Leseprobe Spiel zweier Herzen

1. Kapitel

Unser Schicksal steht nicht in den Sternen geschrieben, sondern in uns selbst.

William Shakespeare

Dereham Court, Norfolk, England, 1816

„Prue! Prue! Komm schnell. Er schlägt wieder Grace, diesmal auf dem Dachboden!“ Die siebzehnjährige Hope stürmte aufgelöst in das Zimmer. Ihre Zwillingsschwester Faith war mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen direkt hinter ihr.

Prudence Merridew schrak von ihrer Arbeit über dem Haushaltsbuch hoch. Der Federhalter, den sie in der Hand gehalten hatte, fiel unbeachtet auf die Seite und verspritzte dabei mehrere Tintenflecke. Eilig verließ sie den Raum, dicht gefolgt von ihren Schwestern.

„Was war diesmal der Auslöser?“, erkundigte sich Prudence im Laufen über ihre Schulter.

„Ich weiß nicht. Charity sagt, er habe sie auf dem Dachboden gefunden, als sie gerade ein Geschenk für deinen Geburtstag bastelte“, antwortete Hope keuchend.

„Charity hat versucht, ihn aufzuhalten“, warf Faith ein. „Aber er hat sie auch geschlagen.“

Ihre Zwillingsschwester fügte hinzu: „Ich wollte ebenfalls hochgehen und es versuchen, aber ich konnte das hier nicht rechtzeitig aufbekommen.“ Sie deutete auf ihr linkes Handgelenk. Es zeigte die Schürfspuren von Stricken. „Außerdem hat er die Tür abgeschlossen. Charity hat gesagt, ich sollte dich und die Schlüssel holen.“

„Ja, ich habe sie. James! James!“, rief Prue nach ihrem jungen, kräftigen Lakaien. Sie rannte die Treppe empor, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm. Auf dem zweiten Treppenabsatz hatte der Diener die jungen Mädchen eingeholt.

„Lord Dereham schlägt Grace auf dem Dachboden. Schnell!“, drängte ihn Prudence. Sie erreichten den dritten Treppenabsatz und nahmen die schmaleren Stufen, die zu den Dienstbotenquartieren und dann auf den Dachboden führten. Die neunzehnjährige Charity saß auf den obersten Stufen und hielt sich mit einer Hand ihre Wange.

„Oh Prue! Ich habe versucht …“

Prudence zog sacht die Hand ihrer Schwester weg. Zwei leuchtend rote Striemen verunstalteten die ansonsten makellose Reinheit von Charitys hellem Teint. Prue biss sich auf die Lippe. Charity war immer so sanftmütig und gut!

„Es war sehr tapfer von dir, es zu versuchen, Liebes!“

Sie schaute zu Faith, der furchtsamsten ihrer Schwestern. Sie zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, aber sie war dennoch gekommen, sich Großvater in einem seiner Wutanfälle entgegenzustellen. „Faith, nimm Charity mit nach unten in mein Zimmer. Hol von Mrs. Burton Salbe und etwas zum Einreiben. Charity, fort mit dir und lass deine Wange versorgen. Und bereite alles für Grace vor.“

Die beiden jungen Mädchen stiegen die Treppe vorsichtig hinab, und Prudence rief ihnen nach: „Sobald Hope und Grace bei euch sind, schließt die Tür ab und macht niemandem außer mir auf.“

Sie hasteten weiter nach oben. Als sie am letzten Absatz ankamen, blieb Prudence stehen. „Wir werden möglichst lautlos hineingehen, dann stürze ich mich auf ihn. Genau in dem Augenblick nehmen Sie, James, Miss Grace und bringen sie in Sicherheit.“

„Sie können sich auf mich verlassen, Miss Prue!“, erklärte der große Lakai mit grimmiger Entschlossenheit.

Prue nickte. „Danke. Ich weiß nicht, welche Folgen dies hier nach sich ziehen wird, aber ich werde dafür sorgen, dass Sie keinen Nachteil davon haben, James. Das verspreche ich.“

„Aber Prue, er ist außer sich vor Wut!“, rief Hope. „Er wird dich auch schlagen.“

„Aye, Miss Prue, besser ich werfe mich auf ihn.“ In James’ Augen glomm ein rebellisches Funkeln. „Ich bin größer als Sie.“

„Nein, er wird Sie dafür deportieren oder hängen lassen! Wenn er mich schlägt, dann schlage ich zurück!“, erwiderte Prue wild entschlossen. „Ich habe endgültig genug von diesen abscheulichen Wutanfällen und seinen Einschüchterungsversuchen. Ich bin beinahe einundzwanzig und wenn ich volljährig bin …“ Sie brach ab, da sie die Dachbodentür erreicht hatten, und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern: „Hope, du musst mit Grace in Faiths Zimmer gehen. Und bleib da.“

„Nein! Ich will dir helfen. Ich hasse ihn, Pru …“

„Ich weiß, Liebes, aber du kannst mir besser helfen, indem du Grace wegbringst und sie tröstest.“

Hope öffnete ihren Mund, um zu widersprechen, Prudence hingegen hielt ihre Hand hoch, um sie zur Stille zu mahnen. Sie schob den Schlüssel ins Schlüsselloch, drehte ihn herum und öffnete die schmale Tür, kaum größer als eine Schranktür. Es bestand keine Notwendigkeit, sich heimlich anzuschleichen. Ihr Großvater brüllte, heiser vor Wut, völlig taub für knarrende Türangeln oder Ähnliches. Er stand über eine kleine, zusammengekauerte Gestalt gebeugt.

„Du schmierige kleine Heidin!“ Die Peitsche sauste auf sie nieder. „Das ist Götzendienerei!“ Wieder war das Knallen der Reitpeitsche zu hören. „Widerliche Gotteslästerung!“ Erneut schlug er zu.

Nach jeder wütenden Anschuldigung ließ er seinen sehnigen Arm mit all der Kraft, die er aufbringen konnte, niedersausen. Die Reitgerte zischte hässlich. Die zehnjährige Grace hatte sich auf dem Boden zusammengerollt; die Hände schützend über den Kopf gelegt, versuchte sie, sich so klein wie möglich zu machen.

Prudence schoss durch den Raum wie eine kleine, wütende Kanonenkugel. „Lass meine Schwester in Ruhe, du ekelhafter Tyrann!“ Sie warf sich auf ihn, stieß ihn mit aller Kraft zur Seite, denn sie war nicht sonderlich groß. Ihr Großvater dagegen war zwar weit über sechzig, aber über sechs Fuß groß, und sein Körper war schlank und kräftig, da er viel Zeit auf der Jagd und beim Angeln verbrachte.

Und mit dem Schlagen kleiner Mädchen.

Er taumelte, aus dem Gleichgewicht gebracht. Prudence nutzte seinen unsicheren Stand aus und versetzte ihm einen weiteren kräftigen Stoß. Er stolperte über eine Truhe, aus der alte Kleider quollen – für die Verkleidungsspiele von Grace und den Zwillingen –, und fiel hin. Einen Moment lag er um Atem ringend auf dem Boden ausgestreckt inmitten von verblasstem Brokat und mottenzerfressener Spitze.

Wie Prudence ihn angewiesen hatte, hob James Grace auf seine Arme und trug sie aus dem Raum. Hope zögerte.

„Geh!“, zischte ihr Prudence zu. „Schnell!“ Die Schwester verschwand.

Ihr Großvater rappelte sich aus den alten Kleidern auf. Sein Gesicht war dunkelrot vor Zorn. Geschwollene Adern standen sichtbar auf seiner Stirn, schaumige Spucke hing an seinen Lippen. „Du dreistes Luder! Ich werde dich Mores lehren!“ Er nahm seine Reitgerte und kam auf Prudence zu.

Sie betrachtete ihn verächtlich. „Wie kannst du es wagen, mit diesem grässlichen Ding auf ein kleines Mädchen loszugehen!“, hielt sie ihm vor.

„Das kleine Heidengör war mit etwas Gotteslästerlichem, Bösem beschäftigt, und ich werde es ihr mit der Peitsche austreiben, mein Wort darauf.“

Gotteslästerliches? Böses? Prudence schaute auf den dreibeinigen Tisch, an dem Grace heimlich gearbeitet hatte. Darauf lagen ein Retikül aus Pappe und ein paar ältere Ausgaben eines Modemagazins, die ihre Nachbarin Mrs. Otterbury den Mädchen heimlich hatte zukommen lassen. Damals hatten sie alle die Modeartikel in ägyptischem Stil bestaunt, die in einer der Zeitschriften vorgestellt wurden – verziert mit merkwürdigen, fremdartigen Wesen wie der Sphinx und anderen Kreaturen, halb Mensch, halb Tier.

Ein Funke Schuldgefühl wallte in Prudence auf, als sie sich daran erinnerte, wie sehr sie diesen ägyptischen Stil bewundert hatte. Grace hatte diese „gotteslästerlichen und bösen“ Bilder verwendet, um das Retikül aus fester Pappe zu verzieren. Ihre kleine Schwester war dafür geschlagen worden, dass sie Prudence ein Geburtstagsgeschenk gebastelt hatte.

„Es ist keine widerliche Götzendienerei, sondern nur eine Modelaune. Grace ist doch nur ein Kind! Diese Muster sind einfach nur ausgefallene Verzierungen.“

„Sie sind gotteslästerlich, und das … das Ding, das sie gemacht hat, trägt das Zeichen des Teufels. Es muss verbrannt werden, und sie muss gereinigt werden. Ich prügele das Böse aus ihr heraus und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“ Er fegte die Zeitschriften und das Retikül vom Tisch, sodass es auf dem Boden landete.

Prudence lief hin, hob das Retikül auf und barg es an ihrer Brust. „In Grace ist kein Funke Böses. Sie ist ein liebes, süßes Kind und …“

„Sie trägt das Jezebel-Mal, so wie du auch!“

Prudence strich sich ihre feurigen Locken aus der Stirn. „Es ist kein Jezebel-Mal! Es sind einfach nur Haare, Großvater! Grace und ich können nichts für unsere Haarfarbe. Unsere Mutter hatte rotes Haar.“

Der alte Mann stieß ein wütendes Knurren aus und schlug mit der Gerte nach Prudence. „Ich habe dir ausdrücklich verboten, dieses Flittchen unter meinem Dach zu erwähnen! Sie war eine schamlose Jezebel, die meinen Sohn verhext und von mir weggelockt hat, und du und die andere Teufelsgeburt sind mit ihrem Mal gezeichnet! Aus dir habe ich vielleicht noch nicht alles Böse herausprügeln können, aber ich werde dafür sorgen …“

Prudence unterbrach ihn: „Wenn du jemals wieder auch nur einen Finger an sie legst, geschweige denn die ganze Hand, oder an Hope oder eine andere meiner Schwestern … dann werde ich … dann werde ich dich umbringen! Hope kann nichts dafür, dass sie Linkshänderin ist, und Graces und mein Haar ist doch nur ein Vorwand! Du bist nichts als ein widerwärtiger alter Tyrann, und ich werde es nicht länger dulden, hast du verstanden?“

„Unverschämtes Gör!“, schrie der alte Mann. „Ich bin dein gesetzlicher Vormund und ich werde dafür sorgen, dass du mir Gehorsam und Respekt entgegenbringst – so, wie deine Schwestern es tun –, selbst wenn ich dich halb totprügeln muss!“

„Ha!“ Prudence’ Stimme war voller Verachtung. „Respekt entsteht nicht durch Prügel, Großvater. Man muss ihn sich verdienen! Du siehst in dem ängstlichen Gehorsam meiner Schwestern Respekt, aber du weckst in ihnen nur Furcht und Hass. Und in mir nichts, gar nichts!“

Er stürzte vor und traf sie mit der Gerte schmerzhaft im Gesicht. Prudence wich zurück und hielt sich die Wange. Blut bedeckte ihre Finger. Er beobachtete sie voller Befriedigung. „Wir werden sehen, ob du noch dasselbe Liedchen singst, wenn ich mit dir fertig bin. Eine Hündin gehorcht immer viel besser nach einer Tracht Prügel.“

„Ich bin kein Setter oder Beagle, Großvater! Du kannst mich nicht dazu bringen, mich zu ducken, wie du es getan hast, als ich noch ein Kind war. Und ich sage dir offen ins Gesicht, die Prügel haben ein Ende. In acht Wochen werde ich einundzwanzig und dann erhalte ich die gesetzliche Vormundschaft über meine Schwestern. Das kannst du nicht verhindern. Papa hat es so verfügt.“

Er lehnte sich kurz gegen einen zerbrochenen Tisch und atmete schwer von der Anstrengung. Die dunkelrote Farbe verließ langsam sein Gesicht. „Oh, das kann ich nicht?“, fragte er. „Du hast dann zwar vielleicht die gesetzliche Vormundschaft, mein Mädchen, aber ich habe die Kontrolle über eure Börse, bis du heiratest.“ Er lachte hässlich. „Du wirst keinen Penny erhalten, es sei denn, du heiratest. Und ich werde dafür sorgen, dass du das nicht tust!“ Seine dünnen Lippen verzogen sich verächtlich. „Du kannst deine Schwestern herzen und verhätscheln, so viel du willst, Mädchen, aber ihr werdet verhungern, wenn ihr kein Geld habt.“

„Vielleicht habe ich im Augenblick kein Geld, aber ich verfüge über Mittel, von denen du nichts weißt. Sobald ich volljährig bin, werden wir von hier weggehen und du wirst uns nicht aufhalten können.“

Prudence verspürte ein zaghaftes Aufwallen von Zufriedenheit. Er hatte ihr vor Jahren, als sie neu auf Dereham Court angekommen waren, die meisten Juwelen ihrer Mutter weggenommen, aber die elfjährige, frisch verwaiste Prudence war zu sentimental gewesen, um dem grimmigen alten Mann auch die Lieblingsschmuckstücke ihrer Mutter auszuhändigen, wie er es verlangt hatte. Sie hatte ein wenig Schmuck zurückbehalten und all die Jahre versteckt. Die Juwelen würden nun ihre Rettung sein.

„Du Flittchen! Deinen Körper verkaufen, was? Das überrascht mich nicht! Aber du wirst mir nicht entkommen, um deine Familie in Schande zu bringen!“ Er fuhr zu ihr herum, von frischer Wut gepackt. Prudence lief zur Tür und so schnell sie konnte die schmalen, steilen Stufen hinunter.

Ihr Großvater war dicht hinter ihr und schlug bei jedem Schritt laut fluchend mit der Gerte nach ihr. Mehr als einmal traf er sie, und gerade als sie den Treppenabsatz erreichte, trat sie sich auf den Saum ihres Kleides und fiel auf die Knie.

Mit triumphierendem Gebrüll kam er die letzten Stufen herab, aber in seiner Eile stolperte er, rutschte aus und fiel wild um sich schlagend und schimpfend die Treppe hinab. Prudence duckte sich zur Seite und von seinem Schwung vorwärts getragen, stürzte ihr Großvater an ihr vorbei, sich immer wieder überschlagend.

Sein Sturz wurde erst von dem Geländer am Absatz bei der Treppenbiegung aufgehalten.

Mit einem Mal war es im Haus erschreckend still.

 

Prudence eilte nach oben in ihr Schlafzimmer. „Ich bin es, Hope. Mach bitte die Tür auf!“

Die Tür öffnete sich knarrend einen Spaltbreit und Hope spähte hinaus. „Prudence! Dein Gesicht! War er das?“

Prudence berührte vorsichtig mit einem Finger ihr Gesicht. In all der Aufregung hatte sie den Schnitt in ihrer Wange völlig vergessen. „Mach dir keine Sorgen, es sieht vermutlich schlimmer aus, als es ist. Wie geht es Grace?“

Hope deutete auf das Bett, wo Charity und Faith saßen, die Arme um Grace geschlungen, die sich fest zusammengerollt hatte. Ihr Gesicht drückte sie gegen ihre angezogenen Knie und ihre Arme waren über und über mit hässlichen roten Striemen überzogen. Schluchzer schüttelten ihren schmalen Körper.

Prudence kniete sich auf die Matratze und legte ihren Arm um die angespannte kleine Gestalt. „Graciela?“ Das war der Kosename ihrer Mutter für sie.

Grace sah auf und ihr blasses, tränenüberströmtes Gesicht verzog sich erneut, sobald sie die Verletzung im Gesicht ihrer älteren Schwester und deren besorgten Blick sah. Sie warf sich Prudence in die Arme. „Oh Prue! Prue, er hat dir auch wehgetan. Das tut mir leid, so sehr leid.“

Prudence spürte neue Wut in sich aufwallen auf den Mann, der das Leben eines jungen Mädchens so mit Schuldgefühlen vergiftet hatte, dass Grace sich nun die Schuld an Prudence’ Verletzung gab. Sie zwang sich, leichthin zu antworten: „Das muss es nicht, Liebes. Es tut gar nicht weh, ehrlich. Großvater hat es wesentlich schlimmer erwischt. Im Moment ist er nicht länger in der Lage, einer von uns etwas zu tun.“

Ihre Worte bewirkten, dass alle sich aufsetzten und sie ansahen. „Was meinst du damit?“, fragte Faith.

„Er ist gestolpert und die Treppe hinuntergefallen.“ Sie erschauerte. Im Geiste hörte sie wieder das Geräusch, wie sein Körper die Treppe hinabstürzte und gegen die Wand prallte. Und dann die jähe Stille …

Hope fand als Erste ihre Stimme wieder. „Ist er tot?“

„Nein, obwohl ich das zuerst einen Augenblick lang glaubte – das taten wir alle. Er lag völlig reglos da, rührte sich nicht – ganz lange.“ Sie holte tief und zitternd Luft. „Aber er war natürlich nicht tot. Ihr wisst ja, was für einen harten Schädel Großvater hat.“

„Leider“, bemerkte Hope halblaut.

„Er wurde in sein Schlafzimmer getragen und Dr. Gibson ist jetzt bei ihm. Er wird keine von uns je wieder anrühren, das verspreche ich.“

Eine Weile herrschte Schweigen in dem Zimmer. Keine der Schwestern glaubte, dass Prudence so ein Versprechen halten könnte. Sie wussten, dass es leere, tröstend gemeinte Worte waren. Grace’ Gesicht verzog sich aufs Neue und sie schmiegte sich wieder in die Arme ihrer großen Schwester. „Oh Prue, warum hasst er mich so?“, schluchzte sie.

Prudence drückte ihre kleine Schwester fester an sich. „Liebes, er verwechselt dich und mich mit unserer Mutter. Weil wir das gleiche rote Haar haben wie sie.“

„War Mama denn wirklich so schlecht?“

„Nein! Sie war überhaupt nicht schlecht! Kein bisschen. Es war nur so, dass Papa, als er sich in sie verliebte, von Dereham Court weggegangen und nie mehr zurückgekehrt ist. Das hat Großvater ihr nie verziehen.“

„Erzähl uns noch einmal von Mama und Papa, bitte, Prue“, bettelte Grace und lehnte sich gegen sie.

Ihre Eltern waren gestorben, als Grace noch ein Baby war. Die Zwillinge waren auch noch klein gewesen, Charity neun und Prue elf. Die Jüngeren hatten nur wenige Erinnerungen an ihre Eltern und es tröstete sie, die alten Geschichten zu hören, immer wieder und wieder.

„Mama war sehr schön. Ihr kommt alle ganz nach ihr. Charity ist ihr Ebenbild – bis auf das goldblonde Haar. Und die Zwillinge und du, Grace, ihr seht ihr auch sehr ähnlich. Ihr alle habt das Aussehen von Mamas Teil der Familie geerbt – von den schönen Ainsleys.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Ich bin der Pechvogel, der mit der schrecklichen Merridew-Nase geschlagen ist und den langweiligen Merridew-Augen. Ich wünschte nur, ich hätte auch die Größe und die schlanke Figur von ihnen.“

„Deine Nase ist eigentlich gar nicht so schrecklich, nur … ein wenig lang“, erklärte Faith.

„Es ist eine sehr nette Nase“, verteidigte Grace ihre älteste Schwester hitzig, „und deine Augen sind sehr hübsch, grau, freundlich und …“

„Sch, sei still!“, sagte Prudence und lachte leise. Ihre Schwestern scharten sich auf dem Bett um sie. „Meine dumme Nase kümmert mich nicht. Und außerdem haben wir von Mama gesprochen.“

Ihre Stimme verfiel in den leisen Singsang einer lieb gewordenen, oft erzählten Geschichte. „Mama war eine große Schönheit, aber ihre Familie war im Handel tätig. Papa sah sie und verliebte sich auf der Stelle in sie. Und obwohl sie Hunderte von Bewunderern hatte und er bei Weitem nicht der Bestaussehendste unter ihnen war und auch weder der Reichste noch der mit dem bedeutendsten Titel, verliebte Mama sich ebenfalls auf den ersten Blick in ihn.“ Alle Mädchen seufzten beseligt.

„Aber sowohl die Ainsleys als auch die Merridews waren gegen die Verbindung“, warf Grace ein, „und das ist der Grund, weshalb Mama und Papa nach Italien durchgebrannt sind, dort geheiratet und uns bekommen haben. Mach weiter, Prue. Erzähl uns von Mamas Haar.“

Prue lehnte sich in die Kissen zurück. Ihre Schwestern rückten näher und Grace schmiegte sich wie ein kleines Kätzchen an ihre Seite. „Mama war ganz golden, überall“, sagte sie. „Ihr Haar war rot, aber es war, als sei es gerade erst aus dem Ofen des Schmieds gekommen – ganz rot und gold und voller Leben, so wie deines, Grace. Und Papa liebte Mutters Haar. – Ich will, dass du das nie vergisst, Grace, wann immer du denkst, dein Haar sei schlecht oder hässlich! Papa spielte immerzu mit ihren Haaren, streichelte darüber, liebte es, wie es sich um seine Finger kringelte. Er pflegte zu scherzen, dass Mama ihn ganz genauso um ihren kleinen Finger wickeln könnte. Und eines Tages wirst du einen Mann finden, der dich und deine Haare ebenso liebt, wie Papa Mama liebte.“

Grace seufzte. „So, wie Phillip dich liebt?“

Prudence lächelte und strich ihr zärtlich die Locken aus dem Gesicht. „Vielleicht.“ Dann fuhr sie fort: „Es war nicht nur Mamas Aussehen, das golden war. Sie hatte auch eine herrlich weiche Stimme, wie Honig, so wie Faiths Stimme. Sie sang uns immer vor, stundenlang. Und wenn sie lachte, war es wie Musik im Sonnenschein …“

„Ich erinnere mich an das Lachen“, erklärte Charity plötzlich. „Es war so fröhlich und ansteckend, dass ich immer mit ihr lachen wollte.“

„Das hast du auch“, stimmte Prudence ihr zu. „Das haben wir alle. Mama und Papa beteten einander an. Sie berührten sich dauernd, hielten sich ständig an den Händen, küssten sich, umarmten sich und lachten …“

Alle Schwestern lachten. Es war ein gewaltiger Unterschied zu dem kalten und lieblosen Regime, unter dem sie aufgewachsen waren.

„Und sie liebten uns auch, so sehr. Papa hob uns immer auf den Arm, um uns zu drücken und zu herzen. Er scherte sich nie um klebrige Finger oder verschmierte Gesichter. Mama trug immer das Baby – das warst du, Grace – mit sich, wenn wir am Strand entlanggingen oder durch das Dorf, auch wenn Concetta – sie war dein Kindermädchen – behauptete, frische Luft schade Babys. Mama sagte nur, sie wolle alle ihre Sonnenstrahlen um sich haben …“

Sie schaute ihre Schwestern an, die dicht gedrängt auf dem großen, alten Bett saßen. Im kühlen grauen Licht erinnerten sie nicht unbedingt an Sonnenstrahlen mit ihren spitzen, schmalen Gesichtern und den vom Weinen geröteten Augen. Liebe war ihr Geburtsrecht. Das hatte Mama ihnen versprochen und Prudence musste dafür sorgen, dass sie daran glaubten. Das musste sie einfach!

„Nie, niemals dürfen wir vergessen, dass wir nicht in Großvaters grimmige und liebesleere Welt gehören“, verkündete sie. „Wir wurden in Italien geboren, in einem Haus voller Lachen und Sonnenschein, Liebe und Glück, und ich verspreche euch, egal wie schlimm es im Moment auch aussehen mag, eines Tages werden wir wieder so leben. Umgeben von Sonnenschein und Lachen und Liebe und Glück. Das verspreche ich euch!“

Draußen pfiff der bitterkalte Wind um die Giebel, als wollte er sich über ihre Worte lustig machen. Prudence schenkte ihm keine Beachtung. Sie hatte einen Plan.

 

Dr. Gibson stellte seine Tasche auf das Beistelltischchen und setzte sich. „Lord Dereham hat eine ernste Gehirnerschütterung und sein Knöchel ist an mehreren Stellen gebrochen.“

Prudence schenkte dem Arzt eine Tasse Tee ein. „Aber er wird sich erholen?“ Sie mochte ihren Großvater verabscheuen, für seinen Tod dagegen wollte sie nicht verantwortlich sein.

Dr. Gibson nippte vorsichtig an seinem heißen Tee, bevor er antwortete: „Seine Verletzungen sind ernst, aber ich glaube, sein Verstand hat keinen Schaden genommen. Ich bin mir sicher, dass er sich wieder erholt, auch wenn es nicht allzu rasch gehen wird.“

„Wie lange wird es etwa dauern?“ Prudence beugte sich vor und reichte ihm einen Teller mit gebutterten Scones. Sie fragte aus einem besonderen Grund.

Es war kühn. Es war gewagt. Es war riskant. Aber es könnte klappen.

Es war die einzige Lösung, die ihr für ihre Probleme einfiel.

Der Doktor kaute einen Ingwerkeks. „Die Kopfverletzung wird ein paar Tage brauchen, vielleicht auch eine Woche. Er wird still in einem abgedunkelten Raum liegen müssen, völlig ungestört.“ Er trank von seinem Tee und fügte hinzu: „Allerdings wird es etwas länger dauern, bis der Knöchel verheilt ist. Er ist an mehreren Stellen gebrochen. Ihr Großvater wird sein Bein wenigstens fünf oder sechs Wochen lang ganz ruhig halten müssen.“

Fünf oder sechs Wochen! Prudence wurde bei diesen Worten vor Freude ganz warm. Fünf Wochen oder gar mehr würden reichen, damit ihr Plan aufging. Doch sie würde die Hilfe des Arztes brauchen. Sie stellte ihre Tasse ab, holte tief Luft und sagte: „Dr. Gibson, wissen Sie, wie es zu Großvaters Unfall kam?“

Er schnaufte und nahm sich einen weiteren Keks. „Der Bursche, der mich geholt hat, erzählte eine wüste Geschichte, aber Sie wissen ja, wie die Dienstboten immer übertreiben.“

„Ich bezweifle, dass er übertrieben hat. Haben Sie nicht davon gehört, wie schlimm die Wutanfälle meines Großvaters …“

Der Arzt machte eine wegwerfende Handbewegung. „Pah! Ich hoffe, ich weiß es besser, als auf Dorfklatsch zu hören.“

„Aber die Geschichten stimmen“, erwiderte Prudence heftig, „und wir können so nicht weitermachen. Können Sie nicht selbst sehen, wie … heftig Großvater außer sich gerät?“

„Er war nie jemand, der den Stock sparsam eingesetzt hat, das räume ich gerne ein, aber ein Mann muss streng sein …“

„Streng! Es ist weit mehr als das, glauben Sie mir. Die arme Hope hat den größten Teil ihres Lebens ihre linke Hand auf den Rücken gebunden gehabt, damit sie sie nicht benutzt – er sagt, es sei die Hand des Teufels. Faith lebt in ständiger Angst, aus Versehen vor sich hin zu summen, weil das Prügel nach sich ziehen würde. Und Sie sollten sehen, wie er meine kleine Schwester Grace behandelt. Er ist überzeugt, sie trägt das Mal von Jezebel, bloß wegen ihrer Haarfarbe.“

Der Blick des Doktors glitt zu Prudence’ eigenen feurigen Locken und sie nickte. „Ja, ich auch. Er hat versucht, den Teufel aus mir herauszuprügeln seit ich elf bin.“ Prudence’ Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn und Sorge. „Und ich werde das nicht dulden, verstehen Sie? Er wird meine kleine Schwester nicht so brutal schlagen, wie er es bei mir getan hat.“

Der Arzt rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. „Hopes Linkshändigkeit muss korrigiert werden, allerdings kann ich verstehen, dass es Ihnen nicht gefällt. Aber Faith und Grace sind so reizend und artig.“

„Grace hat dies hier gemacht.“ Sie hielt ihm das Retikül in ägyptischem Stil hin.

Verwundert nahm der Arzt die verzierte Tasche. „Dieses ägyptische Zeug war vor ein paar Jahren der letzte Schrei in London. Ich weiß es, weil meine Frau ganz verrückt danach war.“

„Ist Ihre Gattin eine schmierige Heidin?“, fragte Prudence unverblümt. „Hat sie einen Hang zur Gotteslästerung? Götzenverehrung? Ist das Schmutz?“

Der Doktor zuckte verwirrt zurück. „Was soll das …“

„Weil Großvater Grace so beschimpft hat, weil sie dies hier gebastelt hat – eine schmierige kleine Heidengöre. Und er hat sie mitleidslos mit seiner Reitgerte geschlagen, bis ich ihn aufgehalten habe. So ist es zu dem Unfall gekommen. Er ist hinter mir her die Treppe heruntergelaufen und schlug mit der Gerte nach mir. Es war mein Glück, dass er gestolpert ist.“

Sichtlich erschüttert legte der Arzt das Retikül auf den Tisch. „Er hat sie geschlagen, weil sie dies hier gemacht hat?“

„Aufs Übelste. Er nutzt jeden Anlass, jeden Vorwand, der sich bietet. Ich möchte, dass Sie uns helfen, damit wir von hier weggehen können.“

Dr. Gibson seufzte schwer. „Prudence, Sie wissen, dass ich das nicht kann. Er ist kein einfacher Mann, das gebe ich gerne zu, aber ich bin sein Arzt, Mädchen! Erwarten Sie von mir, dass ich ihm in die Augen sehe und ihn anlüge? Ihn täusche …?“

„Grace’ ganzer kleiner Körper ist mit roten Striemen überzogen, nur weil sie dieses Retikül gebastelt hat“, erklärte Prudence ruhig, aber nachdrücklich. Sie war wild entschlossen, sein Gewissen zu wecken, damit er etwas unternahm, und ihn dazu zu bringen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Grace war immer sein Liebling gewesen. „Es ist nicht das erste Mal, dass Grace ohne Grund brutal geschlagen wurde. Er misshandelt uns alle. Wir durften Sie nie rufen, wenn er vorher eine von uns verletzt hatte, aber ich möchte, dass Sie jetzt mit mir in ihr Schlafzimmer kommen und es sich selbst ansehen.“

Schwer seufzend stellte er seine Tasse ab. „Nun gut, ich werde sie mir anschauen, aber ich verspreche nichts.“

Der Arzt untersuchte Grace in grimmigem Schweigen. Die Schrammen in Charitys und Prudence’ Gesicht entgingen ihm nicht. Nachher, als sie wieder unten im Salon saßen, ließ er sich schwer auf seinem Stuhl nieder, sichtlich erschüttert. „Es tut mir leid, aber ich hatte keine Ahnung. Und Sie sagen, das hier ist nicht das erste Mal?“

Prudence nickte. Es brachte nichts, sich wegen Vergangenem den Kopf zu zerbrechen. Sie hielt den Blick fest auf die Zukunft gerichtet. „Wenn ich in acht Wochen einundzwanzig werde, werde ich nach dem Willen meines Vaters der gesetzliche Vormund meiner Schwestern.“

„Gut, dann …“

„Allerdings können wir nur erst an das Geld, das unsere Mutter uns hinterlassen hat, wenn wir heiraten. Wir haben kein eigenes Geld. Nur genug für ein paar Monate. Danach sind wir mittellos und müssen verhungern, es sei denn, Großvater händigt uns unser Erbe aus.“ Sie schaute dem Arzt ins Gesicht. „Und er wird uns das Geld nicht geben. Er sagt, er wird keine von uns je heiraten lassen. In dem Punkt ist er unerbittlich. Wir gehen nirgendwo mehr hin, noch nicht einmal mehr in die Kirche. Wir sehen niemanden und niemand sieht uns. Wie kann eine von uns da heiraten? Sie wissen selbst, wie schön meine Schwestern sind, was für ein Verbrechen es ist, sie von der Gesellschaft abzuschotten.“

Prudence betrachtete seine Miene, versuchte zu entscheiden, ob sein Gewissen ausreichend geweckt war. Sie nahm seine Hand und erklärte: „Dr. Gibson, wir müssen entkommen. Wir haben diese kleine Zeitspanne geschenkt bekommen, in der er ans Bett gefesselt ist. Aber wenn Großvater es nicht sofort merken soll, dann müssen Sie uns helfen.“

Der Arzt seufzte. „Gut. Was soll ich tun?“

 

Prue schaute kritisch und mit gerunzelter Stirn auf die Worte, die sie geschrieben hatte. Die zittrige Handschrift sah genau richtig aus. Höchstens ein bisschen weniger schnörkelig und exakter bei den i-Punkten. Großvater setzte jeden i-Punkt immer ganz genau.

„Ist der Arzt fort? Was hat er gesagt?“ Prudence’ Schwestern betraten das Zimmer.

Charity spähte ihr über die Schulter. „Wem schreibst du? Wieder Phillip?“

„Nein, nicht Phi…“

„Wen interessiert schon Phillip?“, unterbrach sie Hope. „Du schreibst ihm ständig. Was hat Dr. Gibson über Großvater gesagt?“

„Der Brief ist nicht an Phillip.“ Prudence tupfte sorgfältig die Tinte ab. „Er ist an Großonkel Oswald.“

„Großonkel Oswald?“, rief Hope verwundert. „Großvaters missratener Bruder?“ Sie runzelte die Stirn. „Wird Großvater doch sterben?“

„Nein, er müsste sich in etwa fünf oder sechs Wochen erholt haben.“

„Warum willst du dann Großonkel Oswald schreiben?“, erkundigte sich Charity. „Er wird Großvater nicht am Krankenbett Trost spenden wollen. Zwischen den beiden gibt es keine brüderliche Zuneigung.“

„Darauf verlasse ich mich“, erklärte Prudence. „Was die Frage angeht, warum ich ihm schreibe, so schreibe ich ihm gar nicht. Dieser Brief ist von Großvater.“

„Was?“, ertönten mehrere Stimmen im Chor.

Sie las laut:

„Werter Oswald,

ich weiß, wir sind nicht immer einer Meinung gewesen, wie Brüder es sicher sollten, dennoch bin ich bereit, Vergangenes ruhen zu lassen – zum Wohl der Mädchen.“

In dem erstaunten Schweigen, das darauf folgte, hielt sie den Brief mit zwei Fingern in die Höhe und wedelte das Blatt in der Luft, um die Tinte zu trocknen. „Kurz gesagt, Großvater bittet seinen Bruder, uns eine Saison in London zu ermöglichen. Und uns Ehemänner zu suchen.“ Sie legte den Brief vorsichtig auf den Tisch. „Wir entkommen von hier. Wir kehren nie mehr nach Dereham Court zurück.“

„Prudence!“, rief Charity. „Der Brief ist schlimmer als eine Irreführung– er ist eine Fälschung. Das ist Betrug!“

Prudence zuckte die Achseln. „Ja, aber welche andere Wahl haben wir? Ich bin fest entschlossen, dass Großvater nie wieder Hand an eine von uns legen wird.“

„Es ist Sünde“, flüsterte Faith.

Prudence warf den Kopf in den Nacken. „Nun, Großvater hat immer schon behauptet, ich sei verdorben und schlecht, daher werde ich ihm eben zeigen, dass er recht gehabt hat. Wir gehen alle zusammen nach London. Und wir nehmen Lily und James mit. Lily, weil Großonkel Oswald ein Witwer ist und vielleicht keine Dienstmädchen hat, und James, weil Großvater ihm niemals verzeihen wird, was er heute getan hat.“

Ihre Schwestern schauten sich gegenseitig an. Sie alle staunten über die Gewagtheit ihres Plans. Prudence schrieb sorgfältig Großonkel Oswalds Londoner Adresse in einer leicht zittrigen Handschrift.

„Großvater wird uns niemals gehen lassen“, bemerkte Hope.

„Er wird nichts davon wissen. Er wird glauben, wir seien in das Witwenhaus umgezogen …“

„Das vermoderte alte Gemäuer! Warum sollten …“

„Weil Grace bis zu dem Moment, da seine Kopfschmerzen nachlassen, sich mit Scharlach angesteckt haben wird und wir alle in Quarantäne sein werden. Dr. Gibson hilft uns dabei, ihn zu täuschen. Ihr wisst alle, wie sehr sich Großvater vor ansteckenden Krankheiten fürchtet. Er wird nicht in unsere Nähe kommen. Mrs. Burton sagt, sie könne als Haushälterin die Hand dafür ins Feuer legen, dass die anderen Dienstboten nichts verraten. Und sie und der Arzt werden Großvater mit falschen Berichten über unsere Genesung versorgen.“

Ihre Schwestern starrten sie mit offenem Mund an.

„In der Zwischenzeit werden wir bei unserem Großonkel wohnen, all die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt bestaunen, Gesellschaften besuchen, hübsche Kleider tragen und … ach, ich weiß nicht, zu venezianischen Frühstücken oder Ähnlichem gehen. Und in die Oper! Mit ein bisschen Glück wird eine von uns, bis Großvater genesen ist, einen Ehemann gefunden haben, und ich werde einundzwanzig sein, sodass ihr dann alle mit dem Segen des Gesetzes bei mir leben könnt.“

„Gesellschaften und hübsche Kleider“, flüsterte Charity.

„Was ist ein venezianisches Frühstück?“, wollte Grace wissen.

„Wen kümmert das schon?“, erklärte Hope achselzuckend. „Es wird jedenfalls keine Schüssel Haferschleim sein, so viel steht fest.“

Faith seufzte hingerissen. „Oh, wie gerne ich eine Oper hören würde!“

„Aber wie sollen wir das schaffen? Wir haben kein Geld, Prue“, wandte Hope ein, die praktisch veranlagt war. „Wir haben noch nicht einmal genug, um die Reise für eine von uns nach London zu zahlen.“

„Mamas Juwelen“, erklärte Prudence. „Ihr Granatarmband wird uns genug einbringen, um Fahrkarten für die Postkutsche zu kaufen.“ Sie betrachtete ihre Schwestern ein wenig schuldbewusst. „Genau genommen habe ich es schon vor Monaten verkauft, für den Fall, dass sich so eine Gelegenheit ergeben sollte.“

„Damit wir nach London gehen können“, hauchte Charity.

„Ja, genau.“ Prudence lächelte. „Und wenn eine von euch für sich einen sagenhaft reichen, gut aussehenden, freundlichen und liebevollen Ehemann findet, hätte sie doch nichts dagegen, auf ihren Teil von Mamas Erbe zu verzichten, um den Rest von uns zu unterstützen, oder?“

„Oh, bestimmt nicht! Es klingt einfach himmlisch, Prue. Vielleicht findest du ja auch einen gut aussehenden Ehemann für dich“, fügte Hope hinzu.

„Hope, hast du Phillip vergessen?“ Charity wirkte schockiert.

„Ach ja, Phillip“, verbesserte sich Hope hastig. „Sicher, da ist ja noch Phillip. Wie lange ist es her, seit er zum letzten Mal geschrieben hat?“

„Sechs Monate“, antwortete Prudence würdevoll, „aber ihr wisst ja selbst, wie lange die Post von Indien braucht und wie unzuverlässig sie ist. Die Reise allein dauert Monate und wenn das Schiff in Seenot gerät und sinkt, auf dem sich Phillips Brief befindet …“

„Ja, ja. Die Post ist langsam und unzuverlässig“, stimmte ihr Charity zu. „Aber wenn er antwortet …“

„Ich bin sicher, er wird kommen. Und dann werde ich heiraten und wir alle werden in Sicherheit sein.“

„Nun, ich werde mich nicht allein auf Phillip verlassen“, verkündete Hope. „Ich werde mir allergrößte Mühe geben, in London einen Ehemann für mich zu finden. Ich will auf rauschende Bälle gehen und hübsche Kleider tragen statt dieser grässlichen, selbstgenähten Dinger. Und ich werde in den Armen eines attraktiven Mannes Walzer tanzen! Ich werde mich Hals über Kopf unsterblich verlieben, genau wie Mama und Papa.“

Eine kurze Stille entstand, als ihnen mit einem Mal die Tragweite ihres Unterfangens bewusst wurde.

Prudence sprach als Erste wieder. „Walzer tanzen, Hope? Da keine von uns eine Ahnung vom Tanzen hat, können wir uns nicht wegen Walzern Sorgen machen.“

„Das ist mir egal. Ich weiß nicht, wie es geschehen wird, aber irgendwie, irgendwann werde ich Walzer tanzen!“, erklärte Hope trotzig.

„Vielleicht solltest du das in den Brief schreiben, Prue. Bitte Großonkel Oswald, uns einen Tanzlehrer zu besorgen“, schlug Faith vor.

Grace schnitt eine Grimasse. „Dann, Dummerchen, würde er wirklich wissen, dass der Brief eine Fälschung ist. Kannst du dir vorstellen, dass Großvater so etwas vorschlagen würde?“

Prudence lächelte verschmitzt. „Großvater würde keinesfalls Großonkel Oswald bitten, uns tanzen zu lehren, Faith. Hör dir dies mal an:

„Und, Bruder, da Musik und Tanz verabscheuenswert und Teufelswerk sind, muss ich Dich daran erinnern, dafür Sorge zu tragen, dass die Mädchen während ihres Aufenthaltes in London nicht dem verderblichen Einfluss solcher Übel ausgesetzt werden. Ich habe die Mädchen nach den strengsten Regeln und Prinzipien erzogen und da sie nun einmal Frauenzimmer sind und deshalb einfältig und leicht zu beeinflussen, musst Du sorgsam über sie wachen und nicht erlauben, dass sie vom rechten Pfad abkommen.“

„Was?“, keuchte Hope. „Bist du verrückt?“

Prudence zwinkerte ihr zu und fuhr fort:

„Daher, Bruder, verbiete ich als Oberhaupt der Familie Dir ausdrücklich, meine Enkelinnen zu irgendeiner Form von Ball, Musikabend oder einer ähnlichen Verruchtheit zu bringen. Ich möchte einfach nur sichergehen, dass sie anständige, nüchterne Ehemänner von angemessenem Stand mit soliden Überzeugungen und Vermögen finden. Ältere Kandidaten wären höchst willkommen – keine jungen Tunichtgute.“

„Aber das ist ja furchtbar!“, beklagte sich Hope. „Ich will keinen muffigen, alten Ehemann mit soliden Überzeugungen – ein junger Tunichtgut dagegen klingt wundervoll. Jemand, der nett und jung ist!“

„Ich auch“, pflichtete ihr Faith bei. „Wenn du den Brief so abschickst, Prue, kannst du uns genauso gut hierlassen, damit wir hier alt und unglücklich mit Großvater werden.“

„Und geschlagen und gefesselt werden“, fügte Grace trübselig hinzu.

„Hör auf, so zu reden, Grace“, verlangte Prudence. „Ich habe dir doch schon gesagt, niemand wird dich je wieder schlagen! Und niemand wird Hope je wieder die Hand auf den Rücken binden! Jetzt vertraut mir bitte alle und denkt nach: Erstens“, zählte sie an den Fingern ab, „Großonkel Oswald lebt seit Jahren in London, daher muss es ihm dort gefallen. Und er ist nicht einmal zu Besuch auf Dereham Court gewesen, seit wir hier wohnen, daher gefällt es ihm hier offensichtlich nicht.“

„Wer würde es hier mögen?“, fragte Hope leise.

Prudence lächelte schief und fuhr mit ihrer Aufzählung fort: „Zweitens wissen wir von Phillips Mutter, dass Großonkel Oswald in die Oper geht, grässlich mondän ist und viele Gesellschaften besucht. Drittens hatte er einen üblen Streit mit Großvater – Großvater nennt ihn einen gottlosen Hund und einen frivolen Geck und lauter andere so beleidigende Dinge.“

„Die alte Köchin sagt, der junge Master Oswald, an den sie sich erinnert, war freundlich und nett und immer zu einem Scherz aufgelegt“, gab Charity zu bedenken.

„Ganz genau“, erklärte Prudence triumphierend. „Wenn Großonkel Oswald auch nur halb der Mann ist, wie ich es mir denke, wird er so erbost sein über Großvaters Anweisungen, dass er uns praktisch in ein Meer aus Bällen und Gesellschaften und anderen frivolen Verruchtheiten werfen wird, sodass wir eine ganze Reihe entzückender, junger Männer kennenlernen, einfach, um Großvater eins auszuwischen!“

Alle fünf Schwestern dachten darüber nach. „Wenn du recht behieltest, Prudence, dann wäre das einfach wundervoll!“, flüsterte Charity.

„Es wird schiefgehen“, prophezeite Grace düster. „Das tut es immer.“

„Unsinn!“ Prudence drückte ihre kleine Schwester an sich. „Versuche, nicht alles so schwarz zu sehen, Liebes. Ich bin sicher, ich habe an alles gedacht.“