Leseprobe Wogen der Versuchung

Kapitel eins

1816, die afrikanische Goldküste, an Bord der Golden Scythe

Martín trommelte mit den Fingern auf dem polierten Holz der Reling und betrachtete das holländische Schiff. Es befand sich in Luv und war viel zu weit weg, als dass man den Gestank hätte riechen können. Doch Martín konnte ihn sich vorstellen. Die mitleiderregenden Schreie der Sklaven waren eine andere Sache. Die konnte er selbst aus der Entfernung hören.

Seit die Briten und die Amerikaner die Einfuhr von Sklaven 1808 verboten hatten, war der Handel mit den bedauernswerten Menschen lukrativer geworden denn je. Der amerikanische Süden bezahlte gut für geschmuggelte Sklaven, denn ohne ihre Arbeit funktionierte das Leben dort schlecht. Das wusste Martín nur allzu gut.

Er wandte sich an seinen Ersten Maat. „Wie viele sind in der Mannschaft, Beauville?“, fragte er auf Englisch, anstatt seine Muttersprache Französisch zu benutzen. Er hatte begonnen englisch zu sprechen, nachdem die Briten ihm seinen Kaperbrief ausgestellt hatten – jenes Dokument, das sein rentables Leben als Freibeuter möglich machte.

Beauville ließ sein Fernrohr sinken. „Nicht mehr als vierzig, Kapitän. Die meisten davon scheinen entweder betrunken oder unfähig zu sein.“

Martín lachte über die nüchterne Einschätzung des Mannes und schritt zu seinem Zweiten Maat hinüber, der am Steuer stand. „Macht die Männer bereit, Daniels. Dann unterbreitet ihnen unser Angebot.“

Obwohl das holländische Schiff einen Schaden am Mast hatte, schien es sehr gepflegt zu sein und weitaus sauberer als die meisten Sklavenschiffe. Martíns eigenes Schiff, die Golden Scythe, war ebenfalls ein Sklavenschiff gewesen, bevor er sie gekapert hatte, doch nun war sie sehr aufgeräumt und sauber. Er betrachtete das makellose Deck mit Stolz. Mit vierzehn Kanonen und einer Mannschaft von siebzig Männern war die Scythe dem holländischen Schiff weit überlegen und eine Kraft, mit der man rechnen musste.

Trotzdem war es nie klug, zu eingebildet zu sein. Wenn die Blue Bird voll beladen war – mit fünfhundert Seelen – ging es um sehr viel Geld. Es würde hässlich werden, wenn der Kapitän entschlossen war, um seine Fracht zu kämpfen. Martín war ziemlich sicher, dass er einen solchen Kampf gewinnen konnte, wusste aber, dass das nicht ohne Verluste vonstattengehen würde.

Geschäftigkeit brach auf dem anderen Schiff aus, während er es beobachtete; die Männer wuselten wie aufgescheuchte Hühner herum. Ein Dutzend Seeleute standen um den Hauptmast herum und gestikulierten wild; einige trugen Macheten. Martín schüttelte den Kopf; irgendwas Merkwürdiges ging da vor.

Daniels erschien neben ihm. „Alles ist vorbereitet, Kapitän. Wir warten auf Euer Kommando.“

Martín wandte sich an Jenkins, sein Mädchen für alles, der ihm zwei Pistolen hinhielt. Er überprüfte die Waffen sorgfältig, bevor er sie beide in die rechte Seite eines Holsters schob, an dessen linker Seite sein Degen hing. Das Holster hatte er selbst entworfen. Es erlaubte ihm, jede der drei Waffen schnell zu ziehen.

Er warf einen Blick in den großen Spiegel, den Jenkins vor ihn hielt, und schnipste eine imaginäre Staubflocke von seinem makellosen Mantel. Er nahm sich Zeit, korrigierte seine Krawatte und achtete darauf, sich geschmeidig zu bewegen und dabei einen gelangweilten Gesichtsausdruck zu bewahren. Seine Männer sahen zu. Ihre wettergegerbten Gesichter waren belustigt, doch auch stolz. Martín wusste, dass sie Kraft aus seinem Ruf als kalter, harter Mörder zogen, der eher um den Sitz seiner Krawatte besorgt war als um sein Leben.

In Wahrheit war Martíns Magen ebenso zusammengekrampft – wenn nicht mehr – wie der eines jeden anderen Mannes auf dem Schiff. Wenn heute jemand starb, wäre es seine Schuld. Das kümmerte sein Gewissen – ein verhärtetes, verschrumpeltes Ding – vielleicht nicht, doch sein Stolz war groß und gesund und er konnte es nicht ertragen, dass man ihn mit falschen Entscheidungen in Verbindung brachte.

Martín machte eine Geste mit seiner Hand und Jenkins brachte den Spiegel fort. Daniels’ Mund war missbilligend verzogen. Martín wusste, dass der jüngere Mann sein Verhalten noch immer schockierend fand, obwohl er bereits seit über einem Jahr sein Zweiter Maat war.

Martín fand seine Verärgerung amüsant. „Macht ihnen das Angebot, Mr. Daniels.“

„Aye, Käpt’n!“ Daniels wandte sich ab und gab dem Oberfähnrich ein Handsignal. Eine Sekunde später krachte ein lautes Donnern aus einer der Kanonen der Scythe. Der Rauch hatte sich kaum gelegt, als eine schwarze Flagge am Fahnenmast des holländischen Schiffs hochgezogen wurde.

Martín atmete aus; sie würden verhandeln.

„Ausgezeichneter Schuss, Gentlemen, und sehr überzeugend. Beauville, bitte eskortiert ihren Kapitän in die Offiziersmesse, wenn er ankommt.“ Martín löste seinen Waffengurt und reichte ihn Jenkins. „Lasst die hier noch geladen“, sagte er, bevor er unter Deck ging.

Sobald er in seiner Kabine war, legte er seinen Hut auf den Tisch und sank in einen Sessel, wobei er darauf achtete, seinen Mantel nicht zu verknittern. Seine übertriebene Sorgfalt in Bezug auf sein Äußeres war nur zum Teil gespielt. Er liebte feine Kleidung. Als junger Sklave in New Orleans hatte er die reichen, gut gekleideten Männer beneidet, die Madam Sonias Etablissement besuchten, und sich geschworen, sich eines Tagen noch besser zu kleiden als sie. Nun war er reich genug, um sich zu kleiden wie es ihm gefiel. Und ihm gefiel nur das Beste.

Müßig betrachtete er sein Spiegelbild in dem Spiegel, der über seinem Tisch hing, und sah den Mann darin stirnrunzelnd an. Niemand würde ihn je für einen Europäer halten, trotz der Farbe seiner Augen, seiner Haut und seiner Haare. Auch wenn seine Haut heller war als die der Gefangenen auf dem holländischen Schiff, konnte Martín gekauft und verkauft werden, sobald er amerikanischen Boden betrat. In Wahrheit würde ihn der Tod erwarten, wenn er nach Hause zurückkehrte, denn das war die Strafe für einen entlaufenen Sklaven.

Martín schob den Gedanken beiseite, nahm geistesabwesend ein Buch auf und öffnete es. Sofort wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Die schwarzen Zeichen tanzten auf den Seiten vor ihm, unverständlich und beleidigend. In Amerika war es ein kriminelles Vergehen, einem Sklaven das Lesen beizubringen und nach seiner Flucht war Martín viel zu alt gewesen.

Die einzigen drei Wörter, die er lesen und schreiben konnte, waren die, die seinen Namen bildeten: Martín Etienne Bouchard – ein Name, der nicht einmal seiner war, sondern einer, den er sich für sich ausgedacht hatte.

Den Namen Martín hatte er aus einer Geschichte, die eine alte Frau ihm einst erzählt hatte: die Geschichte von Martín Garatuza, dem legendären mexikanischen Gauner.

Etienne Bouchard hatte er einige Zeit später hinzugefügt. Er hatte den Namen von dem alten Mann übernommen, der ihm alles über Pferde beigebracht hatte, was er wusste. Warum nicht? Der alte Bouchard war da schon tot gewesen; er brauchte den Namen nicht länger.

Martín schloss das Buch mit einem schnappenden Geräusch und stellte es zurück ins Regal. Die meisten der Bücher waren bereits auf der Scythe gewesen, als er sie gekapert hatte. Sein Freund und Mentor One-Eyed Standish hatte ihm ein paar weitere geschenkt, denn er wusste nicht, dass sein Protegé nicht lesen konnte.

Martín runzelte die Stirn. Gedanken an seine beschämende Vergangenheit kamen ihm nur, wenn er zu müde war, um seine Erinnerungen zu kontrollieren. Oder zu rastlos. Und er war immer rastlos, wenn er kurz davor war, das Schiff eines anderen Mannes zu nehmen. Bald würde es vorbei sein.

Er stand auf und löste die goldenen Knöpfe seines marineblauen Wollmantels, zog ihn aus und legte ihn über die Sessellehne. Wenn er die Verhandlungen hinter sich gebracht hatte, würde er nach Freetown zurückkehren, die Gefangenen freilassen, die Sklavenhändler der Regierung Seiner Majestät übergeben und seine Belohnung abholen. Mit anderen Worten: Er tat dasselbe, was er immer tat und es gab keinen Grund, ruhelos zu sein.

Martín betrachtete die verzierte goldene Uhr auf seinem Schreibtisch; er hatte noch mindestens eine Stunde, bis der andere Kapitän eintreffen würde. Er konnte sich ausruhen und den Schlaf nachholen, den er verpasst hatte, als sie dem Sklavenschiff gefolgt sind.

Beruhigt von seinen angenehmen Zukunftsaussichten streckte Martín sich auf seinem luxuriösen Bett aus, schloss seine Augen und malte sich amüsante Arten aus, auf die er das Geld ausgeben konnte, das er mit der Übernahme dieses Schiffes verdienen würde.

 

Unterdessen auf der Blue Bird

Sarah hatte gerade mit einem schmutzigen Stofffetzen und einem steifen Stück Leder aus ihrer zerlumpten Medizintasche den gebrochenen Arm eines kleinen Jungen geschient, als die Falltür zum Sklavendeck aufging und eine Leiter in die Düsternis herabgelassen wurde.

„Frau!“ Die kehlige Stimme kam aus der schmalen Öffnung über ihr.

Sarah blinzelte hinauf, doch das Licht war zu hell, um ein Gesicht zu erkennen.

„Kapitän will, jetzt“, befahl der Mann auf Englisch, das so abgehackt klang, dass sie ihn kaum verstand.

„Hier ist eine Frau, die beerdigt werden muss“, rief Sarah auf Französisch zurück und warf einen Blick auf die junge Mutter, die sie nicht hatte retten können und die nun zwischen zwei Schiffsrippen im Kielraum auf dem Abfall lag.

„Komm jetzt!“

Sarah sprach ein stummes Gebet und kroch über den abgesplitterten Holzboden und die dicht gepackten Körper auf die Leiter zu. Was von ihrem nassen Rock noch übrig war, schleifte sie hinter sich her. Dass sie damit ständig irgendwo hängen blieb und sich wieder losreißen musste, ließ den kurzen Weg doppelt so lang erscheinen. Kurz bevor sie die Strickleiter erreichte, fasste jemand sie am Arm; es war Femi, ein Gefangener, den sie auf der höllischen dreiwöchigen Reise aus dem Inland zur Küstensiedlung Ouidah kennengelernt hatte.

Sarah hielt inne. Femi beugte sich zu ihr heran und flüsterte auf Yoruba: „Wenn du irgendwie die Türen öffnen kannst, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, werden wir bereit sein.“ Er blickte zu der Öffnung hinauf und blinzelte im Licht. „Vielleicht kannst du dich in der Nacht davonstehlen – danach.“ Er lächelte sie grimmig und freudlos an und zuckte mit seinen breiten Schultern. Sie wussten beide, was er meinte. Warum sonst sollten diese Monster eine Frau vom Sklavendeck zu sich bestellen?

Er drückte kurz ihren Arm. „Aber wenn nicht …“

Sie sahen sich in der Düsternis an. Weitere Worte waren nicht nötig.

Die anderen Frauen waren in der Zeit, die sie in dieser Hölle verbracht hatten, verschwunden. Keine war je zurückgekommen.

Sie nickte knapp und begann den beschwerlichen Aufstieg. Mit jedem Schritt nach oben brannten die Muskeln in ihren Schultern und ihre Handgelenke heißer. Sie dachte schon, sie würde es nicht bis nach oben schaffen, als sich raue Hände um ihre Arme schlossen. Die Männer verfluchten ihren Geruch und stöhnten unter dem Gewicht ihrer triefend nassen Kleidung, als sie sie in das gleißende Sonnenlicht zogen.

Ein vernarbtes, unrasiertes Gesicht schob sich dicht an ihres. „Du heilen Kapitän.“

Sarah wich vor seinem Alkoholatem und dem Gestank fauliger Zähne zurück, der ihr selbst nach dem höllischen Gestank auf dem Sklavendeck noch auffiel. Sie wäre gestürzt, wenn er sie nicht am Arm gerissen und sie ein paar Stufen in einen düsteren, engen Flur gezogen hätte.

Er führte sie zur letzten Tür und klopfte. „Kapitän!“

Eine viel sanftere Antwort kam aus dem Raum hinter der schönen Mahagonitür mit den Messingbeschlägen. Ihr Entführer öffnete sie, murmelte etwas auf Holländisch, stieß Sarah in den Raum und schlug die Tür hinter ihr zu.

Sarah war zugleich schockiert und erleichtert, als sie den Kapitän das erste Mal sah. Er war jung, vielleicht fünfundzwanzig. Er war leicht gebaut, fast zierlich, und sehr hell, womit er mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit den Engeln in den Religionsbüchern ihres Vaters hatte.

Doch was sie vor Erleichterung schwach werden ließ, war die Tatsache, dass er krank war – viel zu krank selbst für den kleinsten amourösen Funken in seinen wässrigen blauen Augen.

Er stand auf und deutete auf einen Sessel ihm gegenüber. „Bitte setzen Sie sich“, sagte er in beinahe akzentfreiem Englisch.

Sarah ging an ihm vorbei. Er bedeckte seinen Mund und seine Nasenflügel bebten, als er ihren Geruch wahrnahm. Sie ließ sich in den Sessel sinken und verschränkte ihre Arme.

„Danke, dass Sie gekommen sind.“

Sarah schnaubte.

Sein Lächeln geriet bei dem unhöflichen Geräusch ins Wanken. „Ich bin Mies Graaf; meiner Familie gehört die Blue Bird. Meine Männer haben mir gesagt, dass du eine Medizinfrau bist und …“ Er krümmte sich in einem gewaltigen Hustenanfall.

Grimmige Befriedigung durchströmte Sarah, als sie ihn leiden sah; es war nur gerecht, dass dieser Urheber menschlichen Elends seinen eigenen Anteil an Schmerzen abbekam.

Das freundliche, alte Gesicht ihres Vaters tauchte vor ihrem inneren Auge auf und ihr Lächeln gefror. Reverend Michael Fisher hätte gesagt, dass ein Mann, der verdorben genug war, um mit Menschen zu handeln, eher ihr Mitleid als ihre Verachtung verdiente.

Bedenke immer, dass wir nicht auf der Erde sind, um zu urteilen, Sarah.

Die Erinnerung an die Worte ihres Vaters trieb die rachsüchtigen Gedanken aus ihrem Kopf und ließ sie beschämt zurück. Sie verhielt sich wie eine Närrin. Statt sich von der Wut verzehren zu lassen, musste sie sie bändigen und benutzen, um einen Weg finden, die Türen zum Sklavendeck zu öffnen.

Sie betrachtete den kranken Mann. Er war alles, was sie hatte, und es hatte keinen Sinn, ihn gegen sich aufzubringen.

Der Holländer hörte auf zu husten und setzte sich in seinem Sessel auf. Seine Bewegungen waren langsam und bedacht wie die eines sehr alten Mannes. „Entschuldigung, Miss, äh …“

„Fisher. Sarah Fisher.“

Er sah sie stirnrunzelnd an. „Ich habe erst vor Kurzem von Ihrer Anwesenheit auf dem Sklavendeck erfahren. Es tut mir leid, dass Sie einer solchen Erniedrigung ausgesetzt waren. Sie werden eine Kabine bekommen und als mein Gast behandelt werden.“

„Was ist mit den anderen?“

Er legte seine Stirn in Falten. „Wie bitte?“

„Die anderen Menschen auf dem Sklavendeck – was ist mit ihnen?“

Er wich vor der Gewalt in ihrem Tonfall zurück. Sein Blick huschte durch den Raum, als würde er nach Antworten suchen, und dunkelrote Flecken breiteten sich auf seinem ohnehin schon geröteten Gesicht aus. „Ah … das. Ich habe diese Leute nicht gekauft und hatte auch nicht die Absicht …“ Seine Stimme brach und als er rasselnd Luft holte, um weiterzusprechen, wurde er von einem neuerlichen Hustenanfall übermannt.

Sarah machte ein verärgertes Geräusch und stand auf. „Gebt mir Euer Handgelenk.“

Immer noch hustend betrachtete er ihre schmutzige Hand mit Besorgnis.

„Möchtet Ihr meine Hilfe oder nicht?“

Er streckte ihr eine blasse, schmale, saubere Hand hin.

Sarah nahm sie. Sein Puls war unregelmäßig und schnell, seine Haut heiß und feucht. Sie ließ seinen Arm sinken. „Ich werde in Eure Ohren und Euren Mund sehen müssen.“

Er beugte sich vor und sie nahm sein sauberes, engelsgleiches Gesicht in ihre schmutzigen Hände, um es ins Licht zu drehen, das durch das Bullauge strömte. „Öffnet Euren Mund und drückte Eure Zunge mit Eurem Finger hinunter.“ Er tat wie ihm geheißen. Sarah untersuchte ihn und setzte sich schließlich wieder, während er sie ängstlich ansah.

„Ihr habt Erstickungsfieber“, log sie und fügte ein stummes Gebet hinzu.

„Erstickungsfieber“, wiederholte er wie in Trance. „Und die Heilung?“ Die Hoffnung in seinen Augen war schmerzvoll anzusehen, egal, wie sehr er sein Leid verdiente.

„Nur der Christdorn kann es heilen.“ Sarah schickte weitere Gebete zur Vergebung der Lügen, die aus ihrem Mund strömten, gen Himmel. Sicher würden die Umstände ihre Unehrlichkeit entschuldigen?

„Christdorn?“, wiederholte er.

„Ja, eine seltene Pflanze.“ So selten, dass sie nicht einmal existiert.

„Wo können wir diese Pflanze bekommen?“

Das war die Frage, auf die Sarah gehofft hatte.

„Sie wächst nur in küstennahen Sumpfgebieten.“ Es war zwingend erforderlich, dass sie ihn dazu brachte, das Schiff wieder ans Ufer zu bringen. Es war die einzige Chance für sie und die Menschen auf dem Sklavendeck – falls es ihr gelang, die Türen zu öffnen.

Sarah schob den Gedanken fort. Eins nach dem anderen.

Sie sah sich im Raum um, während der Kapitän über ihre Worte nachdachte. Ein paar Duellpistolen hingen über dem Tisch und waren so reich verziert, dass Sarah kaum glauben konnte, dass sie echt waren. Sie malte sich aus, dass sie eine davon in die Finger bekam, als ein ohrenbetäubendes Krachen den Raum erschütterte.

Sie sprang auf. „Was war das?“

Der holländische Kapitän sah sie missmutig an. „Das, Miss Fisher, war der Klang einer Kanone.“

Kapitel zwei

„Eine Kanone?“, wiederholte Sarah. Die Worte hingen wie Rauch zwischen ihnen.

Graaf sagte etwas auf Holländisch, das wie ein Fluch klang, und ging zur Tür. „Ich werde sofort zurück sein.“ Er schlug die Tür zu und ein Schlüssel kratzte im Schloss; er war also nicht genug abgelenkt, um zu vergessen die Kabine hinter sich zu verschließen.

Sarah wartete, bis seine Schritte verklungen waren, bevor sie sich auf die Pistolen stürzte. Sie stolperte über ihren nassen Rock und fiel dabei in den schweren Teak-Sessel des Kapitäns.

„Mist“, murmelte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um eine der verzierten Pistolen von der Wand zu nehmen. Sie löste sie aus ihrer Halterung und hätte beinahe geschluchzt – die Waffe war echt.

„Danke, danke, danke“, flüsterte sie hektisch vor sich hin.

Sie schob eine Pistole in jede ihrer Rocktaschen und begann dann, Schubladen und Schränke zu durchsuchen. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie Kleidungsstücke, Bücher und andere Gegenstände über dem gesamten Kabinenboden verteilte. Gerade als sie dachte, die Suche sei erfolglos, erspähte sie eine polierte Holzkiste, die mit roter Seide ausgekleidet war und Schießpulver, Bleikugeln und pistolenförmige Vertiefungen enthielt.

„Oh, danke!“, sagte sie mit einem Schluchzen, sank zu Boden und begann, die Pistolen zu laden. Ihr Vater hatte eine alte Pistole besessen und ihr gezeigt, wie man sie lud und reinigte, als das Dorf in einem Jahr von drei Löwen bedroht worden war. Diese Waffen waren zwar sehr viel schöner, aber die wichtigen Dinge waren dieselben.

Als sie die zweite Pistole geladen hatte, schob sie sie in ihren Gürtel und steckte das restliche Schießpulver und die Kugeln in ihre Rocktasche. Sie hatte gerade hinter der Tür Stellung bezogen und die Waffe entsichert, als ein Schlüssel im Schloss klickte.

Das überraschte Quieken, das Graafs Mund entkam, als der Lauf seiner eigenen Pistole seine Schläfe berührte, war mehr als nur ein bisschen befriedigend.

„Diese Pistole ist geladen und ich werde nicht zögern sie zu benutzen.“ Sarah war stolz auf ihre ruhige Hand und ihre feste Stimme. „Nun setzt Euch.“

Der Kapitän gehorchte und ließ geschlagen seine Schultern sinken. „Was auch immer du willst, du wirst es wahrscheinlich nicht bekommen. Die Kanone wurde von dem Freibeuter abgefeuert, der uns folgt.“

„Freibeuter?“ Ihre Finger schlossen sich fester um die Pistole. Der Holländer zog eine Grimasse und blickte mit großen Augen auf ihre Hand. „Ja, ein Freibeuter. Ein Mann, der im Namen des britischen Königs Schiffe kapert. Das Freibeuterschiff ist uns nicht nur an Waffen überlegen. Ich bin sicher, dass der Erste Maat eine Meuterei unter der Mannschaft anzettelt, nachdem ich gesagt habe, wir würden verhandeln.“ Der Holländer schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Die Männer sind wütend. Keiner von ihnen wollte der Mannschaft eines Sklavenschiffs angehören. Es war de Heeckeren, der Erste Maat, der uns das eingebrockt hat. Aber nun, da wir mittendrin sind …“ Graaf öffnete seine Augen und musste das fehlende Mitgefühl in ihrem Blick erkannt haben. Er hob seine Hände zu einer Geste, die zugleich besänftigend und flehend war. „Bitte, Miss Fisher, Sie müssen mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass der Handel mit Sklaven nicht meine Idee war.“

„Das. Interessiert. Mich. Nicht.“ Sie presste die Worte durch zusammengebissene Zähne hinaus. Sarah konnte sich gerade noch davon abhalten ihn zu erschießen, als er sich in Selbstmitleid erging, während unter seinen Füßen Menschen starben. „Es interessiert mich nicht, wessen Idee es war“, wiederholte sie. „Könnt Ihr Euch auch nur im Entferntesten vorstellen, was Ihr uns angetan habt? Die Menschen leiden und sterben Euretwegen“, sagte sie mit lauter werdender Stimme. „Das ist Eure Chance, diesen Albtraum zu beenden. Das wird Euch nicht rehabilitieren – nicht einmal annähernd – doch es ist ein Anfang. Also, Ihr werdet Folgendes tun: Ihr werdet das Schiff zur Küste zurückbringen und alle auf dem Sklavendeck freilassen, oder ich werde Euch erschießen.“

Er schnaubte. „Sie würden mir einen Gefallen tun. Ich denke, Sie verstehen nicht, was hier vorgeht, Miss Fisher. Während ich und viele andere aus meiner Mannschaft diese Fracht nicht fahren wollten …“

„Fracht? Das sind Menschen, Kapitän Graaf – ich möchte, dass Ihr es sagt.“

Er biss die Zähne zusammen und schwankte ein wenig. Schweißperlen liefen seine Schläfen hinab. „Während ich und viele aus meiner Mannschaft keine Menschen kaufen und verkaufen wollten, glaube ich, dass Sie die Situation missverstehen. Ich bin nur ein Spielstein. Ein Mitglied der Graaf-Familie. Ich bin nicht einmal Kapitän, obwohl ich den Titel benutze. Der eigentliche Kommandant ist de Heeckeren.“ Graaf zog eine Grimasse. „Er ist ein erfahrener Seemann und wird von vielen gefürchtet – nicht nur von mir.“

Sarah runzelte verwirrt die Stirn. „Er ist der Kapitän?“

„Ja, er trägt nur nicht den Titel. Er ist auch der Grund dafür, dass wir Ouidah mit einer Ladung von … Menschen verlassen haben. Den Männern war nicht klar, dass sie auf einem Sklavenschiff angeheuert hatten, doch sie wissen, dass sie kein Geld bekommen, wenn sie jetzt gehen. Einige davon werden das nicht wollen und meinem Ersten Maat folgen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht sagen wie viele.“ Er erlitt einen weiteren Hustenanfall.

Sarah starrte ihn an und versuchte zu erfassen, worauf er hinauswollte. Meinte er, dass er zur Küste zurückfahren würde, wenn auch nur für den mythischen Christdorn? Wie sehr bedauerte er seine Entscheidung, seinem Ersten Maat erlaubt zu haben, das Schiff mit menschlicher Fracht zu füllen? Genug, um sein Leben zu riskieren, damit sie wieder freikamen?

Graaf bekam wieder Luft und fuhr mit heiserer Stimme fort. „Die Männer wissen, dass der Freibeuter den Kapitän und die Mannschaft vor das Vize-Admiralitätsgericht bringen wird, sobald wir Freetown erreichen. Einige von ihnen sehen dieser Aussicht nicht leichtfertig entgegen. Ohne ordentliche Führung werden sie de Heeckeren folgen und das Freibeuterschiff bekämpfen, statt zu verhandeln. Und dann werden wir sehr wahrscheinlich alle sterben.“

„Ich fürchte, ich verstehe Eure Position in alldem nicht, Käpt’n. Was wollt Ihr mir sagen?“

„Ich schlage vor, dass wir uns zusammentun.“

Sie lachte überrascht auf. „Und was habt Ihr, das ich wollen könnte? Eine meuternde Mannschaft? Die drohende Ankunft einer Schiffsladung von plündernden Freibeutern? Bitte, ich bin neugierig zu hören, was Ihr anzubieten habt.“

Er seufzte. Die Fältchen beiderseits seines Mundes vertieften sich. „Wenn meine gesamte Mannschaft auf der Seite meines Ersten Maats wäre, würde ich im Ozean dümpeln und wir beide würden diese Unterhaltung nicht führen, Miss Fisher. Was ich Ihnen sagen möchte, ist, dass wir vielleicht die Unterstützung bekommen, die wir brauchen, wenn wir rechtzeitig handeln.“ Er schwieg und zog ein Taschentuch hervor, mit dem er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Er sah sie aus wässrigen, rotgeränderten Augen an.

Sarah suchte sein Gesicht nach Anzeichen des Betrugs ab. Doch alles, was sie sah, waren Erschöpfung und Krankheit.

„Wir haben nicht viel Zeit“, drängte er.

Sarah holte tief Luft, bevor sie sprach. „Was ist mit den Freibeutern?“

„Wenn wir die Kontrolle über das Schiff haben, verhandeln wir. Wenn wir es nicht tun, wird der Freibeuter uns angreifen. In jedem Fall werde ich gefangen genommen und das Schiff wird konfisziert, weil wir ein kürzlich erlassenes, englisch-holländisches Abkommen verletzt haben. Ich würde es vorziehen, ohne Schaden an meinem Schiff oder Verlusten an Leben zu kapitulieren.“

Sarah nagte so fest an ihrer Lippe, dass der metallische Geschmack von Blut ihren Mund erfüllte. Konnte sie ihm trauen? Sie schnaubte beim Gedanken daran. Welche anderen Möglichkeiten hatte sie? Sie starrte ins Leere und sah nicht ihn, sondern die Gesichter der Menschen auf dem Sklavendeck. Der einzige Weg, auf dem Sklaven das Deck verließen, war, wenn die Mannschaft ihre Leichen über Bord warfen. Dies hier könnte für sie alle die einzige Chance sein.

„Wenn ich einwillige Euch zu helfen – wie werden wir vorgehen, Käpt’n?“ Er ließ erleichtert die Schultern sinken, als hätte sie bereits zugestimmt. Nun, er konnte denken, was er wollte. Sarah hatte keine Bedenken ihn zu benutzen, zumindest nicht, bis sie den Rückhalt der einzigen Menschen auf dem Schiff hatte, denen sie traute: der auf dem Sklavendeck.

„Ich werde meinen Ersten Maat herbestellen und ihm anbieten zu kapitulieren. Wenn es uns gelingt ihn gefangen zu nehmen, wird die Meuterei schnell sterben. Sie warten hinter der Tür, wie Sie es bei mir getan haben. Ich werde die andere Pistole nehmen und sie ihm vor die Nase halten, wenn er den Raum betritt.“

„Was, wenn er misstrauischer ist als Ihr und jemand anderen schickt? Was, wenn er selbst eine Waffe hat?“

Er errötete angesichts ihres allzu deutlichen Spotts darüber, wie leicht er ihr in die Falle gegangen war. „De Heeckeren ist sehr gutgläubig und erwartet von mir keinen Widerstand. Er wird kommen. Außerdem besitze ich die einzigen Pistolen auf diesem Schiff und er würde in so einen engen Raum keine Muskete mitbringen.“

„Und wenn wir den Ersten Maat haben, werdet Ihr das Sklavendeck aufsperren und alle befreien?“

Er nickte. „Ich gehe davon aus, dass sie uns unterstützen werden, was mehr ist, als ich von vielen aus meiner Mannschaft behaupten kann.“

„Und dann verhandeln wir?“

Wieder nickte er.

Sarah zögerte.

„Das ist kein Trick. Die Freibeuter sind unsere beste Hoffnung, aber wir müssen uns beeilen.“

Was sollte sie sonst tun? Sie konnte nicht allein das Kommando über das Schiff übernehmen. Sie konnte …

„Miss Fisher, wir müssen …“

Sie hob die Waffe. „Lasst mich nachdenken.“

Er klappte seinen Mund zu und ließ sich in seinen Sessel sinken. Was hatte sie? Ein paar Pistolen und sich selbst. Um an den Seemännern vorbei zum Sklavendeck und zu Femi zu kommen, brauchte Sie Hilfe. Sie unterdrückte ein Stöhnen, als die Gedanken in ihrem erschöpften Gehirn rasten.

Sie musste jemandem vertrauen. Es gab keinen anderen Weg. Durch gesenkte Wimpern betrachtete sie den Kapitän. Seine Haut glänzte schweißfeucht und seine Hände zitterten. Vielleicht würde er nicht einmal mehr lange genug bei Bewusstsein bleiben, um sich sein Schiff zurückzuholen.

Über ihnen knallte etwas hart aufs Deck. Sarah schreckte auf.

„Was tun sie?“, wollte sie wissen.

„Vielleicht bereiten sie die Kanonen vor, um gegen die Freibeuter zu kämpfen.“ Kanonen! Die Menschen auf dem Sklavendeck wären die ersten, die sterben würden, wenn sich die Schiffe mit Kanonen beschossen. Sarah sprach ein stummes Gebet und zog die andere Pistole aus ihrem Gürtel.

„Sie ist geladen.“

Er nahm die Waffe und kontrollierte sie.

„Mehr Munition?“, fragte er und ignorierte die Waffe, die sie noch immer auf seine Brust gerichtet hielt. Sarah verhedderte sich auf der Suche nach dem kleinen Beutel mit Pulver und Kugeln in ihrer nassen, schweren Kleidung. Nach einer endlosen Suche fand sie ihn und reichte ihn dem Kapitän. Er sah sie einen Moment lang an, öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder.

„Was?“

„Es ist nur … Nun, wenn Sie mir vergeben wollen, ich wollte sagen, dass wir uns schnell bewegen müssen. Werden Sie das in Ihrer nassen Kleidung hinbekommen?“ Der Kapitän errötete unter ihrem misstrauischen Blick und zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie möchten, befindet sich trockene Kleidung im Schrank hinter Ihnen. Es ist Männerkleidung, aber wir haben ungefähr dieselbe Größe und darin werden Sie sich schneller bewegen können.“

Er hatte recht. Ihre Kleidung würde sie behindern. Außerdem stank und fror Sarah. In seinem Gesicht konnte sie keine List erkennen. Also ging sie rückwärts zum Kleiderschrank, ohne die Waffe zu senken. Sie riss die Tür auf und spähte hinein.

„Um Himmels willen.“ Er legte seine Pistole auf den Tisch. „Hier, behalten Sie sie. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie Sie sich umziehen und mich gleichzeitig erschießen wollen.“ Er drehte seinen Sessel mit der Lehne zu ihr und setzte sich hin.

Sarah riss in ihrer Hast mehrere Knöpfe von ihrer Kleidung. Sie zog eines seiner feinen Leinenhemden über ihr abgetragenes Unterhemd, legte ihren zerrissenen Rock ab und ersetzte ihn durch eine Hose. Während all dessen ließ sie Graaf nicht aus den Augen. Nachdem sie eine Weste und einen blauen Wollmantel gewählt hatte, nahm sie die Pistole vom Tisch und reichte sie ihm über seine Schulter.
Der Kapitän sah sie an und schnaubte belustigt, was einen weiteren Hustenanfall auslöste.

„Das geschieht Euch recht, weil Ihr gelacht habt.“ Sarah spannte ihre Pistole und nahm ihren Platz hinter der Tür ein. „Seid Ihr bereit, Euch Euer Schiff zurückzuholen?“