch nicht kapiert, dass er nicht bei dir landen kann?“

„Das kapiert der nie“, winkte Sarah ab. „Egal, dann suche ich eben was anderes. Ich werde verrückt, wenn ich mir sechs Wochen lang einen Kopf wegen meines verkorksten Lebens machen soll, ohne was tun zu können …“

„Sechs Wochen!“ Rike riss die Augen auf und hielt für einen Moment die Luft an, bevor sie japsend weitersprach. „Das ist mein Stichwort! Mensch Sarah, das gibt’s nicht. Du bist meine Rettung!“, rief sie und riss die Arme in die Luft, so als hätte sie gerade den Weltrekord im Hochgeschwindigkeitsdenken gebrochen. Sarah konnte ihre Mitbewohnerin nur erstaunt ansehen. Doch dann dämmerte es ihr. Rikes begeisterte Berichte über das Waldecker Hofgut fielen ihr wieder ein. Seit der Teenagerzeit half sie jedes Jahr während der Ferienzeit auf einem Reiterhof im Waldecker Land aus. Sozusagen als Mädchen für alles, aber im Besonderen sorgte sie für die Verpflegung der kleinen Gäste. Als Arbeit konnte man die Betreuung von Kindern und Jugendlichen kaum bezeichnen. Die Beschäftigung als Küchenhilfe und Zimmermädchen war überschaubar und wurde gut bezahlt. Rikes Familie kam aus dem kleinen Ort in der Nähe des Edersees. Schon ihre Mutter hatte hin und wieder auf dem Gut ausgeholfen. Es war also nicht ganz einfach für sie, diesen Einsatz so kurzfristig und kommentarlos zu streichen. Doch Rike wollte um jeden Preis die Ferien mit Sebastian verbringen. Sie glaubte, ihrer großen Liebe begegnet zu sein.

Augenblicklich sprang sie auf und lief in die Diele, wo ihre Tasche stand, kam mit dem Handy zurück und umarmte Sarah.

„Was bin ich froh. Seit Tagen wähle ich mir die Finger wund. Keine Chance, dass irgendjemand Zeit hatte, mich zu vertreten. Yippie! Ich könnte die ganze Welt umarmen.“

Erschrocken hielt Rike inne und schlug sich die Hand vor den Mund.

„Entschuldige! Ich bin taktlos, schließlich hast du gerade eine Trennung hinter dir und ich denke nur an mich.“

Sarah zuckte mit den Schultern und winkte verständnisvoll ab.

„Halb so wild, ich wundere mich selber, wie cool ich bin, aber dich hat’s ja ganz schön erwischt.“

Rikes Gesichtsausdruck wandelte sich von zerknirscht auf verwundert. „War das am Anfang mit Daniel und dir nicht auch so?“

„Du meinst, ob wir tagelang nicht aus dem Bett gekommen sind und so?“

„Zum Beispiel.“

„Nein, nicht wirklich.“ Sarah runzelte die Stirn und zuckte abermals mit den Schultern. „Daniel ist nicht so triebhaft. Es war natürlich mehr als in den letzten Monaten, aber so wie bei euch war es nicht.“

„Und du hast nichts vermisst?“ Rike schüttelte fassungslos den Kopf. „Ein Glück, dass der nach Amerika muss“, murmelte sie und sprach dann wieder lauter. „So nüchtern, wie du über Sex mit Daniel redest, könnte man meinen, ihr hättet eine wissenschaftliche Studie darüber verfasst. Was du brauchst, ist ein anständiger Kerl, ein guter Lover. Verstehst du?“ Rike sah sie beschwörend an. „Damit du weißt, wovon ich rede. Du hast ja keine Ahnung, was du verpasst.“

„Wenn du meinst?“ Sarah nickte nur, war jedoch unentschlossen. Ihrer Meinung nach war ihr nichts entgangen. Sehr viele Vergleiche konnte sie allerdings auch nicht vorbringen. Nach Rikes Schilderungen zu urteilen, konnte der Sex mit Daniel also nicht besonders spektakulär gewesen sein, sinnierte sie. Anscheinend waren sie über die Mittelmäßigkeit nicht hinausgekommen. Bestimmt war Rike einfach nur ein viel heißblütigerer Typ, mutmaßte Sarah und starrte in ihre Kaffeetasse. Aber woran erkannte man, ob jemand leidenschaftlich war? Tatsächlich zeigte Rike, wenn es um Sebastian ging, ganz neue Seiten, denn ansonsten war sie eine eher bodenständige und realistische Person. Im letzten Sommer, konnte sich Sarah erinnern, war ein Tobias der erklärte Favorit ihrer Freundin gewesen, was den Job auf dem Reiterhof aber nicht infrage gestellt hatte. Ein Danach gab es nicht mehr, weil Tobias keine kalten Betten mochte. Rike hatte das mit Fassung aufgenommen. Seltsam. Bei Sebastian schien jetzt alles anders zu sein. Sarah betrachtete Rike eindringlich und schüttelte dann über die eigenen Gedanken den Kopf. Schluss damit, es gab Wichtigeres, als über Beziehungen und Sex nachzudenken.

Unterdessen tippte Rike eine Nummer in die Tastatur ihres Mobiltelefons. Kurz darauf begrüßte sie erfreut eine Maritta. Mit wenigen Worten erklärte sie die Situation und schilderte Sarahs Küchenfertigkeiten sowie ihren Werdegang. Im Nu war alles geklärt.

„Samstag um 10 musst du da sein.“

2.

Hendrik von Freyenhof bog mit dem Jeep auf den Zufahrtsweg zum Gut ein, als sein Handy am Armaturenbrett in der Freisprechhalterung klingelte. Bounty, die Bordercolliehündin seines Vaters, die er für die Zeit seines Reha-Aufenthaltes in Obhut hatte, begann sofort aufgeregt zu bellen und sprang wie wild hin und her.

„Ruhig jetzt, Bounty. Aus.“

Im Display las er Hannelore, den Namen seiner Mutter. Hendrik verzog ärgerlich das Gesicht. Was war denn jetzt wieder? Seit sein Vater vor drei Tagen mit Verdacht auf Herzinfarkt ins Krankenhaus gekommen war, ging das schon so. 

„Mama, was gibt’s? Ich bin gleich da, stehe sozusagen schon vor der Tür.“

„Gut, ich wollte nur sichergehen, dass du unsere Besprechung nicht vergisst.“

„Nein, natürlich nicht. Wie auch? Es ist heute das dritte Mal, dass du mich daran erinnerst.“

„Entschuldige, aber ich weiß doch, an was du alles denken musst“, versuchte sie, sich zu rechtfertigen.

„Es gab im Sägewerk noch Probleme mit der Hebebühne, deshalb bin ich etwas später.“

„Gut. Wir sind im Arbeitszimmer. Bis gleich.“

Hendrik, der inzwischen das Gelände des Hofes erreicht hatte, parkte und ließ Bounty aus dem Jeep springen, bevor er die wenigen Treppenstufen des Haupthauses hinaufeilte. Eine Besprechung. Bisher hatte man Familienangelegenheiten beim gemeinsamen Essen, das an den meisten Tagen abends eingenommen wurde, besprochen. Als wenn dafür jetzt Zeit wäre. Hendriks Blick streifte flüchtig das u-förmig angelegte, weitflächige Anwesen mit seinen altehrwürdigen Fachwerkgebäuden, deren Mauern teilweise bis in das 17. Jahrhundert zurückreichten. Gut Freyenhof zählte zu den größten in der ganzen Region. Einst galt es, insgesamt 750 Hektar Wald- und Freiflächen zu bewirtschaften. Mittlerweile waren Teile der Ländereien verpachtet oder auch verkauft. Die Forstwirtschaft stellte die größte Einnahmequelle dar. Doch das reichte nicht, um das Familienerbe zu bewahren. Schon in den 1980er Jahren hatte sein Vater Hans-Hermann, mit Zustimmung seines Großvaters Wilhelm-Konrad, die unrentable Landwirtschaft in weiten Teilen aufgegeben und den Betrieb umstrukturiert. Die alten Gemäuer wurden modernisiert und zu einem Gestüt mit Reiter- und Ferienhof aus- und umgebaut. Ein weiteres, stattliches Haus, das etwas außerhalb des Hofgebäudes stand und früher als Gesindehaus diente, wurde bereits in den 1950er Jahren zu einem Hotel mit Restaurant umfunktioniert. Und nun stand Hendrik seit dem Abschluss seines Studiums vor einem Jahr seinem Vater im Betrieb voll zur Seite, wobei sein Hauptaugenmerk auf der Bewirtschaftung des Waldes mit dem dazugehörigen Sägewerk lag, denn das hatte er studiert.

Er betrat das nach westfälischer Art erbaute Herrenhaus. Das Gebäude beeindruckte allein schon wegen seiner Größe. Rechteckig, geradlinig, schnörkellos und trotzdem imposant. Aus jeder Ritze sprach Geschichte. Eilig durchquerte er die großzügige Diele und betrat das Büro seines Vaters. Bounty immer vorweg. In dem mit Eichenholz ausgestatteten Raum fühlte man sich zurückversetzt in eine längst vergangene Zeit. Der schwere Schreibtisch aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts beherrschte den Raum ebenso wie die mit Büchern und Akten gefüllten Regale an den Wänden. Das einzige Zugeständnis an die Neuzeit war der Computer, gefolgt vom Faxgerät, Kopierer und Drucker. Dem gegenüber stand ein Ledercouchensemble im englischen Stil mit passendem Tisch. Durch das Fenster konnte man die Pferdeweiden sehen. Bounty, die sofort schwanzwedelnd auf Eike zulief, der mit Dorit auf der bequemen Couch saß, wollte sich ihre Streicheleinheiten abholen. Vor Dorits Füßen rollte sie sich schließlich zufrieden zusammen und verfolgte das Geschehen um sie herum mit wachsamen Blicken. An den Wänden hingen Urkunden, Auszeichnungen und Ölgemälde, auf denen vor allem Pferde zu sehen waren. Einmal mehr eine Veranschaulichung der langen Tradition des Gestüts. Hannelore, die ihn hereinkommen sah, legte den Telefonhörer aus der Hand und kam auf Hendrik zu.

„Setz dich, ich will euch von eurem Vater berichten. Ich war heute Morgen im Krankenhaus und habe eben nochmal mit der Stationsschwester telefoniert.“

Wortlos setzte er sich zu seinem Bruder und dessen Frau, während Hannelore auf und ab ging, bis sie abrupt stehenblieb.

„Gott sei Dank.“ Sie presste eine Hand auf ihr Dekolleté und holte tief Luft. „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass es eurem Vater schon wieder viel besser geht. Er hat nicht, wie anfangs vermutet wurde, einen Herzinfarkt, sondern nur Angina Pectoris, was eine Art Verkrampfung des Herzens ist.“

„Ach wie schön.“ Dorit umarmte ihre Schwiegermutter. „Darauf haben wir gehofft. Aber wie geht’s jetzt weiter?“

Auch die Brüder waren aufgestanden und drückten ihre Mutter liebevoll.

„Danke Kinder, ich weiß, dass ihr euch genauso viele Sorgen gemacht habt wie ich. Euer Vater geht morgen für mindestens drei Wochen nach Rotenburg zur Reha. Wie ihr euch vorstellen könnt, kommt sein Zustand nicht von ungefähr. Die vielen Verpflichtungen und Termine. Ja, und ich weiß auch, was ihr dazu sagen wollt, er wollte ja auch nicht kürzertreten. Gut, das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Die Ärzte haben ihm gehörig den Marsch geblasen. Doch nun müssen wir mit den Aufgaben, die anstehen, ohne ihn fertig werden.“

Hendrik, Eike und Dorit setzten sich wieder und Hannelore nahm ihnen gegenüber Platz. Sie holte tief Luft und jeder wusste, woran sie dachte. Wie jedes Jahr um diese Zeit stand das Springturnier mit Auktion an. Außerdem musste die erste Welle von Ferienkindern bewältigt werden, die am Sonntag anreisen würden.

Hans-Hermann von Freyenhof war ein leidenschaftlicher Reiter und Pferdezüchter. Als junger Mann war er so erfolgreich gewesen, dass er es sogar bis in die Reihen der Olympioniken geschafft hatte. Doch besonders stolz war er auf das über die Grenzen des Landes hinaus bekannte, internationale Springturnier, das jährlich auf dem Gut stattfand.

„Die Unterbringung und Bewirtung ist bereits in trockenen Tüchern“, meldete sich Eike zu Wort. „Das zusätzliche Personal ist schon angeheuert. Also für meinen Teil kann ich sagen, wir sind gerüstet.“

Hendrik betrachtete die beiden neben sich, die so zufrieden wirkten. Eike, mit seinen dreiunddreißig Jahren vier Jahre älter als er, wusste seit seiner Jugend, dass er Sternekoch werden wollte. Nach der Ausbildung in einem Spitzenrestaurant in Kassel absolvierte er weitere Schulungen fürs Hotelmanagement, wo er dann die Konditorin Dorit kennen- und lieben lernte. Die beiden waren seit vier Jahren ein Paar und hatten im vergangenen September geheiratet. Von Anfang an stand für seine Eltern fest, dass damit die Zuständigkeiten auf dem Gut klar geregelt waren. Hendrik dagegen sprang überall mal ein, selbst im Hotel half er hin und wieder aus, wenn Not am Mann war.

Ein wenig über die Selbstzufriedenheit seiner Bruders verärgert, zog er die Augenbrauen hoch und räusperte sich. „Ja, leider kann ich das von mir noch nicht sagen. Mir war klar, dass das jetzt alles auf mich zukommt. Aber es ist schließlich das erste Mal, dass ich mich um die Organisation kümmern muss. Bisher habe ich Vater nur dabei geholfen, wenn es zeitlich mit meinem Studium passte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Mit Uwe Ritter habe ich schon gesprochen. Er wird das Sägewerk für die nächsten drei Wochen weitgehend ohne mich leiten. Die Waldarbeiter wissen auch Bescheid.“

„So war das doch nicht gemeint. Ich wollte damit nur sagen, dass ich für das, was in meiner Verantwortung liegt, vorbereitet bin.“ – Eike hob beschwichtigend die Hand. „Ich habe vom Turnier keine Ahnung und wüsste gar nicht, wie ich dir dabei helfen könnte.“

Hannelore sah die Brüder eindringlich an und Eike schwieg.

„Bitte, keine Diskussionen jetzt. Das Letzte, was wir brauchen können, ist Streit.“ Sie wandte sich Hendrik zu. „Ich habe mir darüber auch meine Gedanken gemacht. Wir müssen uns nichts vormachen. Selbst wenn euer Vater jetzt zurückkäme, könnte er nicht da weitermachen, wo er aufgehört hat. Das wird wahrscheinlich in dieser Form gar nicht mehr möglich sein. Außerdem werde ich es nicht zulassen, dass er seine Gesundheit noch einmal so gefährdet. Hendrik, es verlangt niemand von dir, dass du alle Aufgaben deines Vaters eins zu eins übernehmen sollst. Das ist unmöglich.“ Hannelores Lippen umspielte ein Lächeln. „Tja, und weil das so ist, habe ich Gesine angerufen und sie um Hilfe gebeten." Sie machte ein zufriedenes Gesicht, als sie weitersprach. „Gesine ist wirklich ein sehr nettes Mädchen, pardon, eine junge Frau, und sie war sofort einverstanden. Sie hat mir versprochen, überall einzuspringen, wo Not am Mann ist. So, das ist meine Überraschung. Nun müssen wir alle Aufgaben nur noch neu verteilen.“

Die Brüder sahen sich entgeistert an. Und Dorit, die das beobachtete, hob fragend die Augenbrauen und sah ihren Mann vielsagend an.

„Hältst du das wirklich für notwendig?“ Hendrik, der nicht länger die Ruhe hatte, auf dem Sessel auszuharren, stellte sich vor seine Mutter. „Hat sie nicht mit ihrem Job schon genug zu tun?“, rief er um Beherrschung bemüht. „Soviel ich weiß, greift sie ihrem Vater bei der Büroarbeit unter die Arme. Ich bin sicher, wir kriegen das auch ohne sie hin.“

Entschlossen sah Hannelore zu ihrem Jüngsten auf. Hendrik bemerkte die Falte, die sich über ihrer Nasenwurzel bildete. Ein sicheres Zeichen, dass sie keinen seiner Einwände gelten lassen würde. Wie immer hatte sie bereits entschieden. Resigniert suchte er nach der Hündin und wandte sich zum Gehen.

Eike und Dorit, die die Szene schweigend beobachtet hatten, erhoben sich und gingen zur Tür. Eike hob die Hand. „Die Arbeit wartet, oder war noch was Wichtiges?“

„Nein, das war’s fürs Erste. Wir sehen uns später.“ Hendrik, der bereits die Klinke der noch offenen Tür in der Hand hielt und hinter den beiden hergehen wollte, wurde von seiner Mutter aufgehalten.

„Warte. Mach noch mal zu. Ich merke doch, dass du ein Problem mit Gesine hast.“

Einen Seufzer unterdrückend schloss er die Tür und musterte seine Mutter kühl. „Ich hab gar kein Problem mit ihr, dafür ist sie mir nicht wichtig genug. Ich bin nur der Meinung, dass Fremde keinen Einblick in unsere Interna haben sollten, das ist alles.“

„Aber sie ist doch keine Fremde. Unsere Familien sind seit Ewigkeiten miteinander befreundet. Das weißt du doch. Warum bist du so misstrauisch?“

Er ignorierte die Frage, weil er keine Lust hatte, das Gespräch unnötig in die Länge zu sehen. „Das sehe ich anders. Wir brauchen ihre Hilfe nicht, genauso wenig, wie sie die unsere brauchen. Als Onkel Friedrich vor zwei Jahren so schwer erkrankt war, wurde da einer von uns um Hilfe gebeten? Oder, viel wichtiger, hast du schon Einsicht in ihre Bücher bekommen? Nein, weil sie es allein geregelt haben und genau das sollten wir auch tun.“

„Gut, ich verstehe deine Bedenken. Ich werde darüber nachdenken, aber sie ist bereits auf dem Weg hierher, und wenn sie sich nützlich machen will, freue ich mich und das solltest du auch. Ich versichere dir, sie wird nur den Einblick bekommen, den ich ihr gewähre.“