Leseprobe Undercover Küsse

Prolog

Mein Gott, Jen, wo hast du dich denn jetzt schon wieder reingeritten?, dachte Jennifer Bell, als sie den Hörer auflegte, sich in ihrer Küche umsah und verzweifelt versuchte zu begreifen, worauf sie sich da gerade eingelassen hatte, versuchte, es nicht ganz so lächerlich und nicht ganz so beängstigend wirken zu lassen. Ich mache ein MBA-Aufbaustudium, dachte sie und verdrehte fassungslos die Augen. Ich hasse das Big Business. Und Bell Consulting hasse ich noch viel mehr. Und trotzdem habe ich mich gerade bereit erklärt, ein Aufbaustudium bei Bell Consulting zu machen. Schon beim Gedanken daran wurde ihr ganz mulmig.

Wie konnte das bloß passieren?, fragte sie sich. Warum um Himmels willen habe ich ja gesagt?

Vor ein paar Minuten hatte sie noch ganz friedlich und ahnungslos die Nachrichten geguckt. Hatte einfach nur dagesessen, sich um ihren eigenen alltäglichen Kram gekümmert und keinen Gedanken an irgendwelche tiefgreifenden Veränderungen in ihrem Leben verschwendet. Aber im Laufe der letzten Jahre hatte sie gelernt, dass sich innerhalb weniger Minuten eine ganze Menge verändern konnte. Vor allem, wenn ihre Mutter die Hände im Spiel hatte.

Sie runzelte die Stirn und überlegte, ob sie überrumpelt worden war, sich auf dieses kleine Abenteuer einzulassen, oder ob sie tatsächlich an der Entscheidung beteiligt gewesen war. Vermutlich Ersteres, dachte sie seufzend, während sie die Ereignisse der vergangenen zehn Minuten im Geiste noch einmal durchging.

»Und nun zu weiteren Nachrichten über das jüngste Erdbeben in Indonesien. Weit über einhundert Familien haben bei dieser Tragödie das Dach über dem Kopf verloren. Susan Mills berichtet.«

»Danke, Susan. Nun ja, Wissenschaftler hatten bereits davor gewarnt, dass so etwas passieren würde, aber niemand hat damit gerechnet, dass es so bald nach dem Tsunami am zweiten Weihnachtstag geschehen würde. Und das wirklich Beunruhigende daran ist die Tatsache, dass etliche der zerstörten Häuser, die nach dem Tsunami gebaut wurden und diesen Naturgewalten eigentlich hätten standhalten sollen, bis auf die Grundmauern eingestürzt sind. Dadurch verdichten sich die Spekulationen, dass einige der Bauunternehmer die Bauvorschriften nicht eingehalten haben. Es kursieren Gerüchte über Korruption und Schmiergeldzahlungen, die geflossen sein sollen, um Aufträge zu sichern, doch bisher konnte nichts Konkretes nachgewiesen werden. Axiom, eine der großen Baufirmen, bestreitet jegliche Verstrickung in diese fragwürdigen Geschäfte und hat eine einstweilige Verfügung gegen zwei Zeitungen erwirkt ...«

Okay, sie hatte also ferngesehen, und wie gewöhnlich hatten die Nachrichten sie ziemlich heruntergezogen. Sie hatte sich gefragt, in was für einer Welt sie eigentlich lebte, in der in einem Monat tausende von Menschen in Flutwellen ums Leben kamen und ein paar Monate später die Überlebenden erneut ihr Zuhause verloren? Es war einfach zu schrecklich.

»Und wir haben weitere Nachrichten zum jüngsten ...«

Kraftlos schaltete sie den Fernseher ab und schleppte sich in die Küche, um sich ein Glas Wein einzuschenken. Das half zwar nicht unbedingt, musste sie sich eingestehen, war aber nichtsdestotrotz dringend vonnöten. Sie hatte nach Sri Lanka gehen wollen, nachdem der Tsunami die Küste getroffen hatte, hatte mit eigenen Händen anpacken wollen, neue Häuser bauen oder irgendetwas machen, um die Menschen bei einem Neuanfang zu unterstützen. Sie hatte zwar nicht die geringste Ahnung vom Häuserbauen und hätte vermutlich nur im Weg herumgestanden, aber sie hätte sich besser gefühlt. Wie auch immer, jetzt hatte sie einen richtigen Job, in einem richtigen Büro. Und so sehr sie die damit verbundene Sicherheit genoss, war es ihr dennoch schwergefallen einzusehen, nun allmorgendlich zur Arbeit zu pendeln, statt sich mir nichts, dir nichts nach Sri Lanka abzusetzen. Und: Es hätte sowieso nichts gebracht.

Genau in diesem Augenblick klingelte das Telefon und unterbrach Jen in ihren Gedanken. Sie guckte auf die Uhr und stellte erschrocken fest, dass sie eigentlich schon längst unterwegs sein sollte. Sie war mit ihrer Freundin Angel verabredet und sicher war sie es jetzt, die anrief und wissen wollte, wo Jen blieb.

Nicht, dass sie die geringste Lust hatte, auf die Piste zu gehen. Die Nachrichten hatten sie aufgewühlt und Dinge zutage gefördert, die sie normalerweise lieber verdrängte. Die Frage nach dem großen Sinn. Für sie. Für alles. Bis vor ungefähr einem Jahr hatte alles eigentlich ganz gradlinig und einfach ausgesehen. Sie hatte einen festen Freund und eine Berufung gehabt. Sie war eine Umweltaktivistin gewesen. Sie hatte sich für die kleinen Leute stark gemacht, für die Natur, für ... für alles und jeden, genau genommen, und genau das war das Problem gewesen. Bei der Organisation, für die sie gearbeitet hatte, wimmelte es nur so von Leuten, die genau wussten, wogegen sie waren – große Konzerne, die meisten Regierungen, die Verbraucher –, aber dabei schienen sie keinen Schimmer zu haben, wofür sie waren. Irgendwann hatte sie der Gedanke beschlichen, dass sie es wohl eher tat, um etwas zu beweisen, als um wirklich etwas zu erreichen. Geschmissen hatte sie das Ganze, weil sie den Verdacht hatte, dass ihr Freund Gavin sie betrog, doch das war nicht der wahre Grund gewesen. Die Wahrheit war, dass sie überhaupt nicht mehr wusste, warum sie das alles überhaupt tat.

Obwohl die Aussicht, eine ganze Woche lang mit Gavin in einem Baum festzusitzen, um gegen einen geplanten Straßenausbau zu protestieren, natürlich auch ein guter Grund war, sich aus dem Staub zu machen. Vielleicht wurde sie ganz einfach langsam erwachsen, sagte sie sich traurig.

»Hi!«, antwortete sie gedankenverloren. »Hör zu, ich weiß, ich bin ein bisschen spät dran ...«

»Das sind wir doch alle, Liebes. Das sind wir alle.«

Jen schreckte hoch. Das war nicht Angel.

»Entschuldige, Mum. Ich dachte, du seiest jemand anderes.« »Manchmal wünschte ich, das wäre ich«, seufzte Harriet. »Alles okay?«, fragte Jen, zog sich einen Stuhl heran und warf erneut einen Blick auf die Uhr.

Die Gespräche mit ihrer Mutter waren nicht gerade für ihre Kürze bekannt.

»Ach, es wird schon. Ich nehme an, du hast die Nachrichten gesehen? All die Häuser, die zerstört worden sind. Die vielen Menschen, die alles verloren haben. Das ist einfach entsetzlich.«

»Ja, ich weiß. Ich habe den Fernseher gerade ausgeschaltet.« Jen und ihre Mutter hatten nicht allzu viel gemeinsam, aber über Naturkatastrophen oder über den Verdacht, Politiker säßen womöglich untätig herum, konnten sie stundenlang reden. Genauer gesagt, Harriet konnte stundenlang darüber reden. Jen kam normalerweise kaum zu Wort und konnte meist nicht mehr einwerfen als: »Ich weiß. Du hast vollkommen recht.«

»Ach, Liebes, es ist einfach furchtbar. Wenn ich nur an das viele Geld denke, das da verschwendet wird. Die vielen Spendengelder von großzügigen Menschen, und alles umsonst.«

»Nein, nicht umsonst«, unterbrach Jen sie. »Die Häuser sind vielleicht eingestürzt, aber ein großer Teil der Hilfe ist auch angekommen ...«

»Ja, na ja, das werden wir ja noch sehen.«

Jen verdrehte die Augen und dachte: »Geht das schon wieder los.« Harriet liebte es, Andeutungen zu machen und ihrem Gegenüber vielsagende Blicke zuzuwerfen. Ganz so, als sei sie allmächtig, als wisse sie mehr als das, was sie im Radio gehört oder in der Zeitung gelesen hatte. Einmal, als Jen für Greenpeace an einem Projekt gearbeitet hatte, um eine Ölfirma an den Pranger zu stellen, die in der Nordsee nach Öl bohrte, Rohöl verklappte und damit eine Unzahl von Meerestieren tötete, hatte ihre Mutter sie angerufen und ihr einen Vortrag über Umweltplanung gehalten, gestützt auf einen Höreranruf auf Radio 5. Zweifellos hatte auch sie eine ganz eigene Theorie zum Thema Tsunami-Hilfe. Unzählige Gerüchte kursierten um Probleme mit dem Zoll und Korruption – genau die Art von Verschwörungstheorie, auf die Harriet sich mit Begeisterung stürzte.

»Und weshalb«, fragte Jen nun nach einer kurzen Pause, »deine Andeutungen, das Geld sei nicht in die Wiederaufbauhilfe geflossen?«

»Vielleicht ist es ja in die Aufbauhilfe geflossen. Aber was man unter dieser Aufbauhilfe versteht, das macht mir Sorgen. Wer seine Pfoten in den Topf gesteckt hat, ehe es seinem Verwendungszweck zugeführt werden konnte. Das macht mir persönlich Sorgen.«

Jen biss sich auf die Lippen, bemüht, ihren Ärger hinunterzuschlucken. Harriet tat immer so, als sei sie die Einzige, die den Ernst der jeweiligen Lage erkannte. Es machte Jen fuchsteufelswild, wie ihre Mutter jede Krise in ihr persönliches Melodram verwandelte, in dem diese natürlich die Hauptrolle spielte. Aber sie würde sich nichts anmerken lassen, schwor sie sich. Jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, dieses Fass aufzumachen und eine Breitseite von Kritik auf Harriet abzufeuern.

»Kann ich gut verstehen, Mum, aber ich muss jetzt los«, sagte sie höflich, aber bestimmt, und mittlerweile auch schon etwas ungeduldig. »Wir können nur hoffen, dass wenigstens ein Teil des Geldes bei den Leuten ankommt, für die es bestimmt war, oder?«

»Hoffen?«, gab Harriet sofort schnippisch zurück und senkte dann die Stimme. »Da braucht es schon etwas mehr als Hoffnung«, orakelte sie düster. »Die Lage ist sehr ernst, Jennifer. Wirklich sehr ernst.«

Jen seufzte. Wie’s aussah, würde sie zu spät zu ihrer Verabredung mit Angel kommen ... mal wieder. »Gibt es irgendwelche Fakten, auf die du dich da stützt«, hakte sie vorsichtig nach, »oder reden wir hier nur von vagen Vermutungen?«

Sie hörte, wie ihre Mutter leise und zufrieden aufseufzte.

»Na ja«, erklärte Harriet verschwörerisch, und ihre Stimme verriet, wie sehr es sie freute, endlich ihre Theorie loswerden zu können, die Jen ihr, wie sie offensichtlich sehnlich gehofft hatte, nun »entlockte«. »Ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen sollte, aber ich habe sehr seriöse Informationen, dass ein Teil der Bauarbeiten da unten von einer Firma durchgeführt wird, die durch Bestechungsgelder an ihre Aufträge gekommen ist. Und in dem Moment, als die Behörden anfingen, die Geschichte zu untersuchen, begannen Unterlagen zu verschwinden, und alles ist im Sande verlaufen. Die ganze Sache riecht gewaltig nach Korruption. Und es würde mich nicht wundern, wenn sich rausstellen würde, dass einige der Firmen, die da mitgemauschelt haben – und noch immer mitmauscheln –, ganz in unserer Nähe zu finden sind.«

Jen spürte beim Gedanken an die Möglichkeit solcher Ungerechtigkeit die Wut in sich aufsteigen und der Ärger über ihre Mutter verrauchte. »Ist das dein Ernst? Das ... also, das ist ja ungeheuerlich.«

»Ungeheuerlich ist gar kein Ausdruck«, fuhr Harriet fort. »Es ist die reinste Posse. So was sollte heutzutage nicht mehr passieren ...«

»Aber da muss doch irgendjemand etwas unternehmen.« Kaum war ihr dieser Satz über die Lippen gestolpert, bereute Jen ihn schon wieder. Schließlich redete sie hier mit ihrer Mutter, rief sie sich schnell wieder ins Gedächtnis. Möglicherweise entsprach nichts davon der Wahrheit. Aber andererseits hatte Harriet immer gute und verlässliche Quellen. Es war eher selten, dass sie vollkommen danebenlag. Normalerweise übertrieb sie bloß hier und da ein bisschen, um das Ganze etwas aufzupeppen.

»Natürlich müsste man das, Liebes, aber da liegt der Hase im Pfeffer, nicht wahr. Dazu hat niemand den Mumm. Niemand, der Zugang zu wichtigen Informationen hat, möchte da hineingezogen werden.«

»Und woher weißt du das alles?«, fragte Jen unvermittelt, da eine leise Stimme sie daran erinnerte, dass ihre Mutter sich manchmal in Dinge hineinsteigerte und mit einer kleinen Kopfbewegung aus einer Annahme eine Tatsache machte.

»Liebes, du musst mir einfach vertrauen«, erklärte ihre Mutter finster. »Ich weiß Dinge, die ich dir einfach nicht erzählen kann. Das wäre nicht fair.«

»Es wäre nicht fair? Wem gegenüber?«

»Dir.«

Jen verzog entnervt das Gesicht. Warum konnte ihre Mutter nicht einfach geradeheraus sagen, was sie zu sagen hatte?

»Wie meinst du das? Wieso wäre das nicht fair mir gegenüber?« Sie bemühte sich, ihre Verärgerung nicht durchklingen zu lassen, aber das war nicht so einfach. Das hatte man davon, wenn man zu viel Zeit mit seinen Eltern verbrachte. Bis vor sechs Monaten hatte sie sich blendend mit ihrer Mutter verstanden. Sie hatten ungefähr alle vierzehn Tage miteinander telefoniert und hatten sich etwa alle zwei Monate gesehen, wenn Jen mal auf einen Tee reingeschaut hatte. Sie und Harriet hatten immer jede Menge Gesprächsthemen, und wenn sie gerade anfingen, sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen, wenn ihre Diskussionen zu Streitgesprächen wurden, war es für Jen auch schon wieder Zeit zu gehen, Zeit nach Schottland oder nach Dorset zu fahren und gegen einen Supermarktneubau zu protestieren oder für den Schutz der Delfine zu kämpfen. Jen hatte für »Fighting for Survival« gearbeitet, eine Gruppe, die dafür bekannt war, sich für hoffnungslose Fälle einzusetzen, und Harriet hatte immer gerne zugehört, wenn Jen ihr Geschichten erzählte – und, um ehrlich zu sein, hatte sie sich auch gerne bei ihren Kollegen mit dem Märchen von der tapferen, wild entschlossenen Tochter wichtiggemacht, und natürlich hatte sie auch hier gelegentlich ein wenig übertrieben und dort etwas ausgeschmückt.

Und dann war alles anders geworden. Jen hatte sich von ihrem Freund Gavin getrennt, und da er den Ausschlag für ihr Engagement bei »Fighting for Survival« gegeben hatte und zudem der Chef der Gruppe war, hatte Jen sich gezwungen gesehen, alles noch einmal zu überdenken. Und da hatte Harriet sich dann gleich eingemischt und ihr angeboten, für eine Weile in ihrer Unternehmensberatung namens Green Futures zu arbeiten.

Zunächst hatte Jen dieses Angebot natürlich abgelehnt – für eine Unternehmensberatung zu arbeiten stand nicht gerade ganz oben auf der Liste ihrer Traumberufe, genauso wenig, wie ihre Mutter als Chefin zu haben. Aber Harriet war ein hartnäckiger Mensch und Jens Zweifeln war sie mit ihrer altbekannten Überzeugungstaktik entgegengetreten: Sie hatte sie mit Fakten bombardiert, ihr ein schlechtes Gewissen eingeredet und eine Situation geschaffen, in der Jen, würde sie die Stelle abschlagen, nicht nur ihre Mutter im Stich ließe, sondern gleich den ganzen Planeten Erde. Sie verwies darauf, dass Green Futures den Firmen sozial- und umweltverträgliche Lösungen aufzeigte und behauptete, ohne Jen, die ihnen hilfreich zur Seite stand, würden diese Firmen wieder in ihre schlechten Gewohnheiten zurückfallen. Tief im Inneren wusste Jen ganz genau, dass es nicht den geringsten Unterschied machte, ob sie nun bei Green Futures arbeitete oder nicht, schließlich war man dort in den letzten fünfzehn Jahren auch ganz gut ohne sie ausgekommen. Dazu befürchtete sie insgeheim, die großen Hoffnungen ihrer Mutter könnten zerplatzen wie Seifenblasen, nämlich dann, wenn sie herausfand, wie viel die kleine Jen tatsächlich über das Geschäftsgebaren großer Firmen wusste. Gavin hatte sie bei einer Kundgebung kennengelernt, zu der sie mit Angel gegangen war, um gegen eine Ölfirma zu protestieren, die zufälligerweise zu den Kunden ihres Vaters gehörte. Schon allein deswegen schien ihr die Teilnahme an dieser Veranstaltung damals eine unheimlich geniale Idee zu sein, umso mehr, nachdem sich Gavin als ziemlich guter Küsser entpuppt hatte. Und auch wenn sie viel gelernt hatte (ihre Hauptaufgabe war die »Recherche« gewesen, weil kein anderer aus der Gruppe Lust gehabt hatte, in die Bibliothek zu gehen), hätte das, was sie durch diese Organisation über Protestaktionen oder Geschäftsethik gelernt hatte, auf eine Streichholzschachtel gepasst.

Aber fürs Erste würde es schon gehen, hatte sie sich gesagt. Andere Jobangebote lagen nicht auf dem Tisch, und Geld war auch keins mehr auf der Bank. Sie kampierte nun zwar nicht mehr auf Bäumen, aber Green Futures verfolgte doch zumindest hehre Ziele.

Als sie dann dort anfing, fand sie es eigentlich ganz angenehm, sich gemütlich einzurichten und eine eigene Wohnung mit fließend Warmwasser zu haben. Es war so eine Art »Agitation light« – sie hatte das wohlige Gefühl, der Welt etwas Gutes zu tun, ohne dafür die ganze Woche lang tagein, tagaus dieselbe Armeehose tragen zu müssen. Sie benutzte wieder Lippenstift und kaufte Schuhe, die nicht unbedingt geeignet waren, durch matschige Felder zu marschieren. Und der Alltagstrott, der sich einstellte, wenn man jeden Tag ins Büro ging und die immer gleichen Leute traf, war eigentlich auch ganz beruhigend. Ein Abhang, der geradewegs in die Zufriedenheit führte, steil und rutschig zwar, aber es war dennoch ein ziemlich angenehmes Gefühl, ihn hinabzuschlittern. Und auch wenn sie sich nach ein bisschen mehr Aufregung sehnte, war sie sich irgendwie nicht mehr so sicher, dass sie ihre Massagedusche oder ihr Kabelfernsehen so einfach wieder hergeben könnte, nachdem sie sich erst mal an sie gewöhnt hatte. Ein kleines bisschen Zufriedenheit war manchmal doch ganz nett.

»Und warum wäre das nicht fair?«, wollte sie gereizt wissen. »Warum sollte es mich überhaupt interessieren?«

Harriet seufzte theatralisch. »Liebes, für mich ist es einfacher. Ich kenne deinen Vater seit vielen Jahren. Ich weiß, was für ein Mensch er ist, aber ich will deinen Vater nicht vor dir schlechtmachen. Ich weiß, wie schwer es war, als er dich verlassen hat.«

»Dad?«, fragte Jen ungläubig. »Jetzt bist du echt durchgeknallt. Ach, und übrigens, er hat uns verlassen, nicht mich. Und er ist mir scheißegal. Das weißt du.« Sie hielt inne und runzelte die Stirn, als ihre Mutter darauf nur mit Schweigen antwortete. Schweigen. Und das konnte nur eins bedeuten: Harriet meinte es ernst. Jen warf einen Blick auf die Uhr und fragte dann vorsichtig: »Du meinst also, er hat was mit der Sache zu tun? Das verstehe ich nicht. Seine Firma ist doch eine Unternehmensberatung.« Sie lachte halbherzig, als sie das sagte, um ihr Unbehagen zu überspielen. Sie hasste es, über ihren Vater zu sprechen. Normalerweise redete sie sich einfach ein, sie hätte überhaupt keinen Vater. Über ihn zu sprechen untermauerte und bekräftigte nur die Tatsache, dass er gesund und munter und sie ihm dabei völlig egal war. Aber die Unterstellung, er habe seine Finger bei einer derartigen Schweinerei im Spiel, war ein ganz anderes Paar Schuhe. Er verkörperte alles, was sie verabscheute – große Konzerne, fette Unternehmensgewinne und geschniegelte Typen in schicken Anzügen mit dicken Brieftaschen. Außerdem hatte er bisher nicht das geringste Interesse an seiner einzigen Tochter gezeigt. Sie verabscheute ihn und er war ihr vollkommen schnuppe. Aber er war immer noch ihr Vater.

»Jennifer, wie du sehr wohl weißt, beraten Unternehmensberater ihre Kunden in allen möglichen Dingen, angefangen bei Geschäftsstrategien bis hin zu ... nun ja, den Entwicklungen am internationalen Markt, wenn du verstehst, was ich meine.«

Jen runzelte die Stirn. »Nein, ich verstehe nicht, was du meinst. Aber ich vermute, du wirst es mir erklären.«

Harriet machte zunächst eine Kunstpause, begann aber schließlich doch zu reden.

»Von mir hast du das nicht erfahren, aber soweit ich weiß, hatten diejenigen, die hinter dieser Korruptionsgeschichte stecken, hinter diesem entsetzlichen System aus Schmiergeldern und fragwürdigen Geschäften in Indonesien, also, diejenigen müssen eine angesehene Firma als Tarnung benutzt haben. Eine internationale Firma, die Büros in der betreffenden Region hat. Eine Firma mit vielen Kunden, bei der es nicht auffällt, wenn sie sich an einem Tag mit Regierungsvertretern und am nächsten mit einer Baufirma trifft. Und dabei ist der Name deines Vaters gefallen ...«

»Das glaube ich dir nicht«, unterbrach Jen sie entrüstet. »So was würde er nie ... auf gar keinen Fall ...«

»Liebes, so gut kennst du deinen Vater nicht«, fiel Harriet ihr ins Wort, und Jen biss sich auf die Lippen. Das stimmte – sie konnte sich kaum an ihn erinnern. Selbst als er noch da gewesen war, hatte er sich mehr um seine Arbeit gekümmert als um sie, und nachdem er ihre Mutter verlassen hatte, hatte er nicht einmal versucht, mit ihr in Kontakt zu bleiben.

»Dein Vater würde alles tun, um Geld in die Kassen seiner heiß geliebten Firma zu spülen.« Harriet nutzte Jens Schweigen schamlos aus und fuhr fort: »Und glaub mir, ich bin nicht die Einzige, die glaubt, dass er seine Finger im Spiel hat.«

»Und warum erzählst du mir das dann?«, fragte Jen aufgebracht. »Damit solltest du lieber zur Polizei gehen!« Gespannt wartete sie auf die Reaktion ihrer Mutter. Die Polizei oder Umweltbehörde zu erwähnen war normalerweise eine gute Möglichkeit, um herauszufinden, ob Harriet über Tatsachen oder Hirngespinste redete.

»Ach, dafür ist es noch viel zu früh. Die würden keinerlei Beweise finden. Dass Axiom zu den Kunden deines Vaters gehört, mag dich oder mich stutzig machen, aber leider kennen ihn die anderen nicht so gut wie wir. Keiner hat bisher auch nur das kleinste Fitzelchen eines Beweises dafür gefunden, dass Axiom Bestechungsgelder gezahlt hat, aber andererseits suchen sie vermutlich am falschen Ort danach. Noch hat niemand daran gedacht, ihre Unternehmensberater zu befragen, weißt du ...«

»Axiom? Was bitte ist denn Axiom?«

Harriet schnaubte missbilligend. »Liebes, du bist wirklich nicht auf dem Laufenden. Axiom ist die Baufirma, die am laufenden Band sämtliche Ausschreibungen für sämtliche Bauvorhaben gewinnt. Wenn man das überhaupt Bauen nennen kann.«

Ungläubig schüttelte Jen den Kopf. Das war einfach zu viel auf einmal. War es wirklich möglich, dass ihr eigener Vater hinter derartigen Machenschaften steckte? »Mum, hör zu, das ist ja alles sehr interessant«, begann sie vorsichtig, »aber meinst du nicht, du solltest lieber mit jemandem darüber reden, der etwas dagegen unternehmen kann? Oder, na ja, an Beweise rankommt? Der irgendetwas findet, das ihn belastet. Du brauchst jemanden, der verdeckt ermittelt – ich würde ja Gavin vorschlagen, aber momentan ist es nicht gerade so, als würden wir jeden Tag plaudern ...«

Harriet seufzte, aber dieses Seufzen wirkte auf einmal ziemlich aufgesetzt, und Jens feine Antennen vibrierten plötzlich in höchster Alarmbereitschaft. »Ach, Jen, einer wie Gavin würde deinen Vater nie an der Nase herumführen können – dafür ist er viel zu clever. Nein, um an Beweise zu kommen, bräuchten wir jemanden, der bei Bell Consulting arbeitet, aber die würden natürlich ganz bestimmt nicht mit uns reden. Die Firma deines Vaters und meine ... na ja, könntest du dir vorstellen, dass einer von Bell Consulting mir irgendwas Vertrauliches erzählt?«

Schweigend schüttelte Jen den Kopf. Bell Consulting und Green Futures waren eindeutig die Kinder ihrer Gründer und die Mitarbeiter hegten entsprechend einander gegenüber die gleichen Feindseligkeiten wie Jens Eltern.

Dennoch war sie ganz und gar nicht glücklich über die großzügige Art und Weise, in der ihre Mutter das Wörtchen »wir« einsetzte, als sei es nun »ihr« gemeinsames Problem. Sollte tatsächlich ihrem Vater in die Sache verwickelt sein, dann wollte sie damit nichts zu tun haben.

Zumindest wollte sie nichts mit ihm zu tun haben. Sie runzelte die Stirn. Sollte er tatsächlich in der Sache mit drinhängen, dann durfte er damit nicht davonkommen. Denn ganz offen gesagt war er schon mit viel zu Vielem einfach so davongekommen.

Jen verdrehte die Augen, als ihre Mutter weiterredete. Jeder andere hätte sich gefragt, warum Harriet so tat, als sei sie der einzige Mensch, der die Wahrheit herausfinden konnte, aber sie kannte ihre Mutter nur zu gut. Wenn etwas Verwerfliches im Gange war, musste Harriet der Sache auf den Grund gehen – und sie traute weder der Polizei noch den Behörden und auch sonst niemandem zu, diese Aufgabe besser bewältigen zu können als sie selbst. Tatsächlich war Jen ganz genauso – beide stürzten sie sich nur zu gerne Hals über Kopf in Krisen, wild entschlossen, die Probleme zu lösen und die Dinge wieder geradezurücken. Und der Verdacht, ihr Vater könne möglicherweise beteiligt sein, war in etwa so, als würde man einem Stier mit einem roten Tuch vor der Nase herumwedeln. Es war ganz klar, dass sich Harriet wie wild darauf stürzte.

»Am besten schleust du da jemanden ein, wie dieser Typ, der sich einen Job in einem Fast-Food-Restaurant besorgt hat und dann einen Artikel über die mangelnden Hygienevorkehrungen geschrieben hat«, meinte Jen vorsichtig. Wenn Harriet sich einmischen wollte, war das ihre Sache, aber je länger dieses Gespräch dauerte, desto mehr hatte Jen das ungute Gefühl, man könnte sie gleich um einen unheimlich großen Gefallen bitten. Nicht, dass sie nicht helfen wollte, dachte sie bei sich und biss sich unbehaglich auf die Lippen. Es war bloß so, dass sie es mittlerweile einfach ziemlich satthatte, andauernd die Welt zu retten. Und außerdem war es ihr immer sehr suspekt, wenn sie in die Pläne ihrer Mutter hineingezogen zu werden drohte.

Wieder Schweigen.

»Ach, da kommt mir gerade eine Idee ... aber nein, nein, damit wärst du niemals einverstanden. Und es wäre auch zu viel verlangt.«

Jen starrte hinauf zur Decke und zählte bis drei.

»Womit wäre ich nicht einverstanden?«, fragte sie mit geradezu engelhafter Geduld.

»Na ja«, erwiderte Harriet gedehnt, »mir ist nur gerade aufgegangen, dass du recht hast – die einzige Chance, etwas über Bell Consulting in Erfahrung zu bringen, ist, einen von unseren eigenen Leuten einzuschleusen. Jemand, der ein bisschen rumschnüffeln und Gespräche belauschen kann.«

Jen runzelte die Stirn. »Haargenau. Und wie lautet deine tolle Idee? Es muss doch da irgendwelche freien Stellen geben, auf die man sich bewerben könnte. In der Poststelle oder so?«

»Zu weit weg«, murmelte Harriet. »Nein, wir brauchen jemanden mehr im Zentrum des Geschehens. Wusstest du übrigens, dass Bell ein eigenes MBA-Aufbaustudium anbietet?«

Jen schnappte nach Luft. Sie hatte plötzlich den schrecklichen Verdacht, ihre Mutter könnte sie nur deswegen angerufen haben. Das war nicht bloß ein Gefallen – das war wesentlich mehr.

»Ähm, nein, nein, das habe ich nicht gewusst. Aber du hast doch nicht etwa vor, jemanden da hinzuschicken, oder?«, fragte sie argwöhnisch. »Das wäre doch wirklich ziemlich viel verlangt von einem deiner Mitarbeiter, meinst du nicht?«

»Du hast recht. Aber nicht, weil es zu viel verlangt wäre, sondern weil keiner von ihnen das hinkriegen würde. Du schon, klar, aber warum sollte dich das interessieren ... Das wäre ja auch ein ziemlich harter Brocken ...«

»Ich?« Jen riss die Augen auf. Auch wenn ihre Mutter sie gar nicht sehen konnte, hatte sie das Gefühl, besonders überrascht tun zu müssen und dabei auch dementsprechend auszusehen.

»Ich kann sonst niemandem vertrauen. Aber vergiss einfach, dass ich das gesagt habe. Ehrlich. Dann müssen wir uns eben etwas anderes ausdenken. Und außerdem bin ich mir sicher, dass die ... Behörden der Sache auf den Grund gehen werden.«

So, wie Harriet das Wort Behörden aussprach, war klar, dass diese ganz sicher nichts dergleichen tun würden. Jen lehnte sich zurück und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie sich gerade jetzt nichts mehr als ein ganz ruhiges, beschauliches Leben wünschte. Dass sie eigentlich herausfinden wollte, was sie aus ihrem Leben machen wollte, statt sich ohne groß nachzudenken auf ein verrücktes Vorhaben ihrer Mutter einzulassen. Dass sie das heftige, aufgeregte Kribbeln im Magen besser ignorieren sollte. Die ganze Idee war einfach wahnwitzig. Ein Aufbaustudium bei Bell Consulting? Ihren Vater ausspionieren, den sie seit über fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte? Der Mann, der zu den erfolgreichsten Geschäftsleuten weit und breit gehörte und sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, sich ein einziges Mal bei ihr zu melden, seit er aus ihrem gemeinsamen Zuhause ausgezogen war? Nein. Auf gar keinen Fall. Obwohl es eine ziemlich gute Möglichkeit wäre, es ihm heimzuzahlen.

»Meinst du nicht, gleich Betriebswirtin zu werden wäre ein bisschen übertrieben?«, fragte sie betont ruhig. Ich meine, so was dauert ein ganzes Jahr. Und man hat Prüfungen und so ein Zeug. Ich glaube, die Idee mit der Poststelle ist viel besser. Dagegen hätte ich nichts.« Jen hatte neulich einen mit versteckter Kamera gefilmten Bericht gesehen, in dem die Mitarbeiter der Poststelle auf Rollschuhen herumgesaust waren, und der Teenie in ihr fand diese Vorstellung ziemlich verlockend.

»Meinst du nicht, das würde reichlich seltsam wirken? Eine junge Frau mit deinem Talent arbeitet in der Poststelle? Und du glaubst doch nicht im Ernst, ein einfaches Postmädel würde zu wichtigen Sitzungen eingeladen?«

Jen wollte schon widersprechen und ihr erklären, dass die Leute in der Poststelle vermutlich eher an Informationen gelangten als sämtliche anderen Mitarbeiter, von der EDV-Abteilung mal abgesehen, aber dazu hatte sie gar keine Gelegenheit, denn ihre Mutter kam jetzt erst richtig in Fahrt. »Glaub mir, Jen«, meinte sie gefährlich munter, »ich habe mir alles genau überlegt und das ist die einzige Möglichkeit.«

»Komisch, deine Ideen sind scheinbar immer die einzig möglichen«, murmelte Jen halblaut. »Egal, aber ich dachte, die Idee sei dir gerade erst gekommen? Sieh mal, ich würde es ohnehin nie schaffen, in diesen Kurs zu kommen«, ergänzte sie schnell. »Und selbst wenn, würde Dad mich sofort erkennen.«

»Unsinn. Du bist ein kluges Mädchen, Jen. Natürlich würden die dich nehmen. Und bei den mehr als dreitausend Menschen, die in den Bell Towers arbeiten, wäre es eher unwahrscheinlich, dass du ihm über den Weg läufst ...«

Harriets Stimme klang honigsüß, und Jen wusste nur zu gut, was sie im Schilde führte. Man gründet nicht eine eigene Firma für Umweltplanung und macht daraus ein dreihundert Mitarbeiter starkes Unternehmen, wenn man nicht in der Lage ist, Menschen dazu zu bewegen, Dinge zu tun, auf die sie sonst im Traum nicht kämen.

Lass ja nicht zu, dass sie dir mit ihrer Schmeichelei ein »Ja« abringt, ermahnte sich Jen.

»Du wärst wieder mittendrin«, fuhr Harriet fort. »Du würdest wirklich ... etwas erreichen.«

»Und wenn er gar nichts damit zu tun hat?«, fragte Jen, um Zeit zu schinden. Sie bemühte sich nach Kräften, sich entgegen ihrer üblichen Neigung mal nicht gleich Hals über Kopf in etwas zu stürzen, ohne vorher das Für und Wider abzuwägen. Und es kostete sie noch größere Mühe, sich klarzumachen, dass dieses MBA-Aufbaustudium eine denkbar ungeeignete Methode wäre, ihre gegenwärtige Lebenssinnkrise zu bewältigen.

»Dann wären wir des Rätsels Lösung, wer wirklich dahintersteckt, immerhin einen großen Schritt nähergekommen.«

Jen seufzte. Ihr war klar, dass sie geschlagen war, und sie kannte ihre Mutter lange genug, um zu wissen, dass sie nicht lockerlassen würde, bis Jen endlich zustimmte.

»Du hast das alles geplant, Mum, stimmt’s? Ich meine, die Idee spukt dir doch schon seit geraumer Zeit im Kopf rum, oder nicht?«

»Liebes, wofür hältst du mich?«, fragte Harriet mit gespielter Entrüstung. »Obwohl ich vorsorglich schon mal die Unterlagen für den Kurs angefordert habe. Die solltest du morgen im Briefkasten haben. Wer weiß, vielleicht macht es dir ja sogar Spaß.«

Jen lachte auf. »Spaß? Du bist wirklich nicht mehr zu retten. Ich habe mal eine ganze Woche lang auf einem Baum kampiert, und eins kann ich dir sagen, das ist ziemlich unbequem. Aber ich würde lieber noch mal einen ganzen Monat da oben einziehen, als in einem Raum voller dämlicher BWLer zu sitzen und ... was auch immer zu lernen.«

»Aber du machst es?«

Jen verzog das Gesicht. Sie sah sich in ihrer gemütlichen Wohnung um und dachte an ihren Schreibtisch bei Green Futures. So sehr sie die Beständigkeit ihres neuen Jobs und ihrer Wohnung auch genoss, fehlten ihr doch die Leidenschaft und vor allem die Aufregung ihres alten Jobs. Etwas musste passieren, und auf eine Chance wie diese hatte sie gewartet! Das war doch die Gelegenheit, etwas zu bewegen, und das sogar, ohne ihre Wohnung aufgeben zu müssen! Aber andererseits ging es hier nicht um irgendein aufregendes Abenteuer – es ging um ein betriebswirtschaftliches Aufbaustudium, wo sicher jede Menge langweiliger Streber mit Schlips und Kragen herumsaßen. Es wäre grässlich, nein, grässlich war gar kein Ausdruck. Und wenn Gavin davon erfuhr, würde er ihr das den Rest ihres Lebens unter die Nase reiben.

Es sei denn, sie würde einen Riesenskandal aufdecken, fiel ihr plötzlich ein. Sie könnte eine Heldin werden ...

»Aber ich trage kein Kostüm«, erklärte sie rundweg, um nochmal ein bisschen Zeit zu schinden. Gegen hübsche Schuhe und gelegentlich mal einen Bleistiftrock hatte sie gar nichts einzuwenden, aber Kostüme hasste sie wie die Pest, und das wusste Harriet ganz genau. Als sie Jen beschwatzt hatte, bei Green Futures anzufangen, war Teil ihrer Taktik gewesen zu betonen, wie locker die Kleiderordnung im Büro gehandhabt wurde, und sie gleichzeitig eindringlich davor zu warnen, so ziemlich jede andere Firma in London bestehe darauf, dass ihre Mitarbeiter in Kostüm und Anzug antanzten, sogar Umweltorganisationen wie Friends of the Earth.

Harriet lachte. »Das wird bestimmt nicht nötig sein. Aber wir müssen uns einen Namen für dich ausdenken. Ich glaube, Jennifer Bell auf das Anmeldeformular zu schreiben könnte ein paar Leute stutzig machen, oder?«

»Du redest, als hätte ich schon zugestimmt.«

»Hast du das denn nicht?«

Resigniert schüttelte Jen den Kopf. »Wie’s scheint, schon«, murmelte sie mit einem kleinen Lächeln. »Aber nur unter einer Bedingung.«

»Was immer du willst, Liebes.«

»Ich möchte, dass niemand etwas davon erfährt. Ich möchte nicht, dass du diese Sache zu einer deiner Dinnerparty-Klatschgeschichten verwurstet.«

»Ach, Jen.« Harriet klang gekränkt, doch Jen wusste, dass sie bloß enttäuscht war.

»Ich möchte nicht, dass du es irgendwem bei Green Futures erzählst, und deinen Freunden auch nicht. Niemandem. Ich meine es wirklich ernst.«

»Aber selbstverständlich, Liebes. Was denkst du von mir?« »Nicht mal Paul.«

Schweigen.

»Aber ich erzähle Paul alles ...«

»Tja, wenn du ihm das erzählst, blase ich alles ab.«

Wieder Schweigen, dann ein Seufzen. »Also gut. Ich sage kein Sterbenswörtchen.«

Jen runzelte die Stirn und fragte sich, ob ihre Mutter wohl in der Lage sein würde, dieses Versprechen auch zu halten. Dann zuckte sie die Achseln. »Hör zu, ich muss jetzt wirklich los. Okay?«

»Natürlich. Wir sehen uns dann am Montag. Und hör mal, du hast die richtige Entscheidung getroffen, ganz bestimmt.«

Dann legte Jen den Hörer auf und langsam dämmerte ihr, auf was sie sich da eigentlich eingelassen hatte. Das Telefon klingelte gleich wieder. Schnell ging sie dran.

»Was ist denn noch?«, blaffte sie ungehalten.

»Okay, okay, beiß mir nicht gleich den Kopf ab. Ich wollte bloß mal nachfragen, wann du vorhattest, hier aufzutauchen. Ich dachte nämlich, wir seien schon vor einer halben Stunde verabredet gewesen ...«

Es war Angel. Mist. Sie wollten in eine schicke neue Bar gehen, und Jen hatte noch nicht einmal angefangen, sich fertig zu machen. Sie schaute auf ihre Jeans hinunter und sprang auf.

»Entschuldige, ich bin aufgehalten worden. Du glaubst nicht, was mir gerade ... ich, ähm, bin gleich da. Gibst du mir zwanzig Minuten?«

»Zwanzig Minuten Jen-Zeit oder zwanzig Minuten normale Zeit? Deine zwanzig Minuten dauern nämlich immer doppelt so lange wie die von anderen Leuten ...«

Jen grinste reumütig. »Ich komme so schnell wie möglich, okay?«

Sie sauste ins Badezimmer und durchsuchte ihren Schrank nach etwas Tragbarem.

Ich mache ein MBA-Aufbaustudium, schoss es ihr wieder durch den Kopf, während sie diverse T-Shirts und Schuhe herauszerrte und umgehend verwarf. Ich mache allen Ernstes ein Aufbaustudium bei Bell Consulting.

Schon jetzt hatte sie das dumme Gefühl, einen schrecklichen Fehler zu machen.

Jen schaute an dem riesigen, grauen Gebäude hoch, vor dem sie stand, und versuchte sich einzureden, dass sie tatsächlich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Irgendwie war ihr das Ganze wesentlich einfacher vorgekommen, als sie ihrer Mutter zugesagt hatte, sie werde dieses Aufbaustudium machen, und sich alles noch auf einer rein theoretischen Ebene abspielte. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie Vorstandssitzungen ausspionierte, auf den langen Fluren Gespräche belauschte und die Täter und ihre abscheulichen Verbrechen der Justiz überantwortete. Im Geiste hatte sie sich bereits als Heldin ihres eigenen kleinen Films gesehen, in dem sie (quasi im Alleingang) die Welt rettete und dafür einen Dankesbrief von der Queen erhielt. Selbst Angels Einwände, nun sei sie völlig durchgeknallt, hatten sie nicht beirren können. Dadurch hatte sie sich nur noch mehr gefühlt wie eine Rebellin, und das hatte die ganze Geschichte natürlich noch reizvoller gemacht.

Und dann war dieses Anmeldeformular in ihrem Briefkasten gelandet. Da stand, sie würde Essays schreiben müssen und Tests bestehen, sich von Männern in grauen Anzügen ausfragen und davon überzeugen lassen, dass eine Karriere als Unternehmensberaterin genau das war, was sie sich immer schon erträumt hatte, ja sogar mehr als das. Doch nun war sie tatsächlich dabei, geradewegs in die Büroräume von Bell Consulting zu marschieren und sich ihre erste Vorlesung anzuhören. Irgendwie hatte sie in ihren Tagträumen die unwesentliche Kleinigkeit außer Acht gelassen, dass sie ja dort wirklich ihren MBA-Abschluss machen musste.

Aber so schwer konnte das doch nicht sein, dachte sie sich. Bloß todlangweilig. Wie damals im Physikunterricht in der Schule. Oder in den Durkheim-Vorlesungen an der Uni. Jen hatte ein Semester lang Soziologie studiert, weil sie dachte, so einen Einblick in die Beweggründe menschlichen Verhaltens zu bekommen und vielleicht sogar den Schlüssel zum Glück zu entdecken. Stattdessen hatten sie sich wochenlang damit beschäftigt, warum Menschen zu Kriegszeiten seltener Selbstmord begehen. Angeblich war es dann irgendwann interessanter geworden, denn die, die weitergemacht hatten, erzählten ihr später immer wieder, wie toll es sei. Aber so lange hatte Jen nicht warten wollen. Sie hatte auf Philosophie umgeschwenkt und es nie bereut. Nun ja, bis sie dann die Vorlesungen über Hegel über sich ergehen lassen musste, aber da war es dann schon zu spät, noch einmal zu wechseln.

Egal, ermahnte sie sich, eigentlich ging es doch nur darum, in eine Rolle zu schlüpfen. Alle anderen würden sie für eine stinknormale BWL-Studentin halten und sie brauchte einfach nur mitzuspielen. So tun, als fände sie das alles unheimlich spannend. Schon bei dem Gedanken erschauderte sie. Sie hatte den Prospekt von vorne bis hinten durchgelesen und dabei erfahren, dass sie Dinge wie »innerbetrieblicher Strukturwandel von Unternehmensprozessen« und »Endgewinnmanagement« studieren würde. Das war so grässlich, darüber durfte man gar nicht nachdenken.

Andererseits machte sie wenigstens etwas Sinnvolles. Um ehrlich zu sein, hatte sie sich ja in der letzten Zeit doch des Öfteren ihre Gedanken gemacht, was sie eigentlich mit ihrem Leben anfangen wollte. Irgendwie hatte sie nämlich der Gedanke beschlichen, dass sie an ihrem Schreibtisch bei Green Futures bloß die Zeit totschlug, und sie hatte sich sogar auch schon gefragt, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sich von Gavin zu trennen. Sie war sich einfach nicht mehr ganz sicher, ob ihr Platz im Leben in London war, ja, sie wusste nicht einmal mehr so genau, wer sie eigentlich war.

Irgendwie hatte sie sich etwas anderes darunter vorgestellt, bei Green Futures zu arbeiten. Als die Firma noch ganz neu war, da war ihre Mutter beinahe so etwas wie ein Star und in aller Munde gewesen. Ihre war die erste Unternehmensberatung, die über die soziale Verantwortung großer Firmen redete und sich so weit aus dem Fenster lehnte zu fordern, dass Unternehmen nicht einfach alles machen durften, was ihnen gerade in den Sinn kam, nur um ihre Gewinne immer mehr zu maximieren. Zu Jens Schul-und Studienzeit meinten alle, Jens Mutter sei die coolste überhaupt, und auch Jen selbst hatte das gedacht. Sie war wirklich sehr stolz auf sie gewesen und das hatte sie ein bisschen dafür entschädigt, dass ihr Vater durch und durch ein Mistkerl war, der Unternehmen das genaue Gegenteil predigte, nur auf Profit aus war und sich einen Dreck um so unbedeutende Dinge wie Menschen oder die Erderwärmung scherte.

Auch die Medien waren begeistert gewesen. Vor der Gründung ihrer eigenen Firma hatte Harriet schließlich bei Bell Consulting gearbeitet. Ihre Trennung von George Bell und die Gründung ihrer Konkurrenzfirma füllten wochenlang die Kolumnenspalten der Tageszeitungen. Damals war Harriet in schönster Regelmäßigkeit auf den Titelseiten von Newsweek, The Economist und Time zu sehen. Sie machte Schlagzeilen und fand es toll.

Aber Jen hatte einsehen müssen, dass Green Futures eine Firma wie jede andere war. Büros mit jeder Menge Schreibtischen, an denen Leute saßen, die wild auf die Tastatur einhackten und neben der (Bio-)Kaffeemaschine über ihre Kinder/Haustiere/Hobbys redeten. Früher einmal mochte es eine revolutionäre Firma gewesen sein, aber heutzutage wirkte sie ein bisschen ... müde. Und um ehrlich zu sein, hatten sie nicht mehr annähernd so viele Kunden wie damals. Auch andere Unternehmensberatungen waren auf den umweltfreundlichen Zug aufgesprungen und ihre Mutter schien nicht wahrhaben zu wollen, dass sie nicht mehr die große Berühmtheit war. In vielerlei Hinsicht war Jen regelrecht erleichtert, da herauszukommen.

Vom Regen in die Traufe, dachte Jen verdrießlich und schaute sich den Riesenkasten noch einmal genauer an. Bell Towers, einzig dazu erbaut, sämtliche Leute, die ihre Schwelle überschritten, einzuschüchtern und zu beeindrucken. Eigentlich hatte sie sich nie vorstellen können, jemals für einen Elternteil zu arbeiten, und jetzt sah es ganz danach aus, als würden am Ende beide ihre Arbeitgeber. Aber nicht lange, beruhigte sie sich. Das ist bloß Mittel zum Zweck.

Jen zwang sich zu einem Lächeln und marschierte durch die Tür, und ehe sie sich versah, stand sie am Empfang und trug sich ein.

»Bist du auch im MBA-Kurs?«

Jen schaute auf und in das ernste Gesicht des Typen neben ihr im Aufzug.

»Weil du in den siebten Stock willst«, ergänzte er hastig. »Ich glaube, in der Etage gibt es keine Büros, bloß, du weißt schon, Hörsäle.«

Kurz betrachtete sie sein Gesicht. Ein bisschen pummelig, ziemlich rosige Wangen, die Brille etwas beschlagen. Ein geradezu mustergültiger BWLer, wie er im Buche stand. Sie merkte, dass er sie ebenfalls musterte und kritisch die Augenbrauen hochzog, als sein Blick an ihren Jeans und den Ugg Boots hängen blieb. Eigentlich hatte sie ein paar seriösere Klamotten kaufen, sich das passende Kostüm für ihre Rolle zulegen wollen, aber irgendwie war sie bisher nicht dazu gekommen. Und außerdem hatte in der Broschüre gestanden, die Kleiderordnung verlange eine »sportlich-elegante« Garderobe. Und für den Anfang tat es doch wohl auch eine der beiden beschriebenen Varianten.

»Ja, bin ich«, murmelte sie abweisend, ehe ihr wieder einfiel, dass sie sich ja auch wie eine vorbildliche BWLerin verhalten sollte.

»Ich auch!«, sagte er überflüssigerweise. Er schleppte vier Lehrbücher und einen mit Notizen vollgestopften und sorgsam mit BELL MBA-KURS, ALAN HINCHCLIFFE beschrifteten Ordner mit sich herum. »Ich heiße Alan, nett, dich kennenzulernen. Und, hast du dich schon vorbereitet? Ich habe angefangen, über angewandte Strategie zu lesen, aber das meiste davon habe ich schon in meinem BWL-Studium durchgenommen, also habe ich mich mehr auf strategische Unternehmensführung konzentriert – dieses hier ...« Er zeigte auf das größte der drei Lehrbücher. Jen starrte ihn ungläubig an, dann riss sie sich zusammen. Ich bin MBA-Studentin, sagte sie sich immer wieder. Ich muss so tun, als interessierte mich dieser ganze Quatsch.

»Ich ... ähm ... weißt du, habe hier und da mal reingeschaut«, stotterte sie in der Hoffnung, Alan möge sie über keins davon ausquetschen. »Ich bin übrigens Jennifer. Jennifer Bellman.« Ihr sträubten sich die Nackenhaare, den Namen laut auszusprechen, aber sich einen neuen Nachnamen auszudenken war gar nicht so einfach, wie es sich anhörte. Sie hatte dieses Problem immer wieder aufgeschoben, bis sie das Anmeldeformular ausfüllen musste, und dann war sie eine gute halbe Stunde lang durch ihre Wohnung getigert auf der Suche nach einer Inspiration – Jennifer Fernseher, Jennifer Lampe, Jennifer Wand. Dann hatte sie im Telefonbuch geblättert und ein paar der Namen ausprobiert, aber sie hatte höllische Angst davor, sich einen auszusuchen, der ihr dann im entscheidenden Moment nicht mehr einfiel. Also hatte sie sich schließlich für Bellman entschieden, die einfallsloseste Abänderung von Bell, die man sich vorstellen konnte. Aber die würde sie sich wenigstens merken können.

Vorsichtig schob Alan seine Unterlagen auf den linken Arm und streckte ihr die nun freigewordene Rechte hin. Jen starrte sie einen Moment lang an, bis sie begriff, dass sie sie schütteln sollte. Was sie dann auch tat, und dabei lächelte sie ihn unsicher an.

»Wollen wir?«, fragte sie und spähte beklommen in Richtung Hörsaal.

»Ach, ja. Auf geht’s!«

Gemeinsam betraten sie den Saal und suchten sich zwei Plätze nebeneinander. Der Raum war voll – ungefähr fünfzig Leute waren da, alle Ende Zwanzig bis Anfang Dreißig, und alle sahen furchtbar ernsthaft aus.

Jen nahm ihren Stundenplan heraus. Eine Einführung, gefolgt von angewandter Strategie, gefolgt von einer Mittagspause, danach eine kurze Wiederholung von angewandter Strategie, dann Ende.

Sie sah sich im Hörsaal um und wartete.

»Ist hier noch frei?« Jen schaute auf und blickte geradewegs in ein großes, rundes Gesicht mit einem breiten Lächeln, umrahmt von blonden Haaren. »Du bist die einzige andere Jeansträgerin hier, und die Einzige, die auch nur annähernd nett aussieht, wenn du also nichts dagegen hast ...«

»Nein, ich schätze nicht«, murmelte Jen zweifelnd. Sie wusste nicht so recht, ob sie auf eine MBA-Studentin nett wirken wollte.

»Ich sage dir«, fuhr ihre neue Nachbarin fort, während sie sich setzte und Block, Stifte, Bücher und Ordner hervorkramte, »in diesem Kurs kriegen wir eine Menge zu lesen. Ein echter Albtraum.« Sie sah sich um und runzelte missbilligend die Stirn. »Nicht besonders viele Hingucker, oder?«

Jen zog erstaunt die Brauen hoch. »Hingucker?«

»Männer. Lieber Gott, das ist doch der einzige Grund, weshalb ich überhaupt hier bin. Ich sage dir, ich habe es schon in etlichen Bars probiert, ich habe es mit Internet-Kontaktbörsen versucht, ich habe mir sogar einen Hund gekauft, verdammt noch mal, aber alles ohne Erfolg. Es gibt gar keine alleinstehenden Männer in London, soweit ich feststellen konnte. Jedenfalls keine normalen, die vor allem nicht aussehen, als seien sie in ihrer Freizeit als Axtmörder unterwegs. Bis mir aufgefallen ist, dass immer mehr Leute ›MBA‹ in ihre Beschreibung auf den Kontaktseiten setzen. Und da habe ich mir gedacht – warum warten, bis die das Studium abgeschlossen haben? Warum nicht gleich an der Quelle angeln?«

Jen starrte sie an. »Du machst diesen MBA-Kurs bloß, um Männer kennenzulernen?«

»Klar. Und du?«

Jen grinste vor Erleichterung, eine Hochstaplerkollegin getroffen zu haben. »Ach, ich hatte bloß ein bisschen Zeit totzuschlagen. Ich heiße übrigens Jen. Jen ... Bellman.«

Sie lächelte. »Lara. Ich heiße Lara. Nett, dich kennenzulernen.«

Ein Mann spazierte in den Hörsaal und baute sich vorne vor ihnen auf. Allmählich verstummten die Gespräche und alle wandten sich stattdessen ihm zu. Er hatte ein sehr markantes Kinn, wie Jen bemerkte, und hellblonde Haare.

»Guten Morgen, Leute«, sagte er mit New Yorker Akzent. »Ich bin Jay Gregory, und ich bin der Studienleiter des MBA-Aufbaustudiums von Bell Consulting. Ich freue mich sehr, Sie alle an Bord begrüßen zu dürfen – ich weiß, dass Sie sich gegen harte Konkurrenz durchsetzen mussten, um es bis hierher zu schaffen, also sitzt ein ziemlich erlesener Haufen hier in diesem Raum.«

Ein Raunen ging durch den Saal, und alle winkten betont bescheiden ab, so toll sei man doch gar nicht, nur um gleichzeitig anzudeuten, würde man sie drängen, seien sie durchaus davon zu überzeugen, doch ein ziemlich klasse Haufen zu sein.

»Meinst du, der hat sich die Haare gefärbt?«, zischte Lara. Jen rümpfte die Nase.

»Würdest du deine Haare in so einer Farbe färben?«, zischte sie zurück.

»Hat Andy Warhol auch gemacht.«

Jen zuckte die Achseln und grinste Lara an.

»Aber was Sie bisher gemacht haben ist Kinderkram verglichen mit diesem Studium«, fuhr Jay fort, »Das kommende Jahr wird das schwerste, das sie je durchgemacht haben. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie jederzeit absolutes Engagement zeigen, sich einbringen und Einblicke gewähren. Und Sie werden in Gruppen arbeiten, damit Sie die Bedeutung von Teamwork schätzen lernen, die Notwendigkeit, als Einheit zusammenzuarbeiten statt als Einzelkämpfer. Sie haben Zeit bis Juni, meine Damen und Herren – neun sehr aufregende Monate –, und ich hoffe, Sie werden sie nutzen.«

Jen sträubten sich die Nackenhaare, als einige »Machen wir« sagten und Jay daraufhin anerkennend nickte.

»Und jetzt«, fuhr er fort, »freue ich mich, Ihnen unseren Dozenten für angewandte Strategie vorstellen zu dürfen, Professor Richard Turner. Viele von Ihnen werden schon von Richard gehört haben – er gehört zu den führenden Strategen Europas und hat mehr Bücher geschrieben, als die meisten von Ihnen je lesen werden. Ich bin mir sicher, von diesem Mann werden Sie eine Menge lernen – ich übergebe dir das Wort, Richard.«

Ein ziemlich hagerer grauhaariger Mann stand auf und Jen stellte mit Genugtuung fest, dass er wesentlich mehr nach Akademiker aussah – ausgestattet mit diesen maulwurfsähnlichen Gesichtszügen, die Leute bekamen, die ihr ganzes Leben in Bücher vergraben mit Lesen zubrachten.

Ein paar Minuten lang sah er sich nur im Raum um und alle saßen ganz still und warteten darauf, dass er anfing zu sprechen.

»Coca-Cola«, sagte er schließlich. »Stellen Sie sich vor, aus irgendeinem Grund gehen die Verkaufszahlen in den Keller. Sollte man Ihrer Meinung nach nun unter einem anderen Namen Billigcola für Supermarktketten produzieren, um den Absturz des Markennamenwertes abzufangen?«

Alle guckten sich zögernd an, dann sah Jen, wie ein Typ ganz vorne die Hand hob. Der Professor gab ihm ein Zeichen zu reden.

»Nein, denn warum sollte dann noch irgendwer die echte Cola kaufen?«, erklärte er, und viele nickten zustimmend.

»Macht Kellogg’s doch auch«, warf Richard ein. »Und die Leute kaufen trotzdem weiter Cornflakes, oder etwa nicht?«

»Finde ich auch«, rief ein Mädchen ganz in Jens Nähe schnell. »Die Verbraucher sind immer weniger markenfixiert, und immer mehr Supermärkte lancieren die Produkte ihrer Eigenmarken.«

»Aber dann ist Coca-Cola bald nicht mehr von den anderen zu unterscheiden. Und wichtiger noch, sie sind den Supermärkten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, die sich jederzeit für einen anderen, billigeren Cola-Produzenten entscheiden können, und nur anhand der Verpackung könnte man den Unterschied nicht mal bemerken. Eine Situation, über die ich als Vorstandsmitglied von Coca-Cola nicht gerade glücklich wäre.«

Schweigen machte sich breit und das Mädchen wurde puterrot.

»Willkommen im Strategiekurs«, sagte der Professor mit einem kleinen Lächeln. »Und wenn Sie in diesem Kurs eins lernen – und nur dieses eine –, dann bitte Folgendes: Sie können externe Faktoren analysieren, Sie können interne Faktoren analysieren und Sie können Voraussagen treffen, so viel Sie wollen. Aber Sie können die ganze Sache immer noch vermasseln, weil die Welt da draußen sich nicht im Geringsten um Ihre Strategien schert. Sie verändert sich. Ihre Kunden verändern sich, ihre Zulieferer verändern sich. Und wenn Sie da nicht mithalten, wenn Sie nicht in der Lage sind, blitzschnell zu reagieren, dann wird es Ihnen ergehen wie den Dinosauriern. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Alle nickten.

»Ich persönlich finde«, fuhr der Professor fort, »dass Sie recht haben.« Er sah den Typ an, der gesagt hatte, Coca-Cola solle für niemand anderen produzieren. »Aber das heißt nicht, dass ich nicht morgen schon völlig falsch liegen könnte.«

Der Typ nickte ernst und Jen konnte es sich nicht verkneifen, entnervt aufzustöhnen. Wen interessierte es denn, ob Coca-Cola für jemand anderen produzierte? Cola war ein ekelhaftes, überzuckertes Gesöff, das einem die Zähne wegfraß. Und dass sie nur wegen dieser Vorlesung jetzt plötzlich große Lust hatte, eine zu trinken, setzte dem Ganzen die Krone auf.