Leseprobe Nachhilfe in Sachen Liebe

Kapitel eins: Schneekugel ohne Schnee

Das Problem: Ihr lebt in verschiedenen Städten.

Don't: Jammern! Fernbeziehungen sind trendy und sexy.

Do: Freu dich! Bei getrenntlebenden Paaren nutzt sich die Liebe nicht so schnell ab, vermutlich befeuert die Distanz sogar die Erotik zwischen euch!

(Mehr dazu im ultimativen Beziehungsguide: So optimierst du dein Liebesleben, 17,50 Euro)

 

Freitagabend … und schon flog Philips Seiden-Hängerchen, das er in seiner Berliner Lieblingsboutique für mich erstanden hatte, in den Schrank zurück.

Püppchen?

War ich ein Püppchen?

Nein. Mit neununddreißig Jahren fühlte ich mich zu alt für diese sauteuren Flatterfetzen. Vor allem im Winter und erst recht bei der so unvorteilhaft blass machenden LED-Weihnachts-Beleuchtung, mit der offenbar sämtliche Restaurantbesitzer Bochums neuerdings ihre Innenräume ausgestattet hatten. Aber das steife, langärmlige Etuikleid, das ich mir stattdessen vor die Brust hielt, konnte mich auch nicht so recht überzeugen. Meine Stirn legte sich beim Anblick meines Spiegelbildes in Falten. In diesem Outfit käme ich ähnlich charmant rüber wie Frau Merkel bei einer Gedenkminute im Bundestag. Unzufrieden klemmte ich mir eine meiner widerspenstigen Haarsträhnen hinter das Ohr. Also, ein wenig frecher dürfte das Outfit für unser romantisches Abendessen schon sein. Als wir uns kennengelernt hatten, hatte Philip mein Aussehen immerhin einmal mit dem der jungen Juliette Binoche verglichen. Sehr schmeichelhaft, zumal er dabei diskret über meine Riesennase hinweggesehen hatte. Er muss wirklich sehr verliebt gewesen sein, denn die einzigen drei Gemeinsamkeiten, die ich zwischen ihr und mir sehen konnte, waren:

Wir stammten beide aus Frankreich

Genau wie Binoches berühmteste Filmrolle hatte ich ein Faible für Schokolade (nicht, dass das unter Frauen ein Alleinstellungsmerkmal wäre).

Wir waren beide brünett.

Doch das war dann auch schon alles. Nervös schaute ich zum wiederholten Male auf den Wecker. Eine Armbanduhr trug ich aus Prinzip nicht, wobei ich zugeben muss, dass sich mein Ansatz vor allem bei der Arbeit nicht wirklich als praktikabel erwies. Zum Glück hatten sich die anderen Kollegen mittlerweile an meinen Spleen gewöhnt. Judith, unsere Sekretärin, nannte meinen Stil sogar anerkennend „Old School“, während Moritz, der Jüngste in unserem Team, schon längst der Ära der Armbanduhren entwachsen war und automatisch sein Handy zückte, wenn er nach der Uhrzeit gefragt wurde. Insgesamt fielen meine kleinen Macken in meinem Arbeitsumfeld nicht weiter ins Gewicht.

In der Künstlervermittlung, in der ich angestellt war, gab es nämlich noch weit schrägere Typen als mich. „Applaus“ gehörte meinem Onkel Pièrre. Wir betreuten hauptsächlich Alleinunterhalter und Schlagersänger, eine Musikrichtung, die zwar privat nicht zu meinen Favoriten gehörte, die dafür aber umso mehr dem Geschmack meines Onkels entsprach. Als gewitztem Inhaber und leutseligem Chef in Personalunion ging Pièrre ein gutes Arbeitsklima über alles. Er würde niemandem unnötige Steine in den Weg legen. Dementsprechend fand er meinen Versuch, ohne das Diktat der Uhr leben zu wollen, auch „nonchalant“, wohingegen Philip die Idee als einfach nur kindisch abtat.

Schon zehn nach sieben! Die Zeit, die mir für meinen Kampf mit dem Kleiderschrank blieb, wurde langsam knapp. Es war einfach unfair: Gestandene Männer in unserem Alter hatten es in puncto Kleidung so viel leichter als wir Frauen. Eine gut geschnittene Hose, ein schickes Hemd und fertig. Herrenkonfektionsgrößen mussten nicht einmal anprobiert werden: Auswählen, Etikett lesen und ab zur Kasse. Philips Hemden saßen jedenfalls immer perfekt. Meine Freundin Emily hatte letztens, nachdem sie ihm zufällig am Bahnhof begegnet war, von ihm als einer „sexy Schnitte“ gesprochen. Mir blieb es ein Rätsel, wie er es schaffte, dass seine Kleidung nach der langen Fahrt von Berlin bis ins Ruhrgebiet niemals auch nur den kleinsten Kaffeeflecken oder die winzigste Falte aufwies. „Das ziemt sich so für einen wertebewussten Politiker“, klärte er mich auf. „Ein tadelloses Äußeres und ein angemessenes Gefühlsmanagement gehören eben zu den ungeschriebenen Spielregeln.“ Seine Einstellung trug nicht gerade dazu bei, dass ich mich bei meiner Kleidungswahl entspannte.

Unmotiviert probierte ich eine beige Hose an. Nude look, total in, top modern. Aber dazu passte nur die knallrote Bluse hinten links und die war ein echtes No-Go für Philip, wenigstens in der Öffentlichkeit. Privat hatte er gegen gewagte Kleidung nichts einzuwenden. Im Gegenteil … Aber nein, keine rote Bluse.

Mein Handy piepste. Langsam begann ich panisch zu werden. Eine Nachricht von Emily. Eigentlich meldete sie sich selten per Handy, doch leider hatte sie die Whats-App-Funktion „Medieninhalte verschicken“ neu für sich entdeckt. Seitdem schickte mir das verrückte Huhn ständig Ratschläge aus ihrer „Bibel“, irgend so einem völlig überbewerteten Beziehungsratgeber. Ich warf einen kurzen Blick aufs Display. Was sollte das? Die Gute sollte mich mal lieber mit passenden Klamottentipps versorgen, denn ich begann langsam zu verzweifeln. Es war wie verhext. Als hätte sich die gesamte Modewelt gegen mich verschworen! Warum konnte ich mich ausgerechnet heute nicht entscheiden?

Seit Philip sein Kommen angekündigt hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mir endlich ganz offiziell einen Antrag machen wollte. Schließlich waren wir schon gut zwei Jahre zusammen. Kennengelernt hatten wir uns damals auf einem Straßenfest. Ich betreute dort zwei unserer Künstler namens „Das Malle-Duo“. Die beiden gehörten zu unseren beliebtesten Stimmungskanonen und mussten entsprechend hofiert werden.

Philip hatte nach der Schließung der Opelwerke beruflich in Bochum zu tun. Auf dem Fest sprach er mich unter dem Vorwand an, unser Duo engagieren zu wollen. Ich verwies ihn souverän an Pièrre, der ihn gleich überredete, seine PR von unserem Familienunternehmen machen zu lassen. Ich belauschte fassungslos die Schacherei am Telefon, während mir mein Onkel verschwörerisch zuzwinkerte. Erst als Pièrre, Philip und ich uns in den darauffolgenden Tagen mehrmals zusammensetzten, um die Details zu besprechen, ging mir auf, wie perfide mein Onkel vorgegangen war. Es kam, wie es kommen musste, und nach der dritten Besprechung verabschiedete Philip sich mit einem langen Kuss von mir. So hatten wir uns kennengelernt. Na, wenn das keine gute Story für unsere Kinder war!

Obwohl meine Vorahnung mich schon den ganzen Tag über in einen freudigen Erregungstaumel versetzt hatte, gestattete ich es mir dennoch nicht, mir die romantischen Details des Antrags auszumalen. Dazu war ich zu misstrauisch, eindeutig ein Erbe meiner verstorbenen Mutter. Was hätte ich dafür gegeben, ihr Philip noch vorstellen zu können! Als gebürtige Südfranzösin wäre sie begeistert von seinem Charme und seiner Eleganz gewesen. Doch leider war maman bereits einige Monate, bevor Philip und ich uns auf besagtem Straßenfest kennengelernt hatten, gestorben. An Krebs. Ich hatte lange um maman getrauert, wenn ich ehrlich war, tat ich es eigentlich noch heute. Aber gleichzeitig wusste ich ganz genau, dass sie unsere Hochzeit vom Himmel aus nicht nur gutheißen, sondern sie auch überglücklich mitfeiern würde. Lächelnd zog ich mir erneut das Etuikleid à la Merkel an und stellte mir meine stolze maman mit Petrus in einer schwungvollen Walzerdrehung vor. Doch in diesem Moment beendete das Klingeln meines Festnetztelefons abrupt alle weiteren Träumereien. Mist, bitte keine Anrufe! Nicht jetzt! Ich musste mich doch noch schminken und überhaupt …

Meinem Apparat war das völlig egal. Unbeeindruckt von meiner Zeitnot klingelte er erneut. Das nervte. Wo hatte ich den dummen Hörer denn nur hingelegt? Während ich hektisch das Regal absuchte, breitete sich einen Moment lang Stille aus, bis der Anrufbeantworter schließlich mit einem lauten Klick ansprang. Eine tiefe Männerstimme räusperte sich umständlich … Philip.

Ob sein Zug Verspätung hatte? Jetzt sah ich, dass der Hörer unter dem Stuhl lag. Ich war kurz davor, ihn aufzuheben und dranzugehen, als mich Philips seltsam belegter Tonfall davon abhielt.

„Ähm, tut mir leid, Béatrice, wenn du schon zu unserem Treffen unterwegs sein solltest. Ähm, was ich …“ Komisch, mein eloquenter Geliebter mied normalerweise ein „ähm“ ebenso konsequent wie ein Veganer das Steakhaus.

„Also, was ich dir sagen wollte. So leid es mir auch tut, aber aus unserer Verabredung wird nichts.“ Wie um die abgehackte Sprechweise vom Anfang des Telefonats wettzumachen, sprach Philip jetzt so schnell, dass die Silben Purzelbäume zu schlagen drohten.

„Du hast das sicherlich schon selbst gemerkt. Das mit uns passt nicht. Bochum und Berlin, das konnte auf lange Sicht nicht gut gehen. Schon gar nicht mit meinen Verpflichtungen. Ich habe einfach keine Zeit für dich. Weder jetzt noch in Zukunft. Tut mir leid. Du musst mich übrigens auch nicht zurückrufen. Bin die nächsten drei Wochen nicht in Berlin. Nur im Umland. Wahlkampf, du weißt schon. Also, noch alles Gute für dein weiteres Leben. Vielleicht …“

Ein durchdringender Piepton erklang, Philips Sprechzeit war abgelaufen.

Merkwürdig distanziert, wie in einem Film, hatte ich sein Gestotter über mich ergehen lassen. Es fühlte sich so an, als würde mich das Ganze gar nicht selbst betreffen. Ich war lediglich eine unbeteiligte Zuschauerin einer fremden Liebestragödie, wohnte in einer weihnachtlichen Schneekugel, die jemand zu wild geschüttelt hatte. Mit einem Mal kam ich mir seltsam leer und verbraucht vor. Eine Schneekugel ohne Flocken. Die Welt um mich herum erschien mir unwirklich, irgendwie gedämpft. Als befände ich mich hoch oben über den Wolken oder tief unten auf dem Meeresgrund. In Slow Motion näherte ich mich dem Telefonhörer, hob ihn auf und rief Philip zurück. „Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar. Versuchen Sie es später noch einmal.“ Erschöpft setzte ich mich kurz auf den Rand des frisch bezogenen Bettes. Danach stand ich wieder auf und begann, mich kraftlos aus dem Etuikleid zu pellen. Anschließend schlüpfte ich in meine bequeme geblümte Pyjamahose. Die Kleidungsfrage jedenfalls hatte sich geklärt.